Seneca - Das Leben ist kurz!
July 20, 2021•10,205 words
Aus dem Lateinischen übersetzt von Marion Giebel, entnommen aus "Seneca — Das Leben ist kurz!"
# 1
Die meisten Menschen, mein lieber Paulinus, beklagen sich über die Missgunst der Natur: Nur für eine kurze Spanne Zeit werden wir geboren, und diese uns zugestandene Frist läuft so rasch, ja rasend schnell ab, dass das Leben die Menschen, mit nur wenigen Ausnahmen, verlässt, während sie sich gerade im Leben einrichten. Und über diesen allgemeinen Missstand haben nicht nur, wie man meinen könnte, die große Masse und das unvernünftige Volk lamentiert, auch bei berühmten Männern hat diese Empfindung Klagen hervorgerufen. Daher rührt der bekannte Stoßseufzer des berühmtesten aller Ärzte: "Kurz ist das Leben, lang die Kunst." Daher auch der Hader des Aristoteles mit der Natur, ein Streit, der doch gar nicht zu einem Philosophen passt: "So viel an Lebenszeit hat die Natur den Tieren gegönnt, dass sie fünf oder zehn Lebensalter verbringen dürfen, während dem Menschen, obwohl er zu vielen und großen Aufgaben geschaffen wurde, eine so viel engere Grenze gezogen ist."
Aber nein, wir haben keine zu geringe Zeitspanne, sondern wir vergeuden viel davon. Lang genug ist das Leben und reichlich bemessen auch für die allergrößten Unternehmungen — wenn es nur insgesamt gut angelegt würde. Doch sobald es in Verschwendung und Oberflächlichkeit zerrinnt, sobald es für keinen guten Zweck verwendet wird, dann spüren wir erst unter dem Druck der letzten Not: Das Leben, dessen Vergehen wir gar nicht merkten, ist vergangen. So ist es nun einmal: Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es kurz gemacht; keinen Mangel an Lebenszeit haben wir, sondern gehen verschwenderisch damit um. Es ist wie mit reichen und königlichen Schätzen: Sobald sie an einen schlechten Herrn kommen, sind sie im Nu vergeudet, während ein auch noch so bescheidenes Vermögen, wenn es einem tüchtigen Verwalter anvertraut ist, durch Nutzung wächst. So bietet unsere Lebenszeit dem, der sie gut einteilt, genügend Raum.
# 2
Wozu beklagen wir uns über die Natur? Sie hat sich doch gütig gezeigt: Das Leben ist lang, wenn du es zu nutzen verstehst. Doch den einen hält unersättliche Habgier gefangen, den anderen seine geschäftige Betriebsamkeit mit völlig überflüssiger Plackerei. Der wieder ertrinkt im Wein, der andere dämmert im Nichtstun dahin, wieder einen anderen zermürbt sein Ehrgeiz, mit dem er sich stets von der Meinung der anderen abhängig macht. Den nächsten führt die rastlose Begierde, Geschäfte zu machen, durch alle Länder, über alle Meere, in der Hoffnung auf Profit. Manche treibt die Begeisterung für den Kriegsdienst um: Ständig sind sie darauf aus, entweder andere in Gefahr zu bringen, oder sie bangen wegen Gefahren für sich selbst. Wieder andere reiben sich auf in freiwilliger Knechtschaft im Dienst für undankbare Herren. Viele hat das Streben nach fremdem Glück oder die Sorge um das eigene völlig vereinnahmt. Die meisten aber, die kein festes Ziel verfolgen, hat ihre Haltlosigkeit, die sie schwankend, unstet und mit sich selbst zerfallen macht, von einem Unternehmen zum andern getrieben. Manche finden an nichts Gefallen, worauf sie ihren Kurs richten könnten, vielmehr werden sie matt und schläfrig von ihrem Schicksal eingeholt. Daher kann ich nicht an der Wahrheit dessen zweifeln, was ein großer Dichter im Ton eines Orakels verkündet hat:
Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir leben.
Die gesamte übrige Spanne ist nicht Leben, sondern Zeit. Von allen Seiten bedrängen und umlagern die Laster die Menschen und lassen es nicht zu, dass sie sich wieder aufrichten oder die Augen zum Anblick der Wahrheit erheben, vielmehr drücken sie die Menschen in die Tiefe und halten sie an die Leidenschaft gefesselt. Niemals steht es ihnen frei, zu sich selbst zu kommen. Wird ihnen einmal zufällig Ruhe zuteil, werden sie doch wie auf hoher See, wo auch nach dem Sturm noch Wellenbewegung herrscht, hin und her geworfen, und niemals haben sie vor ihren eigenen Begierden Ruhe. Glaubst du, ich spreche von denen, deren misslicher Zustand jedem klar ist? Schau dir aber diejenigen an, zu deren Glück und Erfolg man sich herbeidrängt: Sie ersticken geradezu an ihren Gütern. Für wie viele ist der Reichtum eine Bürde! Wie vielen saugt ihre Begabung als Redner geradezu das Mark aus, da sie sich tagtäglich bemüht fühlen, ihr Talent unter Beweis zu stellen! Wie viele sind blass und bleich von ihren pausenlosen Vergnügungstouren! Wie vielen lässt der Schwarm von Klienten, der sie umdrängt, kein bisschen Freiheit mehr! Ja, nimm sie dir nur alle vor — vom Niedrigsten bis zum Höchsten: Der eine braucht einen Rechtsanwalt, ein anderer ist zur Stelle, der ist angeklagt, der verteidigt ihn, ein dritter ist der Richter. Keiner aber ist für sich selbst da, einer verschleißt sich für den andern. Frag nach denen, deren Namen man auswendig kennt: Du wirst sehen, sie unterscheiden sich nur dadurch, dass der ein Anhänger von jenem ist, der wieder von einem anderen. Sich selbst gehört keiner. Völlig unsinnig ist daher die Entrüstung mancher Leute: Sie beklagen sich über die verächtliche Behandlung durch Höhergestellte, weil diese bei ihrer Visite keine Zeit für sie hatten. Da bringt es einer fertig, sich wegen der Überheblichkeit eines anderen zu beklagen, während er doch für sich selbst niemals Zeit hat! Der andere hat doch für dich, wer du auch seiest, immerhin einen Blick gehabt, wenn auch von oben herab, er hat dir Gehör geschenkt, hat dich an seine Seite geholt — und dabei hast du es nie für wert gehalten, dich selber anzusehen oder anzuhören. Daher hast du keinen Grund, mit jemandem wegen solcher Gefälligkeiten abzurechnen: Als du sie nämlich erwiesen hast, ging es dir schließlich nicht darum, mit einem anderen zusammen zu sein, du konntest nur nicht mit dir selbst zusammen sein.
# 3
Wenn auch alle großen Geister, die jemals geglänzt haben, in diesem einen Punkt übereinstimmen: Niemals werden sie sich genug wundern können über diese Verblendung des menschlichen Geistes: Ihre Landgüter lassen die Leute von niemand in Besitz nehmen, und wenn der geringste Streit über den Grenzverlauf aufkommt, rennen sie nach Steinen und Waffen. In ihr eigenes Leben aber lassen sie andere eindringen, ja, sie führen sogar die künftigen Mitbesitzer selbst ein. Niemand findet sich, der sein Geld austeilen will, sein Leben aber — an wie viele verteilt es ein jeder! Knauserig sind sie, wenn es gilt, das ererbte Vermögen zusammenzuhalten, steht aber die Zeit auf dem Spiel, dann sind sie die größten Verschwender bei dem, worin doch einzig und allein Geiz eine Tugend wäre. Nehmen wir uns also einen aus dem Kreis der Älteren vor: "Du bist, wie wir sehen, an die äußerste Grenze des Menschenlebens gekommen: Hundert Jahre oder gar noch mehr hast du auf dem Buckel. Auf, zieh jetzt die Bilanz deines Lebens! Rechne aus, wie viel von dieser Zeit dich dein Gläubiger gekostet hat, wie viel die Geliebte, dein Vorgesetzter, dein Klient dir entzogen hat, wie viel die Streitereien mit der Gattin, die Bestrafung der Sklaven und wie viel dein geschäftiges Herumrennen in der Stadt. Nimm noch die Krankheiten hinzu, die wir uns selbst eingebrockt haben, und was ungenutzt brach liegen blieb — du wirst sehen, die Rechnung ergibt: Du hattest weniger Jahre als dein Lebensalter ergibt. Ruf dir ins Gedächtnis zurück, wann du bei einem Entschluss fest geblieben bist, wie wenige Tage so verlaufen sind, wie du es dir vorgenommen hattest, wann du überhaupt zu dir selbst gekommen bist, wann du einen ungekünstelten Gesichtsausdruck hattest, wann du innerlich ohne Aufregung warst, was du in einer so langen Lebenszeit geleistet hast, wie viele andere Menschen dein Leben ausgeräubert haben, ohne dass du merktest, was du eingebüßt hast, wie teuer dich grundloser Kummer zu stehen kam, törichte Freude, gierige Leidenschaft, schmeichlerische Unterhaltung, wie wenig dir von deiner Zeit geblieben ist. Du wirst einsehen müssen, dass du unreif stirbst."
Was ist nun aber schuld daran? Ihr lebt so, als lebtet ihr ewig; niemals kommt euch eure Hinfälligkeit in den Sinn, nie achtet ihr darauf, wie viel Zeit schon vergangen ist. Als ob ihr sie in Fülle und im Übermaß hättet, verschwendet ihr sie. Dabei ist doch vielleicht gerade der Tag, den ihr für irgendeinen Menschen oder irgendeine Sache dahin schenkt, der letzte Tag. Alles fürchtet ihr wie Sterbliche, alles wollt ihr aber haben wie Unsterbliche. Von sehr vielen wirst du hören können: "Von meinem fünfzigsten Lebensjahr an will ich mich ins Privatleben zurückziehen, das sechzigste wird mich von allen Verpflichtungen entbinden." Doch wer bürgt dir schließlich dafür, dass du so lange lebst? Wer wird es gestatten, dass alles so verläuft, wie du es dir einteilst? Schämst du dich nicht, nur die kümmerlichen Reste deines Lebens für dich zu behalten und für sinnvolle geistige Beschäftigung nur die Zeit zu bestimmen, die für kein anderes Geschäft mehr taugt? Es ist doch reichlich spät, erst dann mit dem Leben zu beginnen, wenn man es schon bald beenden muss! Und wie unvernünftig ist es, seine Sterblichkeit so weit zu vergessen, dass man gute Vorsätze auf das fünfzigste und sechzigste Lebensjahr verschiebt und erst in einem Alter zu leben beginnen will, das nur wenige erreichen!
# 4
Von mächtigen und hochgestellten Männern gibt es, wie du bemerken kannst, Äußerungen, in denen sie ihren Wunsch nach Muße aussprechen, deren Loblied singen und sie all ihren Gütern vorziehen. Sie wünschen sich bisweilen, wenn es ohne Gefahr möglich wäre, vom Gipfel ihrer Macht her abzusteigen. Denn wenn auch von außen keinerlei Beunruhigung oder Erschütterung eintritt, das Glück birgt den Keim seines Untergangs in sich.
Der verewigte Augustus, dem die Götter mehr als jedem anderen gewährten, hörte nicht auf, Ruhe für sich zu erbitten und um Befreiung von Staatsgeschäften zu ersuchen. In allen seinen Gesprächen kam er immer wieder auf diesen Punkt zurück: seine Hoffnung auf Muße. Mit diesem zwar trügerischen, aber doch süßen Trost, dass er sich irgendwann einmal selbst gehören würde, machte er sich seine Arbeitslast erträglich. In einem Brief an den Senat hatte er versprochen, seine Zurückgezogenheit werde durchaus nicht ohne Würde und nicht im Gegensatz zu seinem bisherigen hohen Ansehen stehen. Ich fand darin folgende Worte: "Freilich ist es schöner, solches zu halten als es nur zu versprechen. Doch hat mich das Verlangen nach der so sehnlich erwünschten Zeit so weit gebracht — da ja die Freude an der Verwirklichung bis jetzt noch auf sich warten lässt —, mir wenigstens durch die Schilderung dieses angenehmen Zustands einigen Genuss vorwegzunehmen." So großartig erschien ihm die Muße, dass er sie, da er sie nicht verwirklichen konnte, in Gedanken vorwegnahm. Er, der sah, wie alles von seiner Person abhängig war, der über das Geschick von einzelnen Menschen und ganzen Völkern zu entscheiden hatte, für ihn war es die höchste Freude, an den Tag zu denken, an dem er seine Größe ablegen könne. Er wusste nur zugut, wie viel Schweiß ihm jenes Glück abverlangte, das über die ganze Welt hin strahlte, wie viel geheime Sorgen sich dahinter verbargen. Zuerst gegen seine Mitbürger, dann gegen seine Amtsgenossen, zuletzt gegen seine Verwandten sah er sich zur Entscheidung mit den Waffen gezwungen und hat Blut vergossen zu Wasser und zu Lande. Durch Makedonien, Sizilien, Ägypten, Syrien, Kleinasien und nahezu an alle Gestade wurde er im Krieg getrieben und hat die Heere, müde des Mordes an römischen Mitbürgern, in auswärtige Kriege geführt. Während er die Alpenländer befriedete und die Feinde bezwang, die mitten im Frieden in das Reich eingedrungen waren, während er über Rhein, Euphrat und Donau hinaus die Grenzen ausdehnte, da wurden in Rom selbst die Dolche eines Murena, Caepio, Lepidus, Egnatius und anderer Verschwörer gegen ihn geschärft. Noch war er ihren Mordanschlägen nicht entronnen, da waren es die eigene Tochter und so viele adlige junge Männer, durch Ehebruch wie durch einen Treueid an sie gebunden, die den schon vom Alter Gebeugten in Schrecken versetzten: Noch mehr und abermals war eine Frau in Verbindung mit Antonius zu fürchten. Diese Eiterbeulen hatte er mitsamt den Gliedern abgeschnitten, doch neue wuchsen nach. Wie bei einem Körper, der mit allzu vielem Blut gefüllt ist, brach immer wieder eine andere Stelle auf. Daher wünschte er sich Ruhe. In der Hoffnung und im Gedanken an sie fand er Erholung in seinen Mühen. Das wünschte sich ein Mann, der selbst die Macht hatte, die Wünsche anderer zu erfüllen.
# 5
Marcus Cicero musste sich herumschlagen mit Männern wie Catilina und Clodius, dazu solchen wie Pompeius und Crassus, teils offenen Feinden, teils zweifelhaften Freunden. Dabei geriet er zugleich mit dem Staat ins Wanken, hielt ihn im Sturz noch auf und wurde zuletzt doch mitgerissen, weder ruhig im Glück noch gefasst im Unglück — wie oft verwünschte er gerade sein Konsulat, das er nicht ohne Grund, aber ohne Ende gelobt hatte! Wie weinerlich drückt er sich aus in einem Brief an Atticus, damals, als Pompeius, der Vater, bereits besiegt war, sein Sohn aber in Spanien die gebrochene Heeresmacht wieder aufrichten wollte! Was ich hier tue", sagt er, "willst du wissen? Nun, ich sitze in meinem Tusculanum, nur zur Hälfte ein freier Mann." Er fügt noch anderes hinzu, worin er über sein Leben in der Vergangenheit jammert, über die Gegenwart klagt und an der Zukunft verzweifelt. Nur zur Hälfte frei nennt sich Cicero. Doch wird sich ein Philosoph wahrhaftig nie zu einer solch niedrigen Bezeichnung herabwürdigen, niemals wird er ein nur halb freier Mensch sein, da er doch immer über eine unumschränkte und unerschütterliche innere Freiheit verfügt. Unabhängig und sein eigener Herr wird er immer sein und hoch über allen anderen stehen. Denn was kann über dem stehen, der über dem Schicksal steht?
# 6
Livius Drusus, ein Mann voll kämpferischer Tatkraft und Energie, hatte neue Gesetze eingebracht und damit die unheilvollen Unruhen der Gracchen wieder aufleben lassen. Umdrängt von einem gewaltigen Zustrom von Menschen aus ganz Italien, überblickte er nun den Ausgang des Geschehens nicht mehr: Er hätte es weder herbeiführen dürfen, noch konnte er es, einmal begonnen, einfach treiben lassen. Da soll er sein von Anfang an ruhe und rastloses Leben verflucht und gesagt haben, ihm allein sei nicht einmal in der Kindheit freie Zeit vergönnt gewesen. Schon als Minderjähriger und in der Knabentoga hatte er es nämlich kühn unternommen, bei den Richtern für Angeklagte einzutreten und sich dabei so wirksam auf dem Forum einzusetzen, dass einige Verurteilungen, so viel steht fest, durch seinen Einfluss aufgehoben wurden. Wohin musste sich nicht ein so frühreifer Ehrgeiz versteigen? Das lag auf der Hand, dass so viel Vorwitz und Kühnheit für ihn selbst und für den Staat zu schlimmem Unheil führen würden. Zu spät kamen daher seine Klagen, er habe keine freie Zeit gehabt, er, der von Kindheit an ein unruhiger Geist und auf dem Forum ein Querulant gewesen war. Man ist sich nicht einig, ob er durch eigene Hand geendet hat. Plötzlich brach er nämlich mit einer Wunde im Unterleib zusammen, und mancher hat Zweifel, ob sein Tod ein freiwilliger war, keiner aber, dass er zur rechten Zeit kam.
Es wäre überflüssig, noch mehr Leute zu erwähnen, die anderen als wahre Glückskinder erschienen, während sie sich selbst gegenüber die Wahrheit eingestanden: Sie verwünschten nämlich alles, was sie in all den Jahren getan hatten. Mit diesen Klagen haben sie freilich weder andere verändert noch sich selbst. Denn kaum haben sie sich durch diesen Wortstrom erleichtert, fallen sie wieder in ihre gewohnten Schwächen zurück. Wahrhaftig, so wie ihr euer Leben führt und mag es über tausend Jahre währen—, wird es auf eine winzige Spanne zusammenschnurren. Eine solch verkehrte Lebensführung wird ganze Jahrhunderte verschlingen. Obwohl diese Zeitspanne nach dem Gesetz der Natur flüchtig dahineilt. vermag die Vernunft sie auszudehnen. Euch aber muss sie freilich wie im Flug vergehen. Denn ihr ergreift sie nicht, haltet sie nicht fest, bringt dieses Flüchtigste aller Dinge nicht zum Verweilen, nein, ihr lasst sie davonlaufen, wie etwas, das entbehrlich ist und sich nach Belieben zurückholen lässt.
# 7
Das geht, meine ich, besonders die an, die für nichts als für Wein und Weib Zeit haben, die mieseste Beschäftigung überhaupt. Mögen sich andere vom Wahnbild eines eitlen Ruhmes bannen lassen ihr Irrtum hat doch wenigstens einen glänzenden Schein. Nimm meinetwegen die Geizigen, die Jähzornigen, oder die ungerechtem Hass frönen oder Kriege entfachen sie haben bei ihren Fehlern doch noch irgendwie etwas Mannhaftes an sich. Wer sich aber der Fresserei und Hurerei ergeben hat, ist schändlich tief gesunken. Prüfe nur einmal die gesamte Zeit solcher Menschen! Schau, wie lange sie herumrechnen, wie lange sie ihre hinterhältigen Pläne spinnen, sich ängstigen, andere hofieren, selbst hofiert werden, wie viel Zeit sie die Bürgschaftsleistungen kosten, eigene und fremde, wie viel ihre Gastmähler, die selbst schon zu zwanghaften Verpflichtungen geworden sind. Du wirst sehen, wie ihre — ob nun Glück— oder Unglücksgüter — sie überhaupt nicht zu Atem kommen lassen.
Überhaupt ist man sich ja allgemein einig, ein mit allem Möglichen beschäftigter Mensch könne nichts sachgemäß ausüben, nicht die Redekunst, nicht die freien Künste und Wissenschaften, denn ein zerstreuter Geist kann nichts gründlich erfassen, er spuckt alles wieder aus, da es ihm gewissermaßen nur eingetrichtert worden ist. Nichts kann so ein Vielbeschäftigter weniger gut als leben, keine Sache ist ja so schwierig zu erlernen. Lehrer für die anderen Künste gibt es überall und genügend viele. Bei manchen von diesen Fertigkeiten kann man sehen, dass kleine Jungen sie schon so gut beherrschen, um anderen als Lehrmeister dienen zu können. Zu leben aber muss man das ganze Leben über lernen und — worüber du dich vielleicht noch mehr wundern wirst — das ganze Leben über muss man sterben lernen. So viele bedeutende Männer haben sich zunächst von allem losgesagt, was sie behindern konnte, wie Reichtum, Verpflichtungen, Vergnügungen, und haben sich dann bis ans Ende ihres Lebens mit dem einen beschäftigt: zu wissen, wie man lebt. Dennoch schieden die meisten von ihnen aus dem Leben mit dem Eingeständnis, sie wüssten es noch nicht — geschweige denn, dass die anderen es wissen. Glaube mir, nur ein groBer und über menschliche Irrtümer erhabener Mensch bringt es fertig, sich nichts von seiner Zeit nehmen zu lassen, und daher ist für ihn das Leben am längsten: Solange es währte, stand es ihm ganz und gar zur Verfügung. Nichts davon ist brach gelegen und blieb ungenutzt, nichts hatte ein anderer mit Beschlag belegt. Er hat nämlich nichts gefunden, was es ihm wert gewesen wäre, dass er dafür seine Zeit eingetauscht hätte, über die er genau Buch führte. Deshalb reichte ihm seine Zeit auch aus, während sie denen fehlen musste, die sich von anderen Leuten so viel wegnehmen ließen.
Doch glaub nur nicht, diese würden ihren Verlust nicht eines Tages doch einsehen. Die meisten von denen, die unter den Segnungen ihres Glückes ächzen, die kann man im Kreis ihrer Klienten oder während ihrer Gerichtstätigkeit, oder was sonst zu ihrer ehrenvollen Misere gehört, ausrufen hören: "Mir ist es einfach nicht vergönnt zu leben!" Warum sollte es nicht vergönnt sein? Alle, die dich als Anwalt beanspruchen, entziehen dich dir selbst. Der Angeklagte da — wie viele Tage hat er dir weggenommen? Wie viel die Dienste für den Amtsbewerber dort? Wie viel Zeit kostete dich die alte Frau, die ganz erschöpft ist — so viele Erben hat sie schon zu Grabe getragen! Und der andere, der sich todkrank stellte, um die Habsucht der Erbschleicher zu erregen? Dazu noch der überaus einflussreiche Freund, der euch nicht zu seinen Freunden, sondern zu seinen Dienstleuten zählt! Prüfe einmal nach, sage ich, berechne die Tage deines Lebens: Du wirst feststellen, dass dir nur wenige geblieben sind — und dazu hast du sie noch nutzlos hingebracht. Da hat einer das ersehnte Konsulat erreicht, schon wünscht er es wieder niederzulegen und sagt immer wieder: "Wann ist mein Amtsjahr endlich herum? Ein anderer veranstaltet Zirkusspiele er nahm es so wichtig, dass ihm diese Aufgabe durch das Los zufiel. "Wann werde ich das wieder los sein?, sagt er nun. Dann gibt es einen, um den sich auf dem ganzen Forum alle reißen, um ihn als Rechtsbeistand zu bekommen, riesige Menschenmengen drängen sich, sie reichen weiter, als man ihn überhaupt hören kann. "Wann endlich", sagt er, "wird der Fall ver tagt werden? Jeder überstürzt sein Leben und leidet dabei, weil er das Zukünftige herbeisehnt, am Gegenwärtigen aber Überdruss hat. Wer jedoch seine gesamte Zeit nur zu seinem eigenen Gebrauch verwendet, wer jeden Tag so gestaltet, als sei es der letzte in seinem Leben, der braucht das Morgen weder herbeizuwünschen noch zu fürchten. Denn was könnte ihm schon diese oder jene Stunde an neuem Vergnügen bringen? Alles ist ihm bekannt, alles schon bis zur Neige ausgekostet. Über den Rest mag das Schicksal verfügen, wie es will. Sein Leben hat er bereits in Sicherheit gebracht. Man kann ihm noch etwas dazugeben, wegnehmen kann man ihm nichts, und geben nur so, wie man einem bereits Gesättigten noch etwas zu essen reicht: Er nimmt es, ohne noch Appetit darauf zu haben. Wenn einer graue Haare hat oder Runzeln, brauchst du deswegen nicht zu glauben, er habe lange gelebt: Er hat nicht lange gelebt, er ist einfach nur lange da gewesen. Oder meinst du, einer habe eine weite Seereise gemacht, wenn ihn schon beim Auslaufen aus dem Hafen ein wütender Sturm packte, ihn hierhin und dorthin verschlug und ihn im Wirbel der gegeneinander wütenden Winde immer auf der gleichen Bahn im Kreis herumtrieb? Der hat keine weite Seereise unternommen, er ist nur viel hin und her geworfen worden.
# 8
Ich wundere mich immer wieder, wenn ich sehe, wie manche die Zeit anderer beanspruchen und wie die sich allzu bereitwillig darauf einlassen. Beide Seiten sehen auf das, weswegen die Zeit beansprucht wird, auf die Zeit selber achtet keiner. Da wird sozusagen nichts gefordert und nichts gegeben. Mit der kostbarsten Sache der Welt geht man um wie mit einem Spielzeug. Das entgeht ihnen aber, weil diese Sache etwas Unkörperliches ist, weil man sie mit dem Auge nicht sehen kann, deshalb schätzt man sie so gering ein, ja, sie hat praktisch überhaupt keinen Wert. Jahresgehälter und Geldspenden nehmen die Menschen nur zu gerne an, und dafür geben sie ihre Arbeitskraft, Mühe und Hingabe drein, aber niemand schätzt die Zeit. Viel zu gleichgültig geht man mit ihr um, als hätte man sie umsonst. Aber schau dir nur die gleichen Leute an, wenn sie krank sind, wenn die Todesgefahr näher rückt: Da fallen sie den Ärzten zu Füßen, oder wenn sie vor dem Todesurteil beben: Alles, was sie haben. wollen sie dann gerne hingeben, nur um am Leben zu bleiben! Was für Widersprüche in ihren Gefühlen! Könnte man so wie die Zahl der vergangenen Jahre auch die der künftigen bei jedem bestimmen, wie würden dann diejenigen, die nur noch wenige übrig sähen, vor Angst zittern, wie sparsam würden sie mit ihnen umgehen! Nun ist es aber leicht, eine auch noch so geringe Menge einzuteilen, von der man weiß, wie viel es ist. Das aber muss man noch viel sorgfältiger hüten, von dem man nicht weiß, wann es zu Ende geht.
Dennoch darf man nicht glauben, die Leute hätten gar keine Ahnung davon, wie kostbar die Sache ist: Sie gebrauchen ja die Redensart, sie würden denen, die ihnen die liebsten sind, einen Teil ihrer Jahre schenken. Und so schenken sie, ohne sich dabei etwas zu denken. Sie schenken aber in einer Weise, dass die anderen keinen Zugewinn haben, sie selbst jedoch einen Verlust. Wovon sie da etwas verlieren, wissen sie nicht. Folglich scheint ihnen die Einbuße erträglich, da ihnen der Verlust verborgen bleibt. Niemand wird dir deine Jahre wiedererstatten, niemand wird dich dir selbst wiedergeben. Das Leben wird dahingehen, wie es begonnen hat, es wird in seinem Lauf nicht umkehren noch innehalten. Es wird kein Aufhebens machen, nicht mahnend auf sein rasches Dahineilen verweisen, lautlos wird es dahinfließen. Kein königlicher Befehl, keine Volksgunst wird es verlängern: So wie es am ersten Tag seinen Lauf begonnen hat, so wird es weiterlaufen, nirgends ein Abweichen, nirgends ein Aufenthalt. Was wird sein? Du bist beschäftigt, das Leben aber eilt dahin, unterdessen steht der Tod vor der Tür, für den du, ob du willst oder nicht, Zeit haben musst.
# 9
Kann es etwas Dümmeres geben als die Einstellung mancher Leute — gerade von solchen, die glauben, sie hätten die Klugheit gepachtet? Sie sind nur noch mehr beschäftigt: Um besser leben zu können, richten sie ihr Leben ein, aber eben auf Kosten dieses Lebens. Auf weite Sicht hin planen sie, dabei ist der größte Verlust für die Lebenszeit das Auf— und Hinausschieben. Das eben entzieht uns gerade den nächsten Tag, das entreißt uns das Jetzt, während es uns Versprechungen macht für später. Das größte Hindernis im Leben ist die Erwartung, die uns an das Morgen bindet und uns das Heute verlieren lässt. Was in der Hand des Schicksals liegt, darüber willst du verfügen; was du selbst in der Hand hast, das lässt du los. Wonach hältst du Ausschau, worauf richtest du deine Hoffnungen? Alles, was noch kommt, liegt im Ungewissen: Jetzt sollst du leben! Da erhebt unser größter Seher und Dichter seine Stimme und wie aus göttlichem Munde verkündet er den heilsamen Spruch
Immer der beste Tag aus dem Leben der armen Sterblichen fliehet zuerst!
"Was zauderst du", sagt er, "was zögerst du? Wenn du die Zeit nicht packst, entflieht sie." Und selbst wenn du sie gepackt hast, läuft sie dennoch davon. Also muss man gegen die Schnelligkeit der Zeit ankämpfen, indem man sie rasch nutzt. Es ist wie bei einem reißenden Sturzbach, wo man schnell schöpfen muss, da er nicht dauernd fließt. Auch das sagt unser Dichter sehr schön, wenn er, um das ewige Zögern zu tadeln, nicht vom besten Alter, sondern vom besten Tag spricht. Wie sorglos und gleichgültig gegenüber dem raschen Fluss der Zeit breitest du Monate und Jahre in langer Reihe vor dir aus, ganz so, wie es deinen gierigen Wünschen gefällt. Über den Tag spricht der Dichter mit dir, über den, der dir gerade eben entflieht. Kein Zweifel also, dass immer zuerst die besten Tage den armen Sterblichen, das heißt den Vielbeschäftigten, entfliehen. Immer noch kindisch ist ihr Gemüt, wenn sie das Greisenalter überfällt, in das sie unvorbereitet und ungerüstet geraten. Denn für nichts haben sie vorgesorgt, ganz plötzlich sind sie ahnungslos hineingestolpert. Dass es täglich näher rückte, haben sie gar nicht mitbekommen. Wie eine Unterhaltung oder Lektüre oder etwa ein angespanntes Nachdenken die Reisenden täuscht und sie schon angekommen sind, bevor sie merken, dass sie sich ihrem Ziel nähern, so ist es auch bei unserer Lebensreise. Sie läuft ununterbrochen und rasend schnell ab, im Wachen wie im Schlafen im gleichen Zeitmaß, und die allzu Beschäftigten merken es erst am Ende.
# 10
Wollte ich mein Thema im Einzelnen in Thesen und Argumente einteilen, hätte ich vieles zur Hand, um zu beweisen, dass das Leben der Vielbeschäftigten recht kurz ist. Fabianus, keiner von den heutigen Kathederphilosophen, sondern einer von den echten alten, sagte des Öfteren: "Gegen die Affekte, die bösen Neigungen und Schwächen, muss man energisch ankämpfen, nicht so zimperlich, und man kann ihre Front nicht mit leichten Stichverletzungen, sondern nur im Sturmangriff ins Wanken bringen." Er hält nichts von Wortgeplänkel: "Gewaltsam niederwerfen muss man nämlich diesen Feind, ihm nicht nur die Haut ritzen." Um solchen Leuten ihren Irrtum vorzuhalten, muss man sie freilich belehren und darf sie nicht nur bedauern.
In drei Zeiträume gliedert sich das Leben: was war, was ist, was sein wird. Davon ist der Zeitraum, in dem wir handeln können, kurz, was wir in der Zukunft tun werden, ist ungewiss, nur was wir getan haben, steht fest. Das allein ist es nämlich, worin das Schicksal sein Recht auf uns verloren hat und was in keine menschliche Verfügungsgewalt mehr zurückgebracht werden kan. Das aber geht den Geschäftigen verloren. Sie haben nämlich keine Zeit, um auf Vergangenes zurückzublicken, und wenn sie Zeit hätten, dann wären das für sie unangenehme Erinnerungen an Dinge, die man bereuen müsste. Nur ungern blicken sie deshalb in Gedanken zurück auf Zeiten die sie vertan haben. Sie hüten sich, noch einmal an dem zu rühren, was bei erneuter Betrachtung als verfehlt erscheint, auch wenn man das damals, durch einen augenblicklichen Reiz verführt, gar nicht wahrgenommen hat. Nur wer alle seine Handlungen der eigenen ständigen Prüfung unterzogen hat, die niemals in die Irre geht, der wendet sich gern wieder der Vergangenheit zu. Wer aber vieles voller Ehrgeiz erstrebte, voll Hochmut geringschätzte, vieles unbeherrscht erobert, sich heimtückisch erschlichen, gierig geraubt, mit vollen Händen vergeudet hat — der muss sich zwangsläufig vor seinen Erinnerungen scheuen. Dabei ist dies der geheiligte und unantastbare Bereich unserer Lebenszeit, der allen menschlichen Schicksalsschlägen enthoben und der Herrschaft des Geschicks entzogen ist." Nicht Not, nicht Angst, kein Ansturm von Krankheiten kann hier beunruhigend wirken, hier kann nichts mehr gestört noch geraubt werden. Es ist ein Besitz für immer und frei von Sorgen. Nur einzelne Tage des Lebens sind jeweils gegenwärtig, und auch diese nur in Augenblicken. Die Tage aus der Vergangenheit aber werden alle, wenn man will, wieder gegenwärtig, und sie lassen sich nach Belieben betrachten und festhalten, wozu die Geschäftigen freilich keine Zeit haben. Nur ein Geist, der ohne Sorgen und in Gemütsruhe ist, kann alle Phasen seiner Lebenszeit durchlaufen, die Vielbeschäftigten aber sind, wie in ein Joch gespannt, nicht in der Lage, sich umzuwenden und zurückzublicken. So versinkt ihr Leben wie in ein tiefes Loch, und wie es nichts nutzt, wenn man etwas in ein Fass ohne Boden hineinschüttet, so kommt es gar nicht darauf an, wie viel Zeit einem gegeben wird, wenn nichts da ist, wo diese Zeit Halt findet: Wie durch angeschlagene und löchrige Gefäße rinnt die Zeit durch die Seelen hindurch.
Sehr kurz ist der gegenwärtige Zeitraum, so kurz, dass er auf manche wie ein Nichts wirkt. Die Zeit ist ja beständig im Fluss, strömt dahin wie eine Sturzflut; sie hört auf zu sein, ehe sie noch richtig da ist, und duldet kein Verweilen, wie das Weltall und die Gestirne, die in ihrer ewig rastlosen Bewegung niemals an demselben Punkt verharren. So ist es allein der gegenwärtige Moment, der den Vielbeschäftigten gehört, der aber ist so kurz, dass er sich nicht fassen lässt, und so entwindet er sich gerade denen, die sich in vielerlei Beschäftigungen verzetteln.
# 11
Willst du schließlich noch wissen, worin sich die Kürze ihres Lebens ausdrückt? Da schau dir an, wie begierig sie sind, möglichst lange zu leben. Klapprige alte Männer betteln unter Gelübden um die Zugabe von ein paar Jährchen. Sie machen sich selbst vor, noch jünger zu sein. Mit ihrer Schwindelei schmeicheln sie sich und betrügen sich nur zu gerne selbst, als ob sie damit auch das Schicksal täuschen könnten. Wenn sie dann aber durch eine körperliche Schwäche an ihre Sterblichkeit gemahnt werden, wie zittern sie dann vor Angst beim Sterben, nicht als gingen sie aus dem Leben, sondern als würden sie mitten herausgerissen! "Was für Narren waren wir doch", so schreien sie, "dass wir nicht gelebt haben, und wenn wir nur aus dieser Krankheit noch einmal davonkommen, dann werden wir in aller Muße leben!" Nun kommt es ihnen zu Bewusstsein, wie vergeblich sie sich etwas geschaffen haben, was sie nicht genießen konnten, wie ihre ganze Mühe sinnlos vertan ist. Doch wer sein Leben fern von aller Geschäftigkeit führt, wie sollte es für den nicht lang sein? Nichts davon wird an andere abgegeben, nichts hierhin und dorthin verstreut, nichts dem Zufall überlassen, nichts verkommt durch Nachlässigkeit, nichts geht durch Verschenken verloren, nichts ist überflüssig, das Ganze steht sozusagen auf der Habenseite. Mag es auch noch so kurz sein, es reicht mehr als genug, und wenn der letzte Tag kommt, so wird der Weise ohne zu zögern festen Schrittes in den Tod gehen.
# 12
Du willst nun wohl genau wissen, welche Leute ich denn zu den Vielbeschäftigten rechne. Glaube ja nicht, ich meine damit nur diejenigen, auf * die man bei Torschluss erst die Hunde loslassen muss, damit sie die Börsenhallen verlassen, solche, die du entweder in ihrer eigenen Klientenschar vor Zuvorkommenheit fast erdrückt oder in der Anhängerschaft anderer verächtlich herumgeschubst siehst. Oder nur diejenigen, denen ihre Verhältnisse über den Kopf gewachsen sind, so dass sie ihre Häuser verlassen und an fremde Türen klopfen müssen, und solche, die ihre unsauberen Geschäfte mit bisweilen ruinösem Ausgang dorthin treibt, wo die Lanze des Prätors zur Zwangsversteigerung aufgesteckt ist. Bei manchen Menschen ist selbst die Ruhe voller Geschäftigkeit: Auf ihrem Landgut oder auf ihrem Ruhebett, mitten in der Einsamkeit, obwohl sie sich von allem zurückgezogen haben, fallen sie sich selbst zur Last. Man kann nicht sagen, sie lebten in Muße, es ist eher ein müßiges Beschäftigtsein. Meinst du denn, der lebt in Ruhe, der korinthische Bronzegefäße, die durch die Sammlerwut einiger weniger kostbar und teuer geworden sind, mit peinlicher Sorgfalt restauriert und seinen Tag hauptsächlich mit rostigen Blechstückchen zubringt? Und der auf dem Sportplatz herumsitzt — es ist eine Schande: Wir leiden ja nicht nur an römischen Lastern — als eifriger Anhänger der nackten jugendlichen Ringkämpfer? Der die Truppe seiner geölten Ringer nach Alter und Hautfarbe in Paare einteilt? Der die neuesten Stars unter den Athleten finanziert? Und weiter: Meinst du, die widmen ihr Leben der Muße, die stundenlang beim Friseur sitzen, während das ausgezupft wird, was ihnen in der vergangenen Nacht etwa nachgewachsen ist? Da wird über jedes einzelne Härchen ein Rat abgehalten, das in Unordnung geratene Haar wird wieder glatt gelegt oder das fehlende von hierher oder dorther in die Stirn gekämmt. Was für Zornausbrüche, wenn der Friseur ein wenig lässiger zu Werke ging, eben als frisiere er einen Mann! Was geraten sie in Weißglut, wenn etwas von ihrer Tolle abgeschnitten worden ist, wenn etwas nicht richtig liegt, wenn nicht alles wieder in Locken fällt! Das sind Leute, bei denen eher ihr Staat in Unordnung geraten darf als ihre Frisur! Es geht ihnen eher um ihren Hauptschmuck als um ihren Kopf. Lieber eine gute Frisur als ein gutes Ansehen! Was meinst du: Führen solche Leute ein Leben in Muße, die nur mit Kamm und Spiegel beschäftigt sind? Und was ist mit denen, die sich abmühen mit dem Komponieren, dem Anhören und Einüben von Liedern? Ihre Stimme, die die Natur in ihrem normalen Ton so schön und klar erklingen lässt, die verbiegen sie in albernem Ziergesang. Einige von ihnen trommeln ständig mit den Fingern: Sie schlagen den Takt zu einem Lied, das sie in Gedanken gerade komponieren. Und man hört sie leise vor sich hinsummen, auch wenn sie bei ernsten, ja oft sogar bei traurigen Anlässen dabei sind. Diese Leute haben doch keine Muße, sondern müßige Beschäftigung. Und erst ihre Gastmähler — die möchte ich wahrhaftig nicht zur Freizeit rechnen, wenn ich sehe, wie penibel sie ihr Silber ordnen, wie sorgfältig sie die Gewänder ihrer Lustknaben hochschürzen, wie gespannt sie sind, wie der Eber vom Koch kommt, in welchem Tempo ihre glatt geschabten Jüngelchen auf das Signal hin zum Servieren losstürzen, mit welcher Raffinesse das Geflügel in ja nicht zu große Portionen zerlegt wird, wie beflissen die armen kleinen Bübchen das Erbrochene der Betrunkenen aufwischen. Aus derlei Dingen gewinnt man den Ruf der feinen Lebensart und des guten Geschmacks, und ihre Schwächen folgen ihnen bis in den letzten Winkel ihrer Existenz, so dass sie nicht einmal essen und trinken können, ohne sich in Szene zu setzen. Auch von denen kann ich nicht behaupten, sie lebten in echter Muße, die sich im Tragsessel und in einer Sänfte hierhin und dorthin schleppen lassen und auf Pünktlichkeit bei ihren Gesundheitsausflügen achten, als ob sie von ihrem Stundenplan nicht abweichen dürften. Sie müssen sich jeweils von einem anderen daran erinnern lassen, wann sie zum Baden, zum Schwimmen oder zum Essen gehen müssen. So verzärtelt und erschlafft sind sie, dass sie von sich aus nicht mehr wissen, ob sie Hunger haben oder nicht. Von einem dieser Genießer wenn man es überhaupt einen Genuss nennen kann, das normale Leben und die menschlichen Gewohnheiten verlernt zu haben — habe ich Folgendes gehört: Er wurde auf Händen aus dem Bad gehoben und in einen Sessel gesetzt, und da fragte er: "Sitze ich schon?" Dieser Mensch, der nicht einmal wusste, ob er sitzt — glaubst du, er weiß, ob er überhaupt lebt, ob er sieht, ob er Muße hat? Ich könnte schwerlich sagen, ob ich ihn mehr bedaure, wenn er das wirklich nicht gewusst hat oder wenn er nur so getan hat, als wüsste er es nicht. Bei vielen Dingen ist es ja wirklich Vergesslichkeit, bei vielem ist es aber auch nur gespielt; diese Leute gefallen sich geradezu in manchen Schwächen, die ihnen beweisen, wie glücklich sie sind. Das ist doch, meinen sie, ein völlig unbedeutender und verächtlicher Mensch, der von sich aus wissen muss, was er tut. Also jetzt glaub’ nur noch, die Komödianten würden arg übertreiben, wenn sie die Genusssucht anprangern! Sie übergehen wahrhaftig mehr, als sie erdichten, und die Menge unglaublicher Laster ist in unserem Zeitalter so angewachsen — allein darin ist es erfindungsreich —, dass wir es den Komödianten eher ankreiden können, sie würden vieles auslassen. Es gibt da also einen, der ein solcher "Lebemann" ist, dass er sich bei einem anderen vergewissern muss, ob er sitzt oder nicht! Das ist doch kein Mensch, der in Muße lebt, den muss man anders nennen: Krank ist er, nein, tot. In Muße lebt doch, wer auch ein Bewusstsein von seiner Muße hat. Dieser nur noch Halblebendige aber, der, um den Zustand seines Körpers wahrzunehmen, einen Informanten braucht — wie kann der jemals Herr sein über einen Augenblick seiner Zeit?
# 13
Es würde zu weit gehen, jeden einzelnen anzuführen, der sein Leben vertan hat mit Brettund Ballspiel oder mit dem Ausdörren seines Körpers in der Sonnenhitze? Die leben nicht in Muße, die sich ihre Vergnügungen viel Mühe kosten lassen. Kein Zweifel auch, dass diejenigen auf mühsame Weise nichts tun, die sich dem Studium unnützer Wissenschaften widmen. Von denen gibt es auch bei den Römern schon eine ganze Menge. Das war geradezu eine Krankheit bei den Griechen: zu untersuchen, wie viel Ruderer Odysseus gehabt habe, ob die Ilias früher sei als die Odyssee, außerdem, ob beide vom gleichen Verfasser stammten. Und es gibt noch anderes von dieser Sorte; wenn du es bei dir behältst, verhilft es dir nicht zu innerer Erkenntnis, gibst du es aber weiter, wirkst du auf die Leute nicht als großer Gelehrter, du fällst ihnen eher auf die Nerven. Ja, auch die Römer hat die eitle Sucht befallen, überflüssiges Zeug zu lernen. Dieser Tage hörte ich einen Vortrag darüber, was jeder von den römischen Feldherrn jeweils als Erster getan habe. Als Erster hat Duilius in einer Seeschlacht gesiegt, Curius Dentatus hat als Erster in einem Triumphzug Elefanten mitgeführt. Diese Dinge haben zwar mit echtem Ruhm nichts zu tun, es geht aber immerhin noch um Exempel von großen Taten unserer Mitbürger. Nützen wird ein solches Wissen freilich nichts, doch fesselt es uns wenigstens durch den äußeren Glanz an sich belangloser Ereignisse. Denen, die es unbedingt wissen wollen, gestehen wir auch noch die Frage zu, wer die Römer als Erster dazu überredet hat, Schiffe zu besteigen. Es war ein Claudius, deswegen Caudex genannt, weil bei unseren Vorfahren ein Gefüge von mehreren Brettern caudex hieß. Danach werden die staatlichen Gesetzestafeln codices genannt, und die Schiffe, die den Tiber aufwärts Waren befördern, heißen nach alter Gewohnheit immer noch codicariae. Es mag auch noch von Interesse sein, dass Valerius Corvinus als Erster Messana besiegt hat und als Erster aus der Familie der Valerier, indem er den Namen einer eroberten Stadt auf sich übertrug, Messana genannt wurde. Und später hieß er Messala, weil sich in der volkstümlichen Aussprache nach und nach die Laute veränderten. Soll sich aber einer noch damit beschäftigen: Lucius Sulla hat als Erster bei seinen Zirkusspielen die Löwen freilaufend präsentiert, während sie sonst angekettet gezeigt wurden, und zwar deshalb, weil ihm vom König Bocchus von Mauretanien Schützen gesandt worden waren, die sie dann mit Wurfspießen erlegten? Mag sogar das noch hingehen aber dass Pompeius zuerst einen Kampf von achtzehn Elefanten im Zirkus veranstaltete, wobei zum Tod verurteilte Menschen wie in einem richtigen Gefecht gegen sie antreten mussten ist das für irgendetwas gut, wenn man es weiß? Der erste Mann im Staat und unter den Großen der Vergangenheit der Überlieferung nach ausgesprochen gutherzig der hielt es für eine denkwürdige Art von Schauspiel, Menschen auf eine ganz neue Weise ums Leben zu bringen! Sie kämpfen auf Leben und Tod? Zu wenig. Sie werden zerfleischt? Zu wenig. Von der ungeheuren Masse der Tiere sollen sie zertrampelt werden. Es wäre besser, wenn dergleichen in Vergessenheit geriete, damit nicht später ein Gewalthaber daraus lernt und diese ganz und gar unmenschliche Tat noch neidvoll übertreffen will. Ach, wie sehr verdunkelt doch ein großes Glück unsern Verstand! Der da, Pompeius, sah sich damals als Herrn über die Natur, als er ganze Scharen von armen Menschen wilden Tieren vorwarf, die unter einem anderen Himmel geboren waren, als er einen Kampf zwischen so ungleichen Geschöpfen führen ließ, als er vor den Augen des römischen Volkes so viel Blut vergoss und das Volk bald zwingen sollte, selbst noch mehr zu vergießen. Aber derselbe Mann hat sich später von Alexandrias Treulosigkeit täuschen lassen und lieferte sich so der niedrigsten Kreatur aus, um ihn zu töten. Da erst erkannte er die eitle Prahlerei mit seinem Beinamen Magnus — "der Große".
Doch ich will wieder darauf zurückkommen, wovon ich abgeschweift bin, und am gleichen Thema die überflüssige Gründlichkeit mancher Leute darlegen. Der vorher erwähnte Gelehrte hat auch noch Folgendes berichtet: Metellus habe nach seinem Sieg über die Karthager in Sizilien als Einziger von allen Römern vor seinem Triumphwagen hundertzwanzig erbeutete Elefanten herführen lassen. Sulla habe als Letzter der Römer das Stadtgebiet erweitert, was bei den Vorfahren nie üblich war bei einem Landgewinn in der Provinz, sondern nur bei einem in Italien. Das zu wissen nützt das mehr, als dass der Aventinhügel außerhalb der Stadtgrenze liegt? Dafür nannte der Vortragsredner zwei Gründe: entweder weil das Volk dorthin ausgezogen sei, oder weil bei den Auspizien des Remus die Vögel diesem Ort nicht zugestimmt hätten. Und so weiter — zahlloses anderes Zeug, entweder völlig erlogen oder nicht weit davon. Denn auch zugegeben, die Leute erzählen das alles in gutem Glauben und verbürgen sich für die Wahrheit — wessen Irrtümer werden denn dadurch gemindert? Wessen böse Neigungen unterdrückt? Wen wird das tapferer, wen gerechter, wen anständiger machen? Unser Pabianus bekannte zuweilen, er sei im Zweifel, ob es nicht besser sei, erst gar keine Studien zu treiben als sich auf solche einzulassen.
# 14
Nur die allein leben in Muße, die ihre Zeit der Weisheit widmen: Sie allein leben. Sie hüten nämlich nicht nur ihre eigene Lebenszeit gut, sie fügen ihr auch noch jede Zeitepoche hinzu. Alle Jahre, die vor ihnen gelebt wurden, haben sie für sich gewonnen. Wenn wir nicht ganz und gar undankbar sind, dann sind doch all die berühmten Schöpfer des ehrwürdigsten Gedankenguts für uns geboren, haben uns den Weg zum rechten Leben gebahnt. Zum Edelsten und Schönsten, das durch die Mühe anderer aus der Finsternis ans Licht gebracht wurde, werden wir hingeführt. Kein Zeitalter ist uns verschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir hochgemut die Schranken menschlicher Schwäche überschreiten wollen, dann tut sich ein großer Zeitraum auf, den wir durchwandern können. Wir dürfen disputieren mit Sokrates, zweifeln mit Karneades, Ruhe finden mit Epikur, die menschliche Natur überwinden mit den Stoikern, mit den Kynikern sie hinter uns lassen. Da die Natur es uns gestattet, als Zeitgenosse in jede Epoche einzutreten, warum sollten wir uns da nicht von unserer kurzlebigen Augenblicksexistenz weg und mit ganzer Seele dem zuwenden, was unermesslich, was ewig ist, was uns mit Besseren in Verbindung bringt? Und da gibt es welche, die von einem Pflichtbesuch zum andern rennen, die sich und andere um ihre Ruhe bringen. Selbst wenn sie bei ihrem verrückten Treiben nichts ausgelassen, ihren tagtäglichen Rundgang zu allen Türschwellen gemacht haben, an keiner offenen Türe vorbeigegangen sind, wenn sie in allen möglichen Häusern bei ihrer Aufwartung die Hand aufgehalten haben — wie wenige Leute werden sie da antreffen, in einer so riesigen Stadt mit so vielerlei Zerstreuungen? Wie viele werden es sein, die ihren Besuch abweisen, da sie noch schlafen oder ihren Gelüsten frönen oder weil sie einfach unhöflich sind! Und wie viele, die sie erst quälend lange warten lassen und dann mit vorgespiegelter Eile an ihnen vorbeirennen! Wie viele vermeiden es überhaupt, durch das mit Klienten vollgestopfte Atrium zu gehen, sondern machen sich vielmehr durch ein Hintertürchen davon. Dabei ist es doch noch unfreundlicher, jemanden zu täuschen als ihn abzuweisen. Und wie viele sind vom gestrigen Rausch noch schlaftrunken und benommen. Angesichts der bedauernswerten Leute, die ihren eigenen Schlaf abgebrochen haben, um zu warten, bis ein anderer ausgeschlafen hat, bringen sie kaum die Zähne auseinander. Und wenn man ihnen den Namen tausendmal zugeflüstert hat, antworten sie darauf mit einem verachtungsvollen Gähnen! Nur die widmen sich, so meinen wir, den rechten Verpflichtungen, die sozusagen täglich mit Zenon, mit Pythagoras, Demokrit und den übrigen Größen der Wissenschaft, wie Aristoteles und Theophrast, möglichst vertrauten Umgang haben wollen. Jeder von ihnen hat Zeit, jeder wird den, der zu ihm kommt, empfangen und ihn glücklicher und als einen noch besseren Freund seiner selbst entlassen. Keiner wird einen mit leeren Händen von sich Weggehen lassen. Bei Nacht wie bei Tag kann jeder Mensch bei ihnen Zutritt finden.
# 15
Von ihnen wird niemand dich zwingen zu sterben, aber jeder wird es dich lehren. Keiner von ihnen wird dich deine Jahre kosten, nein, sie geben dir noch ihre hinzu. Keiner von ihnen wird dich in ein gefährliches Gespräch verwickeln, keine Freundschaft wird dich den Kopf kosten, keinem musst du kostspielige Ehren erweisen. Du wirst von ihnen bekommen, was du nur willst. An ihnen wird es nicht liegen, wenn du nicht so viel davonträgst, wie du nur fassen kannst. Welches Glück, was für ein schönes Alter erwartet den, der sich in ihre Klientenschar begeben hat! Er wird Menschen um sich haben, mit denen er über die einfachsten wie über die schwierigsten Dinge nachdenken, die er täglich über sich selbst zu Rate ziehen kann, von denen er die Wahrheit ohne Beschämung, Lob ohne Schmeichelei hören und die er sich zum Vorbild nehmen kann. Wir sagen gewöhnlich, wir hätten nicht die Möglichkeit gehabt, uns unsere Eltern auszusuchen, da sie uns das Schicksal zugeteilt hat. Aber nach unserer eigenen Entscheidung aufzuwachsen, das steht uns frei. Es gibt Familien der edelsten Geister: Wähle aus, in welche du aufgenommen werden willst. Du wirst nicht nur dem Namen nach adoptiert, sondern auch Erbe ihrer Güter sein, und die wirst du nicht mit schmutzigem Geiz bewachen müssen: Sie werden umso größer werden, an je mehr Menschen du sie verteilst. Die Mitglieder deiner geistigen Familie werden dir den Weg zur Ewigkeit weisen und dich auf einen Platz erheben, von dem niemand herabgestürzt werden kann. Das ist die einzige Möglichkeit, die Grenzen der Sterblichkeit zu erweitern, ja sie in Unsterblichkeit zu verwandeln. Ehrentitel, Denkmäler und was sonst die Ehrsucht durch Beschlüsse verordnet oder durch Bauwerke errichtet hat, das stürzt schnell wieder ein, alles zerstört und vernichtet die Länge der Zeit. Was aber die Weisheit geheiligt hat, das kann keinen Schaden erleiden. Kein Zeitalter wird es vernichten, keines mindern. Die folgende und auch jegliche noch ferne Zeit wird etwas zur Verehrung beitragen, denn der Neid zielt nur auf das Naheliegende, während wir das Fernere unvoreingenommen bewundern. Das Leben des Weisen erstreckt sich also über einen weiten Raum, ihn schließen nicht die gleichen Grenzen ein wie die übrigen Menschen. Er allein ist frei von den Zwängen der menschlichen Natur. Alle Jahrhunderte dienen ihm wie einem Gott. Ist eine Zeit für ihn vergangen, dann hält er sie in der Erinnerung fest. Ist sie gegenwärtig, nutzt er sie. Wird sie kommen, dann nimmt er sie vorweg. Sein Leben wird dadurch lang, dass er alle Zeiten in eine einzige zusammenfasst.
# 16
Sehr kurz und sorgenreich ist dagegen die Lebenszeit derjenigen, die das Vergangene vergessen, das Gegenwärtige vernachlässigen, vor der Zukunft Angst haben. Wenn sie ans Ende gekommen sind, dann erkennen die Ärmsten zu spät, dass sie so lange beschäftigt waren, ohne doch wirklich etwas zu tun. Und wenn sie bisH weilen selber den Tod herbeirufen, dann soll das für dich kein Beweis dafür sein, dass sie ein lan>ges Leben führen. Ihr Unverstand quält sie mit vagen Empfindungen, die gerade auf das hintreiben, wovor sie sich ängstigen. Gerade deswegen wünschen sie oft den Tod herbei, weil sie ihn fürchten. Auch darf es dir nicht als Beweis dafür dienen, dass sie lange leben, wenn ihnen der Tag oft lang wird und sie sich beklagen, die Stunden schlichen nur so dahin, bis endlich die festgesetzte Zeit zum Essen kommt. Wenn ihnen nämlich einmal die Beschäftigungen ausgegangen und sie ihrer Muße überlassen sind, dann fühlen sie sich verdrießlich und wissen nicht, was sie mit ihr anfangen sollen, um sie herumzubringen. Daher verlangen sie nach irgendeiner Beschäftigung, und die ganze Zeit dazwischen ist ihnen lästig. Ja, es ist gerade so, wie wenn der Tag für Gladiatorenkämpfe angesetzt ist oder wenn sie den Termin für irgendein anderes Schauspiel oder ein Vergnügen erwarten: Dann wollen sie die Tage dazwischen am liebsten überspringen. Wird etwas Ersehntes hinausgeschoben, erscheint die Zeit lang, während sie bei unseren Lieblingsbeschäftigungen kurz ist und rasch vergeht. Aber diese Leute machen sich die Zeit durch ihre eigene Schuld noch viel kürzer. Sie flüchten nämlich von einer Sache zur anderen und können es nicht bei einem einzigen Vergnügen aushalten. Ihnen sind die Tage nicht lang, sondern geradezu verhasst. Wie kurz erscheinen ihnen dagegen die Nächte, die sie in den Armen von Dirnen oder beim Wein hinbringen! Dazu gehört auch der Wahnsinn der Dichter, die mit ihren Fabeleien die menschlichen Verirrungen noch nähren: Ihnen zufolge hat Jupiter, von der Lust am Beischlaf verführt, die Nacht doppelt so lang gemacht. Das heißt doch nichts anderes, als unsere Laster noch zu schüren, wenn man die Götter als deren Anstifter hinstellt und unseren krankhaften Verirrungen durch göttliches Beispiel einen Freibrief ausstellt! Könnten ihnen die Nächte nicht deshalb so kurz vorkommen, weil sie sie so teuer erkaufen? Den Tag verlieren sie in Erwartung der Nacht, die Nacht aus Furcht vor dem Tageslicht.
# 17
Selbst bei ihren Vergnügungen werden sie von Furcht und vielerlei Schrecknissen in Unruhe versetzt, und im höchsten Freudentaumel beschleicht sie der sorgenvolle Gedanke: "Wie lange geht das noch?" Aus dieser Stimmung heraus haben Könige Tränen vergossen über ihre Macht. Sie konnten sich nicht an der Größe ihres Glückes freuen, vielmehr hat sie das irgendwann einmal bevorstehende Ende in Schrecken versetzt. Der hochmütige Perserkönig Xerxes hatte sein Heer in den weiten Räumen einer Ebene ausgebreitet, wo er nicht dessen Zahl, sondern nur den Umfang abschätzen konnte, und da vergoss er Tränen, weil in hundert Jahren von so viel jungen Menschen keiner mehr am Leben sein würde. Dabei war doch er selbst, der da um sie weinte, gerade dabei, ihnen dieses Verhängnis zu bereiten, indem er sie, sei es auf dem Meer, zu Lande, in der Schlacht oder auf der Flucht, zugrunde gehen ließ — in kurzer Zeit würde er die vernichten, um die er auf hundert Jahre hinaus jammerte. Ja, so sind selbst die Freuden dieser Menschen voller Ängste! Sie ruhen auf keinem festen Grund; die innere Haltlosigkeit, aus der sie hervorgehen, bringt Erschütterungen hervor. Was müssen das aber erst für Zeiten sein, was meinst du, die sogar nach ihrem eigenen Eingeständnis unglücklich sind! Dabei ist doch schon der Zeitraum, in dem sie sich ihrer Erfolge rühmen und sich weit über andere Menschen erhaben dünken, durchaus kein reines Glück. Je größer das Gut, desto größer die Sorge, und gerade dem höchsten Glück kann man am wenigsten trauen. Um sein Glück zu erhalten, braucht man wieder Glück, und für die Gelübde, die sich erfüllt haben, muss man neue Gelübde tun. Denn alles, was der Zufall bringt, ist unbeständig; je höher sich etwas erhebt, desto mehr ist es dem Fall ausgesetzt. Was aber vom Fall bedroht ist, daran kann man keine echte Freude haben. Nicht nur recht kurz, sondern recht elend muss also das Leben solcher Menschen sein, die sich mit großer Mühe das erwerben, was sie nur mit noch größerer Mühe in ihrem Besitz halten können. Unter Anstrengungen erreichen sie, was sie wollen, ängstlich halten sie fest, was sie erreicht haben. Inzwischen aber rechnen sie nicht mit der Zeit, die niemals wiederkehren wird. Neue Beschäftigungen treten an die Stelle der früheren, eine Hoffnung weckt die andere, ein ehrgeiziges Bestreben löst das andere ab. Man will dem Übel kein Ende machen, nur das Objekt ändert sich. Unsere Ehrenämter waren uns zur Plage geworden — noch mehr Zeit nehmen uns nun fremde weg. Als Amtsbewerber treten wir nicht mehr auf — als Wahlhelfer für andere fangen wir wieder von vorne an. Die Bürde des Anklägers haben wir niedergelegt, dafür haben wir das Richteramt auf uns genommen. Richter zu sein, das hat einer aufgegeben, nun ist er Vorsitzender der Untersuchungskommission. Mit bezahlter Verwaltung fremden Besitzes ist einer alt geworden, nun wird er durch sein eigenes Vermögen in Anspruch genommen. Marius hat die Soldatenstiefel ausgezogen — jetzt macht er Dienst als Konsul. Quinctius Cincinnatus beeilt sich, seine Amtszeit als Diktator hinter sich zu bringen — man wird ihn vom Pflug weg wieder zurückholen. Noch gar nicht reif für solch eine Riesenaufgabe wird Scipio gegen die Karthager ziehen — Scipio: er, der Sieger über Hannibal, Sieger über König Antiochos, das Glanzstück seines eigenen Konsulats, Bürge für das seines Bruders. Wenn er nicht von sich aus Einhalt geböte, würde sein Standbild neben dem Jupiters aufgestellt. Aber ihn, den Retter des Vaterlandes, werden Unruhen in der Bürgerschaft in Bedrängnis bringen, und nachdem er als junger Mann göttergleiche Ehren verschmäht hatte, wird ihm im Alter nur noch die Freude bleiben, voller Trotz und Eigensinn ins Exil zu gehen. Nie wird es an Gründen fehlen, sich Sorgen zu machen, ob im Glück oder im Unglück. Von einer Belastung zur andern stößt dich das Leben, die Muße wird man niemals genießen, sie bleibt immer ein Wunschtraum.
# 18
Trenne dich also von der großen Masse, mein lieber Paulinus, und ziehe dich endlich in einen ruhigeren Hafen zurück — du bist ja für deine Jahre schon über Gebühr umgetrieben worden! Bedenke doch nur, wie vielen Fluten du schon ausgesetzt warst, wie viel Stürme du im Privatleben ausgehalten, wie viele du in der Öffentlichkeit auf dich gezogen hast. In mühevoller und rastloser Tätigkeit hast du schon genügend Beweise deiner Tüchtigkeit gegeben. Probiere jetzt, was sie in der Muße leistet. Den größeren Teil deines Lebens, gewiss den besseren, hast du dem Staat gewidmet: Etwas von deiner Zeit nimm nun auch für dich! Ich rufe dich ja nicht zu träger, tatenloser Ruhe auf: Du sollst nicht alles, was an lebendiger Energie in dir steckt, untergehen lassen im Schlaf und in Genüssen, wie die Masse sie liebt. Das heißt ja nicht "zur Ruhe kommen". Du wirst vielmehr Größeres finden als all deine bisher so tatkräftig erfüllten Aufgaben, und damit wirst du dich in sicherer Zurückgezogenheit beschäftigen. Du führst freilich die Rechnungsbücher des Weltreiches so uneigennützig wie die von Fremden, so sorgfältig wie deine eigenen, so gewissenhaft, als lägen sie öffentlich zur Prüfung aus. Du gewinnst dir Beliebtheit in einem Amt, in dem es doch schwer ist, Anfeindung zu vermeiden, aber dennoch, glaub mir, ist es besser, über sein eigenes Leben Rechenschaft ablegen zu können als über die staatliche Getreideversorgung. Deine Geisteskraft, in höchstem Maße befähigt für hohe Aufgaben — rufe sie nun zurück von einem Amt, das zwar ehrenvoll ist, aber nicht ausreicht, um ein glückliches Leben zu führen. Und bedenke: Du hast nicht deshalb von frühester Jugend an das Studium sämtlicher Wissenschaften betrieben, damit man dir dann viele tausend Scheffel Getreide unbesorgt anvertrauen kann. Einen anderen Höhenflug des Geistes konnte man von dir erwarten. An Männern, die gründlich wirtschaften und sich mit Arbeitseifer einsetzen, wird es nicht fehlen. Viel geeigneter für den Transport von Lasten sind doch träge Zugtiere als stolze Pferde — wer hat die edlen Renner jemals mit schwerem Gepäck belastet? Bedenke außerdem, wie viel Sorgen und Unruhe es mit sich bringt, wenn du dich weiterhin einer so großen Belastung aussetzt: Mit dem Magen der Menschen hast du es zu tun. Leute, die hungern, hören auf kein vernünftiges Argument, lassen sich durch kein annehmbares Angebot besänftigen oder durch Bitten bewegen. Eben erst, eben innerhalb der wenigen Tage, als Kaiser Caligula umkam — wenn es in der Unterwelt noch so etwas wie ein Bewusstsein gibt, dann ärgert er sich maßlos darüber, dass er abtreten musste, während das römische Volk am Leben blieb —, da waren kaum noch für sieben oder acht Tage Lebensmittel vorrätig! Während er Schiffsbrücken baute und die Staatsfinanzen ruinierte, war das eingetreten, was selbst für Belagerte das schlimmste Übel ist: Nahrungsmittelmangel. Untergang fast und Hungersnot, und was auf Hunger folgt, ein allgemeiner Zusammenbruch — das war der Preis dafür, dass Caligula den fremden König Xerxes nachahmen wollte, mit seinen hochfliegenden und fatalen Unternehmungen! Wie war damals den Verantwortlichen für die staatliche Getreideversorgung zumute, als sie sich Steinwürfen, Schwertern, Feuerbränden, ja Caligula selbst gegenüber sahen? Mit größter Verstellungskunst verbargen sie die schlimmen Missstände im Innern, und zwar aus gutem Grund. Manche Leiden müssen nämlich ohne Wissen des Patienten behandelt werden. Für viele war es ja die Ursache für ihren Tod, dass sie über ihre Krankheit Bescheid wussten.
# 19
Zieh dich auf das zurück, was ruhiger, sicherer und wichtiger ist! Meinst du, da sei doch wenig Unterschied, ob du dafür sorgst, dass das Getreide ohne Schädigung durch Betrügerei oder Nachlässigkeit der Lieferanten in die Magazine kommt, dass es nicht Feuchtigkeit zieht, verdirbt und auskeimt, dass Maß und Gewicht stimmen oder ob du an diese heiligen und erhabenen Themen herangehst, um Folgendes zu erfahren: Aus welcher Substanz besteht die Gottheit, wie ist ihre Willensentscheidung, ihr Zustand, ihre Gestalt, welches Schicksal erwartet deine Seele und wohin versetzt uns die Natur, wenn wir vom Körper befreit sind? Welches Prinzip hält in unserem Weltall die schwersten Körper in der Mitte, lässt darüber das Leichte schweben und das Feuer ganz nach oben steigen und bewegt die Gestirne auf ihren wechselnden Bahnen, und was es sonst noch an unermesslich Wunderbarem gibt? Willst du dich nicht von der Erde erheben und mit dem Auge deines Geistes dorthin blicken? Jetzt, solange das Blut noch warm und die Kräfte noch frisch sind, muss man sich auf den Weg zum Besseren machen. Es erwartet dich in diesem Lebensbereich eine Fülle von Erkenntnissen aus den Wissenschaften, Liebe zu den höchsten Tugenden und Übung in ihnen, Vergessen der Leidenschaften, das Wissen um Leben und Sterben, tiefe Seelenruhe.
# 20
All die Vielgeschäftigen befinden sich demgegenüber in einer traurigen Lage, am traurigsten aber sieht es für diejenigen aus, die sich nicht einmal mit ihren eigenen Geschäften herumplagen, die ihren Schlaf nach dem eines anderen, ihre Tritte nach dem Schritt eines anderen richten und sich sogar das Lieben und Hassen, die allerfreiesten menschlichen Regungen, befehlen lassen müssen. Wenn sie wissen wollen, wie kurz ihr eigenes Leben ist, dann sollten sie bedenken, welch ein kleiner Teil davon nur ihnen gehört.
Wenn du also siehst, wie einer immer wieder die Amtstracht anlegt, seinen Namen auf dem Forum feiern lässt, dann beneide ihn nicht: Dergleichen geht auf Kosten des Lebens. Damit ein einziges Jahr nach ihnen gezählt wird, opfern sie alle ihre Jahre auf. Manche hatten sich noch nicht zum Gipfel ihres Ehrgeizes emporgearbeitet und mühten sich noch auf den ersten Stufen ab — da verließ sie das Leben. Manchen, die sich durch tausend Würdelosigkeiten zur höchsten Würde hinaufgekämpft hatten, kam auf einmal der triste Gedanke, sie hätten sich nur für ihre Grabinschrift abgemüht. Manche hat, während sie im hohen Alter noch wie in der Jugend neue hoffnungsvolle Pläne machten, mitten in ihren großen und übertriebenen Unternehmungen die Kraft verlassen. Ein schmähliches Bild gibt einer ab, der im hohen Alter noch einen Prozess führt für Leute, die ihn gar nichts angehen, und nach dem Beifall einer unverständigen Menge hascht, wobei ihm dann der Atem endgültig ausgeht. Beschämend wirkt auch, wer, vom Leben eher als von der Arbeit erschöpft, mitten in seinen Amtsgeschäften zusammengebrochen ist, und ein blamables Bild bietet derjenige, der sich auf dem Sterbebett noch Rechnungen vorlegen ließ und dann von seinem Erben, den er lange hingehalten hatte, ausgelacht wurde! Ein Beispiel, das mir gerade in den Sinn kommt, kann ich nicht übergehen: Sextus Turannius war ein alter Mann von höchster Gewissenhaftigkeit. Als er nach Vollendung seines neunzigsten Lebensjahres von Kaiser Caligula aus seinem Amt als Verwalter der Getreideversorgung entlassen wurde, ohne dass er um seinen Abschied ersucht hatte, da ließ er sich aufbahren und von der umstehenden Dienerschaft wie einen Toten beklagen. Das ganze Haus bejammerte den Ruhestand seines greisen Herrn und beendete die Trauer erst, als ihm sein anstrengendes Amt zurückgegeben worden war. Macht es wirklich so viel Freude, bis in den Tod hinein tätig zu sein? So denken aber recht viele: Ihr Verlangen nach Tätigkeit reicht weiter als ihre Kraft. Sie kämpfen gegen ihre körperliche Schwäche an, und das Alter selbst sehen sie nur deshalb als drückende Last an, weil es sie beiseite stellt. Dem Gesetz nach wird keiner ab dem fünfzigsten Lebensjahr mehr zum Wehrdienst eingezogen, vom sechzigsten an wird niemand mehr in den Senat berufen: Schwerer aber erreichen die Menschen von sich selbst den Ruhestand als vom Gesetz. Während sie aber selbst hin und her gedrängt werden und andere wegdrängen, während einer dem andern die Ruhe stört, erst der eine, dann der andere elend ist, bleibt ihr Leben ohne Gewinn, ohne Freude, ohne irgendeine Art geistigen Wachstums. Keiner stellt sich den Tod vor Augen, jeder richtet seine Hoffnung auf eine ferne Zukunft. Manche treffen sogar noch Anordnungen über ihr Leben hinaus: mächtige Grabanlagen, Stiftungen für öffentliche Bauten, Gladiatorenkämpfe am Scheiterhaufen, Beisetzungen mit allem Prunk. Aber wahrhaftig — solche Menschen sollten beigesetzt werden, als ob sie nur ganz kurz gelebt hätten, bei Fackelschein und Kerzenlicht, wie bei Kinderbegräbnissen.