Warum schreibt man im Deutschen "ei", obwohl es eigentlich wie "ai" ausgesprochen wird?

Die kurze Antwort ist, dass sich die gesprochene Sprache gewandelt hat, während die geschriebene Sprache gleich geblieben ist. Im Mittelhochdeutschen wurde die Buchstabenkombination "ei" noch so ausgesprochen, wie man es erwarten würde (also ungefähr so wie das "ay" im Englischen "to say"), aber im Frühneuhochdeutsch hat sich die Aussprache dann geändert. Die Zeit des Frühneuhochdeutschen begann ungefähr im Jahr 1350, in manchen Gegenden ein bisschen später, und veränderte die Aussprache der deutschen Sprache in vielen Hinsichten. Eine wichtige Ausnahme dabei ist allerdings das Schweizerdeutsch (das richtige Schweizerdeutsch, welches ein Deutscher ohne Übung nicht verstehen kann), welches diesen Wechsel nicht mitgemacht hat. Im Schweizerdeutschen spricht man das geschriebene "ei" also noch so wie im Mittelhochdeutschen aus.

Die lange Antwort ist ein bisschen komplizierter. Um die Erklärung ein bisschen zu erleichtern, werde ich Anführungszeichen benutzen, wenn ich mich auf die geschriebene Sprache beziehe (z.B. "ei") und eckige Klammern benutzen, wenn ich mich auf Aussprache beziehe (z.B. [ei]). Ich sage dann zum Beispiel, dass "Heim" im Neuhochdeutschen [haim] ausgesprochen wird.

Was ist also die Komplikation, die ich erwähnt habe? Das Neuhochdeutsche "ei" ist eigentlich die Zusammenführung von zwei verschiedenen Vokal-Lauten: dem mittelhochdeutschen "ei" (gesprochen [ei]) und dem mittelhochdeutschen langen i. So stammt das neuhochdeutsche "Bein" vom mittelhochdeutschen "bein" (gesprochen [bein]), während das neuhochdeutsche "mein" von "miin" (mit einem langen i) abstammt. Den Wandel vom langen i zum [ai], kann man auch schön an dem Wort "frei" sehen. Im Holländischen wird das Wort "vrij" geschrieben, was noch stark an ein langes i erinnert, aber wird eher wie eine Mischung aus [frei] und [frai] ausgesprochen. Die Schriftsprache spiegelt also noch das lange i wider, während die Aussprache sich dem [ai] angenähert hat.

Meine Vermutung ist, dass das mittelhochdeutsche lange i zunächst mit dem mittelhochdeutschen [ei] verschmolzen ist, und daraufhin die Schreibweise angepasst wurde: "miin" zu "mein" und so weiter. Im zweiten Schritt ist dann der vereinte Laut zu [ai] geworden; ohne dass die Schreibweise angepasst wurde. Ich habe zu dieser Vermutung allerdings keine direkte Quelle gefunden.

An dieser Stelle kann man sich allerdings fragen: wenn das lange i zu [ai] geworden ist, wieso gibt es dann noch immer ein langes i im Neuhochdeutschen? (Zum Beispiel in "Liebe".) Die Antwort ist, dass ein anderer Laut des Mittelhochdeutschen auf den Platz des langen i gerutscht ist: der Diphtong "ie". Das "ie", welches wir im Neuhochdeutschen [ii] aussprechen, wurde im Mittelhochdeutschen tatsächlich [ie] gesprochen (also ungefähr so wie in "siehe" aber ohne das h). Das ist also die historische Erklärung dafür, dass wir im Hochdeutschen oft "ie" für das lange i schreiben.

Die letzte Frage ist, wieso hat sich die Aussprache in dieser Weise geändert? Das ist keine leichte Frage. Zunächst muss allerdings klargestellt werden, dass solche Lautverschiebungen sehr häufig passieren. Das Englische hat (unabhängig?) genau die gleiche Lautverschiebung vollzogen, in der das lange i zu [ai] wurde. Das Wort für "ich", "I", wird [ai] ausgesprochen, aber mit einem i geschrieben. (Als Nebenbemerkung, das heutige lange i in Wörtern wie "free" wurde im Englischen zwischenzeitlich tatsächlich wie [free] (mit langem e) ausgesprochen, aber dieser Laut hat sich verschoben und ist zum langen i geworden.) Der große Unterschied zum Deutschen ist, dass die englische Schriftsprache so gut wie gar nicht an die neue Aussprache angepasst wurde.

Für mich klingt folgendes plausibel als Grund für den Wandel: zunächst fingen die Bewohner im deutschen Sprachraum an, [ei] und [ii] zusammenzulegen. Mittelhochdeutsch hatte vielleicht einfach zu viele Laute, so dass es kein Problem war, einen Laut weniger zu haben. Das zusammengelegte [ei] und das existierende [ie] klangen dann vielleicht einfach zu ähnlich, so dass sich diese beiden Laute dann voneinander wegbewegt haben. Das [ei] in Richtung [ai] und das [ie] in Richtung [ii].

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