Ryan Holiday - Der tägliche Stoiker
August 1, 2021•36,502 words
Inhalt
- Einleitung
- Von Griechenland über Rom zum Hier und Jetzt
- Ein philosophisches Buch für ein philosophisches Leben
- Teil 1 - Die Disziplin der Wahrnehmung
- Teil 2 - Die Kategorie des Handelns
Einleitung
Die privaten Tagebücher eines der größten Kaiser Roms, die persönlichen Briefe eines der besten Dramatiker und klügsten politischen Strippenzieher Roms sowie die Vorträge eines ehemaligen Sklaven und Verbannten, der zum einflussreichen Lehrer wurde – allen Widrigkeiten zum Trotz sind uns noch zwei Jahrtausende später diese unglaublichen Dokumente erhalten geblieben.
Was sagen sie uns? Können diese antiken und weithin unbekannten Schriften wirklich etwas beinhalten, das für das heutige Leben von Relevanz ist? Die Antwort lautet tatsächlich: ja. Sie enthalten einige der bedeutsamsten Lebensweisheiten der Weltgeschichte.
Gemeinsam stellen diese Dokumente das Fundament dessen, was man Stoizismus nennt, eine antike Philosophie, die einst in der westlichen Welt sehr populär war und in dem Streben nach dem guten Leben von Reichen und Verarmten, Mächtigen und am Hungertuch Nagenden gleichermaßen verfolgt wurde. Aber über die Jahrhunderte verblasste allmählich das Wissen um diese Lebenshaltung, die einst so essentiell war.
Abgesehen von jenen, die sich mit Eifer der Suche nach Weisheit widmen, ist Stoizismus entweder unbekannt oder wird missverstanden. Tatsächlich gibt es kaum eine andere Bezeichnung, der so viel Ungerechtigkeit widerfahren ist, wie der des »Stoikers«. Für die meisten ist diese dynamische und handelsorientierte Lebensweise, die einen veranlasst, seine Grundsätze neu zu überdenken, zum Kürzel für »Emotionslosigkeit« geworden. Angesichts der Tatsache, dass schon die bloße Erwähnung von Philosophie viele Menschen ungeduldig macht oder bei ihnen Langeweile auslöst, klingt »stoische Philosophie« erst einmal wie das Letzte, womit man sich beschäftigen will, geschweige denn nach etwas, das man für sein tägliches Leben benötigt.
Was für ein trauriges Schicksal für eine Philosophie, die selbst einer ihrer gelegentlichen Kritiker, Arthur Schopenhauer, als »das Höchste, was ein Mensch erreichen kann, wenn er einfach nur seinen Verstand einsetzt«, beschrieben hat.
Mit diesem Buch verfolgen wir das Ziel, dem Stoizismus seinen rechtmäßigen Platz wiederzugeben – als Methode, um Selbstbeherrschung, Ausdauer und Weisheit zu erlangen: etwas, das man anwendet, um ein erstrebenswertes Leben zu führen, nicht irgendein esoterischer Ansatz der Geisteswissenschaften.
In der Tat haben viele Geistesgrößen nicht nur die Wahrhaftigkeit des Stoizismus erkannt, sie haben sie auch aktiv angewandt, etwa George Washington, Walt Whitman, Friedrich der Große, Eugene Delacroix, Adam Smith, Immanuel Kant, Thomas Jefferson, Matthew Arnold, Ambrose Bierce, Theodore Roosevelt, William Alexander Percy oder Ralph Waldo Emerson. Sie alle studierten, zitierten oder bewunderten die Stoiker.
Die antiken Stoiker selbst waren bemerkenswerte Persönlichkeiten. Die Namen, denen du in diesem Buch begegnen wirst – Marc Aurel, Epiktet, Seneca – gehörten einem römischen Kaiser, einem ehemaligen Sklaven, der später als einflussreicher Lehrer und Freund von Kaiser Hadrian triumphierte, sowie einem berühmten Dramatiker und politischen Berater. Es gab zudem Stoiker wie den bewunderten Politiker Cato den Jüngeren; Zenon, ein wohlhabender Kaufmann (wie viele andere Stoiker); Kleanthes, ein ehemaliger Faustkämpfer, der als Wasserträger arbeitete, um sich die Schule leisten zu können; Chrysippos, dessen Schriften heute allesamt verloren sind, der jedoch 700 Schriftrollen anfertigte und ein durchtrainierter Langstreckenläufer war; Poseidonios, der als Botschafter diente; der Lehrer Musonius Rufus und noch viele weitere.
Heutzutage hat der Stoizismus, besonders seit der jüngsten Veröffentlichung von The Obstacle Is The Way, eine neue und vielfältige Anhängerschaft gefunden, die sich von den Trainern der New England Patriots und Seattle Seahawks über den Rapper LL Cool J und die amerikanische Sportmoderatorin Michele Tafoya bis hin zu Sportlern, Firmenchefs, Hedgefonds-Managern, Führungskräften, Künstlern und etlichen anderen Frauen und Männern des öffentlichen Lebens erstreckt.
Was haben diese bedeutenden Männer und Frauen im Stoizismus gefunden, was anderen entgangen ist?
Eine ganze Menge. Während Akademiker den Stoizismus häufig als eine wenig inspirierende Methodenlehre abtun, sind es immer schon die Macher dieser Welt gewesen, die befanden, dass die stoische Lehre ihnen für ihre Lebensaufgaben die nötige Stärke und Ausdauer bot. Als der Journalist und Bürgerkriegsveteran Ambrose Bierce einen jungen Schriftsteller darauf hinwies, dass das Studium der Stoiker ihn lehren würde, »wie man ein würdiger Gast an der Tafel der Götter wird«, oder als der Maler Eugene Delacroix (berühmt für sein Gemälde Die Freiheit führt das Volk) den Stoizismus seine »tröstende Religion« nannte, sprachen sie aus Erfahrung.
Das gilt auch für den tapferen Gegner der Sklaverei, Colonel Thomas Wentworth Higginson, der das erste rein schwarze Regiment im amerikanischen Bürgerkrieg anführte und eine der denkwürdigsten englischsprachigen Übersetzungen von Epiktet anfertigte.
Der aus den Südstaaten stammende Plantagenbesitzer und Schriftsteller William Alexander Percy, der die Rettungsbemühungen während der großen Flut des Jahres 1927 leitete, nutzte den Stoizismus als maßgebliche Orientierungshilfe, als er feststellte: »Wenn alles verloren ist, kann man daran festhalten.« Das gilt auch für den Autor und Investor Tim Ferriss, der den Stoizismus als sein ideales »persönliches Betriebssystem« bezeichnete (dem haben auch andere hochrangige Manager wie Jonathan Newhouse, der Geschäftsführer von Condé Nast International, zugestimmt).
Der Stoizismus scheint jedoch insbesondere für das Schlachtfeld zu taugen. Als im Jahr 1965 James Stockdale, Hauptmann der Luftwaffe, über Vietnam abgeschossenen wurde und mit dem Fallschirm absprang, und als er daraufhin knapp fünf Jahre lang Folter und Kriegsgefangenschaft aushalten musste, wofür er später mit der Ehrenmedaille ausgezeichnet wurde, wessen Name war da auf seinen Lippen? Epiktet. Augenzeugen berichteten, dass Friedrich der Große mit den Werken der Stoiker in seinen Satteltaschen in die Schlacht ritt, und auch der US-Marine- und NATO-Kommandant General James »Mad Dog« Mattis führte die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel mit sich, als er zum Persischen Golf aufbrach und in Afghanistan und in den Irak einmarschierte. Diese Männer waren keine Professoren, sondern Menschen der Tat, und sie empfanden den Stoizismus als praktische Philosophie, die perfekt zu ihren Zielsetzungen passte.
Von Griechenland über Rom zum Hier und Jetzt
Der Stoizismus ist eine Schule der Philosophie, die ungefähr 300 v. Chr. in Athen entstand. Als ihr Gründer gilt Zenon von Kition. Der Name leitet sich aus dem Griechischen stoa ab, was Vorhalle bedeutet, weil Zenon in einer solchen anfangs seine Schüler unterrichtete. Die stoische Philosophie geht davon aus, dass Tugendhaftigkeit (gemeint sind in erster Linie die vier Kardinaltugenden Selbstbeherrschung, Mut, Gerechtigkeit und Weisheit) gleichbedeutend ist mit dem Gefühl von Glück, und dass unsere Wahrnehmung der Umstände – und nicht die Umstände selbst – bestimmt, ob wir uns glücklich oder unglücklich fühlen. Der Stoizismus lehrt, dass wir nichts beherrschen und uns auf nichts verlassen können, was außerhalb dessen liegt, das Epiktet unsere »Entscheidungsgewalt« nennt – unsere Fähigkeit, den Verstand zu nutzen, um zu entscheiden, wie wir Ereignisse von außen einordnen, auf sie reagieren oder uns in der Folge neu orientieren.
Der frühe Stoizismus war eher eine allumfassende Philosophie, ähnlich anderen antiken Schulen, deren Namen entfernt vertraut sein mögen, wie Epikureismus, Zynismus, Platonismus, Skeptizismus. Deren Anhänger beschäftigten sich mit diversen Themengebieten, darunter Physik, Logik, Kosmologie und viele andere. Eine der Analogien, die von den Stoikern bevorzugt wurde, um ihre Philosophie zu beschreiben, war das fruchtbare Feld: Logik war der schützende Zaun, Physik war das Feld, und die Ernte, die dadurch hervorgebracht wurde, war die Ethik – oder die Anleitung zum Handeln.
Mit der Zeit konzentrierte sich der Stoizismus jedoch im Wesentlichen auf zwei Themengebiete: Logik und Ethik. Auf seinem Weg von Griechenland nach Rom wurde der Stoizismus wesentlich praxisorientierter, er wurde den aktiven, pragmatischen Lebensgewohnheiten der geschäftigen Römer angepasst. So konstatierte Marc Aurel später: »Als ich mein Herz der Philosophie schenkte, konnte ich mich glücklich schätzen, weder in die Falle der Sophisten geraten zu sein, noch mich ganz an den Schreibtisch zurückgezogen, mich der Haarspalterei oder nur noch dem Studium der Himmelsgewölbe hingegeben zu haben.«
Stattdessen konzentrierte er sich (ebenso wie Epiktet und Seneca) auf eine Reihe von Fragen, die denjenigen ganz ähnlich sind, die wir uns heutzutage stellen: »Auf welche Art und Weise soll ich am besten leben?« »Wie gehe ich mit meiner Wut um?« »Was sind meine Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber?« »Ich habe Angst zu sterben: Warum ist das so?« »Wie gehe ich mit schwierigen Situationen um, mit denen ich konfrontiert werde?« oder »Wie gehe ich damit um, dass ich mächtig und erfolgreich bin?«
Dies waren keine abstrakten Fragen. In ihren Schriften – zumeist private Briefe oder Tagebucheinträge – und in ihren Vorträgen bemühten die Stoiker sich, realistische und umsetzbare Antworten zu entwickeln. Schließlich orientierten sie ihre Philosophie an einer Reihe von Übungen, die sich von drei theoretischen Kategorien ableiten lassen:
Die Wahrnehmung (wie wir die Welt um uns herum sehen und wahrnehmen)
Das Handeln (die Entscheidungen und die Handlungen, die wir vollziehen – und mit welchem Ziel)
Der Wille (wie wir mit den Umständen umgehen, die wir nicht ändern können; klare und überzeugende Urteile erlangen und unseren Platz auf dieser Welt wahrhaft verstehen)
Indem wir unsere Wahrnehmungen beherrschen, so die Stoiker, können wir einen klaren Verstand formen. Wenn wir unsere Handlungen ordentlich und angemessen steuern, werden wir die gewünschten Ergebnisse erzielen. Wenn wir unseren Willen einsetzen und der Situation anpassen, werden wir Weisheit erlangen und den rechten Blickwinkel, um mit allem, womit wir in der Welt konfrontiert werden, umgehen zu können. Es war die Überzeugung der Stoiker, dass sie, wenn sie sich selbst und ihre Mitbürger in diesen Bereichen schulten, zu mehr Resilienz, Zielgerichtetheit und sogar Freude fänden.
Der Stoizismus, der in der unwägbaren Welt der Antike entstand, nahm die Unvorhersehbarkeit des Lebens ins Visier und bot eine Reihe praktischer Tipps für den täglichen Gebrauch. Unsere moderne Welt mag radikal anders erscheinen als die bemalte Vorhalle (Stoa Poikilê) der Agora von Athen und des Forums und Gerichtshofs von Rom. Aber die Stoiker gaben sich große Mühe, sich zu vergegenwärtigen (siehe 10. November), dass sich im Vergleich zu ihren Vorfahren nichts Grundlegendes geändert hatte, und dass sich auch in der Zukunft das Wesen und das Streben der Menschheit nicht ändern würden. Ein Tag ist wie alle Tage, pflegten die Stoiker zu sagen. Und das stimmt noch immer. Was uns zu dem Punkt bringt, an dem wir jetzt sind.
Ein philosophisches Buch für ein philosophisches Leben
Manche von uns sind gestresst. Andere fühlen sich überarbeitet. Vielleicht kämpfst du mit der neuen Verantwortung, die Elternschaft mit sich bringt? Oder mit dem Chaos eines neuen Unternehmens? Oder du bist schon erfolgreich und haderst mit den Pflichten von Macht und Einfluss? Plagt dich eine Sucht? Bist du schwer verliebt? Oder hangelst du dich von einer gescheiterten Beziehung zur nächsten? Steuerst du auf den Lebensabend zu? Oder genießt die Verführungen der Jugend? Bist du ausgelastet und aktiv? Oder zu Tode gelangweilt?
Was auch immer es ist, ganz gleich, was du durchmachst, die Stoiker halten Weisheiten parat, die helfen können. Tatsächlich haben sie sich in vielen Fällen mit Fragen befasst, die erstaunlich modern wirken. Genau darauf werden wir uns in diesem Buch konzentrieren.
Aus dem Kanon der Stoiker präsentieren wir eine Auswahl von Übersetzungen der bedeutendsten Textstellen aus dem Werk der drei wichtigsten Vertreter des späten Stoizismus: Seneca, Epiktet und Marc Aurel – darüber hinaus einige ausgewählte Zitate ihrer Vorgänger (Zenon, Kleanthes, Chrysippos, Musonius, Hekaton). Mit dem Begleittext zu jedem Zitat wollen wir versuchen, eine Geschichte zu erzählen, Zusammenhänge herzustellen, eine Frage aufzuwerfen, zu einer Übung anzuregen oder die Sichtweise der jeweils zitierten Stoiker zu erklären, sodass du ein tieferes Verständnis erlangst, egal, welche Antworten du auch suchst.
Die Werke der Stoiker sind schon immer erfrischend und zeitgemäß gewesen, unabhängig von den historischen Hochs und Tiefs ihrer Popularität. Mit diesem Buch haben wir nicht beabsichtigt, sie zu rehabilitieren, zu modernisieren oder aufzufrischen (es gibt bereits viele exzellente Übersetzungen). Stattdessen haben wir versucht, die gewaltige Menge an Weisheiten, die die Stoiker zusammengetragen haben, neu zu ordnen und in gut verdaulicher, zugänglicher und schlüssiger Form zu präsentieren. Man kann, besser sollte, aber auch zu den Originalwerken der Stoiker greifen (siehe Empfehlungen zur weiteren Lektüre hinten im Buch).
Für den beschäftigten und aktiven Leser haben wir hier den Versuch unternommen, ein Brevier für den täglichen Gebrauch zu erstellen, das ebenso funktional und auf den Punkt gebracht ist, wie das Denken der Philosophen, die dahinterstehen. Und in der Tradition der Stoiker haben wir noch Stoff hinzugefügt, um tiefer gehende Fragen anzuregen und ihnen Raum zu geben.
Aufgebaut ist das Buch nach den drei oben vorgestellten Kategorien Wahrnehmung, Handlung und Wille, und dann weiter unterteilt nach wichtigen Themen innerhalb dieser Kategorien. Jeder Monat widmet sich einem besonderen Wesenszug und jeder Tag bietet einen neuen Denkansatz oder eine neue Handlungsweise. Alle Themen, die für die Stoiker von großem Interesse waren, tauchen hier auf: Tugendhaftigkeit, Sterblichkeit, Gefühle, Selbstwahrnehmung, Tapferkeit, richtiges Handeln, das Lösen von Problemen, Anerkennung, geistige Klarheit, Pragmatismus, Unbefangenheit und Pflichtbewusstsein.
Die Stoiker waren Pioniere morgendlicher und abendlicher Rituale: Vorbereitung am Morgen, Reflektion am Abend. Wir haben dieses Buch geschrieben, um dich darin zu unterstützen. Eine Betrachtung für jeden Tag im Jahr (inklusive einem zusätzlichen Tag für Schaltjahre!). Wenn du magst, kannst du es mit einem Notizbuch kombinieren, in dem du deine Gedanken und Reaktionen zum Ausdruck bringst und aufzeichnest (siehe 21. Januar und 22. Dezember), wie dies auch die Stoiker oft taten.
Das Ziel dieser sehr praxisbezogenen Herangehensweise an die Philosophie ist es, dir zu helfen, ein besseres Leben zu führen. Wir tragen die Hoffnung, dass sich in diesem Buch nicht ein Wort findet, dass man nicht, um es mit Seneca zu sagen, in die Tat umsetzen könnte oder sollte.
Das ist es, wofür wir dieses Buch gemacht haben.
Teil 1 - Die Disziplin der Wahrnehmung
Januar - Erkenntnis
1. Januar - Macht und Entscheidung
»Die wesentliche Aufgabe im Leben besteht darin, die Dinge zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, um mir klar machen zu können, über welche äußeren Umstände ich keine Macht habe, und welche von Entscheidungen abhängen, die in meiner Macht stehen. Wo finde ich dann das Gute oder Böse? Nicht in den Dingen, die nicht in meiner Macht stehen, sondern in mir selbst, in den Entscheidungen, die ich treffe ...«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.5.4–5
Der wichtigste Ansatz der stoischen Philosophie ist, zu unterscheiden zwischen dem, was wir verändern können, und dem, was wir nicht verändern können. Worauf wir Einfluss nehmen können und worauf nicht. Wenn ein Flug wegen schlechten Wetters Verspätung hat, nutzt es nichts, Flughafenmitarbeiter zu beschimpfen. Das verändert die Wetterlage nicht. Wie sehr du es dir auch wünschen magst, du wirst nicht größer oder kleiner oder in einem anderen Land geboren. Wie sehr du dich auch bemühst, du kannst niemanden zwingen, dich zu mögen. Darüber hinaus ist die Zeit, die du aufwendest, um dich auf unveränderliche Dinge zu stürzen, Zeit, die du nicht auf Dinge verwenden kannst, die wir verändern können.
Die Recovery Community (US-amerikanische Entzugsklinik, Anm. d. Ü.) praktiziert ein sogenanntes Gebet der Gelassenheit: »Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge, die ich nicht ändern kann, zu akzeptieren, den Mut, die mir möglichen Dinge zu verändern, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.« Abhängige können den Missbrauch, den sie “in ihrer Kindheit erlitten haben, nicht ändern. Sie können die Entscheidungen, die sie getroffen haben, oder den Schmerz, den sie verursacht haben, nicht ungeschehen machen. Aber sie können ihre Zukunft verändern – durch die Kraft, die sie im gegenwärtigen Moment haben. In den Worten Epiktets: Sie haben die Macht über die anstehenden Entscheidungen.
Dasselbe gilt heute für uns. Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Teile des Tages wir beeinflussen können und welche nicht, werden wir nicht nur glücklicher sein, sondern einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Menschen haben, die nicht einsehen wollen, dass sie einen Kampf führen, den sie nicht gewinnen können.”
2. Januar - Bildung bedeutet Freiheit
»Was sind die Früchte dieser Lehrstunden? Nur der schönste und angemessenste Ertrag der wahrhaft Gebildeten: Gelassenheit, Angstlosigkeit und Freiheit. Wir sollten nicht den Massen trauen, die sagen, nur wer frei ist, kann gebildet sein, sondern vielmehr den Weisen, die sagen: Nur die Gebildeten sind frei.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.1.21–23a
Warum hast du zu diesem Buch gegriffen? Warum greift man überhaupt zu einem Buch? Nicht, um klüger zu erscheinen. Nicht, um sich die Zeit in einem Flugzeug zu vertreiben. Nicht, um zu erfahren, was du ohnehin schon weißt – es gibt genügend andere Möglichkeiten als zu lesen.
Nein, du hast zu diesem Buch gegriffen, weil du lernen möchtest, wie man lebt. Weil du dich freier und furchtloser fühlen sowie deinen inneren Frieden finden willst. Bildung – die weisen Worte großer Geister zu lesen und über sie nachzudenken – betreibt man nicht um ihrer selbst willen. Man verfolgt ein Ziel.
Merke dir dies für die Tage, an denen du dich leicht ablenken lässt, wenn das Fernsehgucken oder die kleine Zwischenmahlzeit dir verlockender erscheint als Philosophisches zu lesen oder zu studieren. Wissen – besonders Selbsterkenntnis – ist Freiheit.
3. Januar - Habe kein Mitleid mit bedeutungslosen Dingen
»Wie viele haben dein Leben vergeudet, ohne dass du dir bewusst warst, wie viel du verlierst. Wie viel hast du auf sinnlosen Kummer, haltlose Freude, gieriges Verlangen oder gesellschaftliche Vergnügungen verschwendet – wie wenig von dir selbst ist dabei übrig geblieben. Du wirst erkennen, dass du vor deiner Zeit stirbst!«
-- Seneca, Über die Kürze des Lebens, 3.3b
Eines der schwierigsten Dinge im Leben ist, »Nein« zu sagen. Zu Einladungen, zu Bitten, zu Verpflichtungen, zu all dem, was jeder andere zu machen scheint. Noch schwieriger ist es, Nein zu zeitraubenden Gefühlen zu sagen: Wut, Begeisterung, Ablenkung, Besessenheit, Begierde. Keine dieser Regungen müsste man für sich genommen als eine große Sache betrachten, aber wenn sie außer Kontrolle geraten, können wir uns ihnen nicht mehr entziehen.
Wenn du nicht aufpasst, werden sie zu Problemen, die dich überwältigen und dein Leben bestimmen. Hast du dich jemals gefragt, wie du etwas von deiner Zeit zurückbekommen kannst, wie du dich weniger eingespannt fühlst? Fang an, indem du dir die Macht des »Nein« aneignest – wie etwa »Nein, danke« und »Nein, damit möchte ich nichts zu tun haben« und »Nein, ich kann gerade nicht«. Mag sein, dass du Gefühle anderer verletzt. Mag sein, dass du Leute vor den Kopf stößt. Es mag dir mühsam erscheinen. Aber je häufiger du Nein zu Dingen sagst, die nicht von großer Bedeutung für dich sind, desto häufiger kannst du Ja zu den Dingen sagen, die dir wichtig sind. Nur so kannst du aufblühen und dein Leben genießen – das Leben, das du willst.
4. Januar - Die großen Drei
»Alles, was du brauchst, ist folgendes: sicheres Urteilsvermögen im gegenwärtigen Augenblick; Einsatz für das Gemeinwohl im gegenwärtigen Augenblick; und ein Gefühl von Dankbarkeit im gegenwärtigen Augenblick für alles, was dir begegnet.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 9.6
Wahrnehmung, Handeln, Wille. Dies sind die drei ineinandergreifenden und ausschlaggebenden Disziplinen des Stoizismus (sie spiegeln sich ebenso im Aufbau dieses Buches und in der ein Jahr währenden Reise, die du gerade begonnen hast). Die Philosophie geht mit Sicherheit noch viel weiter – wir könnten den ganzen Tag damit verbringen, über die einzigartigen Ansichten verschiedener Stoiker zu reden. »So dachte Heraklit ...« »Zeno stammt aus Kition, einer Stadt auf Zypern, und er glaubte ...« Aber würden dir solche Fakten Tag für Tag helfen? Welche Erkenntnis würden solche Nebensächlichkeiten bringen?
Die folgende kleine Gedächtnishilfe, die dich an jedem Tag, bei jeder Entscheidung begleiten soll, fasst die drei essentiellen Aspekte der stoischen Philosophie zusammen:
Steuere deine Wahrnehmungen. Führe deine Handlungen angemessen aus. Akzeptiere bereitwillig, was außerhalb deiner Macht steht.
Das ist alles, was wir tun müssen.
5. Januar - Definiere Deine Absichten
»Lasse alle deine Bemühungen zielgerichtet sein und behalte dieses Ziel im Blick. Es ist nicht das Handeln, das die Menschen beunruhigt, sondern falsche Vorstellungen von Dingen, die sie um den Verstand bringen.«
-- Seneca, Von der Ruhe des Gemüts, 12.5
Das Gesetz 29 aus dem Buch The 48 Laws of Power von Robert Greene lautet: Plane alles ganz bis zum Ende durch. Er schreibt: »Wenn man etwas bis zum Ende durchplant, wird man nicht von äußeren Umständen aus der Bahn geworfen und man weiß, wann man aufhören muss. Wer weit vorausdenkt, kann dem Glück auf die Sprünge helfen und dazu beitragen, die Zukunft selbst zu gestalten.« Die zweite Gewohnheit in dem Buch The 7 Habits of Highly Effective People lautet: Beginne mit einem gesteckten Ziel.
Ein Ziel im Hinterkopf zu haben, bedeutet nicht, dass du garantiert dein Ziel erreichen wirst – kein Stoiker würde eine solche Annahme tolerieren – aber kein Ziel zu haben führt mit Sicherheit zu gar nichts. Für die Stoiker sind oiêsis (falsche Vorstellungen) nicht nur für Seelenqualen verantwortlich, sondern auch für chaotische und zerrüttete Lebensläufe und ins Leere laufende Handlungen. Wenn deine Bemühungen keinem Zweck dienen oder auf kein Ziel gerichtet sind, wie willst du dann wissen, was du tagein, tagaus tun sollst? Wie willst du wissen, zu was du Nein sagen sollst und zu was Ja? Wie willst du erkennen, wann es reicht, wann du dein Ziel erreicht hast, wann du vom Weg abgekommen bist, wenn du zuvor diese Dinge nicht festgelegt hast?
Die Antwort lautet: Es wird dir nicht möglich sein. Und du wärst zum Scheitern verurteilt – oder schlimmer noch, du würdest durch diese Orientierungslosigkeit in den Wahnsinn getrieben.
6. Januar - Wo, wer, was und warum
»Ein Mensch, der nicht weiß, was das Universum ist, weiß nicht, wo er ist. Ein Mensch, der den Zweck seines Lebens nicht kennt, weiß nicht, wer er ist, und auch nicht, was das Universum ist. Ein Mensch, der keins von beiden weiß, weiß auch nicht, warum er existiert. Was soll man also mit Menschen machen, die die Anerkennung von jenen Menschen suchen oder meiden, die nicht wissen, wo und wer sie sind?«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.52
Der verstorbene Comedian Mitch Hedberg pflegte in seinen Shows eine lustige Geschichte zu erzählen. Während eines live ausgestrahlten Radiointerviews fragte ihn der Moderator: »Nun, wer sind Sie?« In diesem Augenblick schoss ihm durch den Kopf: ›Ist der Typ tiefsinnig oder bin ich zum falschen Sender gefahren?‹
Wie oft wird uns eine einfache Frage gestellt wie »Wer bist du?« oder »Was machst du?« oder »Wo kommst du her?« In Anbetracht dessen, dass es eine oberflächliche Frage ist – wenn wir uns überhaupt darüber Gedanken machen – begnügen wir uns mit nicht viel mehr als einer oberflächlichen Antwort.
Aber selbst wenn man ihnen die Pistole auf die Brust setzte, könnten die meisten Menschen wohl keine substantielle Antwort geben. Wie sieht es bei dir aus? Hast du dir die Zeit genommen, um dir darüber klar zu werden, wer du bist und wofür du stehst? Oder bist du zu sehr damit beschäftigt, unwichtigen Dingen hinterherzujagen und den falschen Vorbildern nachzueifern? Schlägst du etwa Pfade ein, die dich enttäuschen, nicht erfüllen oder überhaupt nicht existieren?
7. Januar - Sieben klare Funktionen des Verstandes
»Die wahre Arbeit des Verstandes besteht in der Ausführung von Entscheidung, Verweigerung, Sehnsucht, Abwehr, Vorbereitung, Zweckbestimmung und Zustimmung. Was kann dann noch die angemessene Funktion unseres Verstandes vergiften und verstopfen? Nichts außer seine eigenen korrupten Entscheidungen.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.11.6–7
Lasst uns diese Aufgaben jede für sich entschlüsseln:
- Entscheidung – richtig handeln und denken
- Verweigerung – von Verführung
- Sehnsucht – sich zu verbessern
- Abwehr – von Negativität, schlechten Einflüssen und Unwahrheiten
- Vorbereitung – auf das, was vor uns liegt oder was immer passieren kann
- Zweckbestimmung – unser Leitprinzip und unsere höchste Priorität
- Zustimmung – frei von Selbsttäuschung sein darüber, was innerhalb und außerhalb unserer Macht steht (und bereit zu sein, Letzteres zu akzeptieren)
Dafür sollten wir unseren Verstand einsetzen. Wir müssen sicherstellen, dass er dazu bereit ist – und alles andere als Vergiftung oder Korruption betrachten.
8. Januar - Unsere Abhängigkeiten erkennen
»Wir müssen viele Dinge aufgeben, von denen wir abhängig sind und die wir als gut erachten. Andernfalls wird der Mut schwinden, der sich andauernd bewähren muss. Die Einzigartigkeit der Seele wird verloren gehen, denn sie kann sich nur abgrenzen, wenn sie das als nichtig abtut, was das Volk am meisten begehrt.«
Seneca, Moralische Briefe, 74.12b–13
Was wir als harmlose Schwäche betrachten, kann leicht zu einer ausgeprägten Abhängigkeit werden. Wir beginnen den Morgen mit einem Kaffee, und schon bald können wir nicht mehr ohne ihn in den Tag starten. Wir checken unsere E-Mails, weil es zu unserem Job gehört, und schon bald fühlen wir das Phantomklingeln unseres Handys in der Hosentasche. Schneller als wir denken, bestimmen diese harmlosen Angewohnheiten unser Leben.
Diese kleinen Triebe und Zwänge nagen nicht nur an unserer Freiheit und Souveränität, sie vernebeln unsere klaren Gedanken. Wir denken, wir hätten alles unter Kontrolle – aber haben wir das wirklich? Ein Abhängiger hat es einmal so beschrieben: Abhängigkeit ist »der Verlust der Freiheit, verzichten zu können«. Lasst uns diese Freiheit zurückerobern.
Was deine Abhängigkeit ist, kann ganz unterschiedlich sein: Limonade? Drogen? Meckerei? Klatsch? Das Internet? Fingernägelkauen? Aber du musst die Fähigkeit zurückgewinnen, darauf zu verzichten, denn das ist der Schlüssel zu Klarheit und Selbstbeherrschung.
9. Januar - Was in unserer Macht steht und was nicht
»Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere nicht. Wir beherrschen unser Denken, unsere Entscheidungen, unsere Wünsche und Abneigungen, kurzum, alles, was sich aus uns selbst heraus entwickelt. Wir beherrschen nicht unsere Körper, unseren Besitz, unser Ansehen und unsere Stellung, kurzum, alles, was sich nicht aus uns entwickelt. Die Dinge, die wir beherrschen, sind sogar von Natur aus frei, ohne Hindernisse und Beschränkungen, während jene Dinge, die wir nicht beherrschen, anfällig, abhängig und beschränkt sein können, und sie sind nicht unser eigen.«
Epiktet, Enchiridion, 1.1–2
Auf die Ereignisse, die heute von außen auf dich zukommen, hast du keinen Einfluss. Ist das beängstigend? Ein wenig, aber das gleicht sich aus, sobald wir erkennen, dass es an uns liegt, welche Meinung wir über solche Ereignisse haben. Du entscheidest, ob sie gut oder schlecht sind, ob sie gerecht oder ungerecht sind. Du beherrschst die Situation nicht, aber es steht in deiner Macht, wie du darüber denkst.
Siehst du, wie das funktioniert? Jede einzelne Sache, die außerhalb deiner Macht steht – die Außenwelt, andere Menschen, Glück, Karma, was auch immer – hat eine zweite Interpretationsebene, über die du selbst bestimmst. Das allein gibt uns Gestaltungsspielraum und Macht.
Das Beste: Wenn wir verstehen, was in unserer Macht steht, gewinnen wir eine klare Erkenntnis über die Welt. Alles, was wir haben, ist unser Verstand. Rufe dir das heute in Erinnerung, wenn du versuchst, deine Fühler nach außen zu strecken – dass es besser und angemessener ist, sie nach innen zu richten.
10. Januar - Wenn Du nach Beständigkeit suchst
»Die Essenz des Guten ist eine bestimmte Form der bewussten Entscheidung, so wie die Essenz des Bösen eine andere Form ist. Welche Rolle spielen dann die äußeren Umstände? Sie sind bloß das Rohmaterial für unsere bewusste Entscheidung, erst im Zusammenspiel mit ihnen entwickelt sich das Gute oder Böse. Wie finden wir das Gute? Doch nicht, indem wir staunend das Rohmaterial betrachten. Denn wenn unsere Urteile über das Material geradlinig sind, dann treffen wir gute Entscheidungen, aber wenn diese Urteile verworren sind, dann fällen wir schlechte Entscheidungen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 1.29.1–3
Die Stoiker strebten nach Beständigkeit, Stabilität und Gelassenheit – Eigenschaften, die auch wir oftmals anstreben, auch wenn unsere Erfahrungen nur flüchtig zu sein scheinen. Wie haben die Stoiker dieses hehre Ziel erreicht? Wie verkörpert man eustatheia (dieses Wort benutzte Arrian, um diese Lektion des Epiktet zu beschreiben)?
Nun, das ist keine Sache des Glücks. Es bedeutet nicht, dass wir Einflüsse von außen meiden oder uns in Stille und Abgeschiedenheit flüchten. Stattdessen bedeutet es, dass wir die Außenwelt mit der Richtschnur unseres “Urteilsvermögens sondieren. Das ist es, was unser Verstand vermag: Er kann den verworrenen, verwirrenden und uns überwältigenden äußeren Einflüssen Ordnung geben. Doch wenn unsere Urteile verworren sind, weil wir unseren Verstand nicht einsetzen, dann wird alles, was folgt, ebenfalls verworren sein und wir sind nicht mehr fähig, inmitten des unüberschaubaren Alltagstrubels unsere innere Ruhe zu finden. Wenn du Beständigkeit suchst, wenn du Klarheit anstrebst, dann ist ein gutes Urteilsvermögen der beste Weg.
11. Januar - Wenn Du nach Unbeständigkeit suchst
»Denn wenn jemand darauf bedacht ist, bewusste Entscheidungen zu fällen, und die Konsequenzen bedenkt, dann gewinnt er gleichsam an Willenskraft, anderes zu vermeiden. Doch wenn er sich mit Bedacht von der bewussten Entscheidung abwendet und sich Dingen zuwendet, die nicht in seiner Macht stehen, mit dem Wunsch, das zu vermeiden, was andere beeinflussen, dann wird er nervös, ängstlich und unbeständig sein.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.1.12
Wenn wir an einen Zen-Philosophen denken, sehen wir vor unserem inneren Auge einen Mönch hoch oben in den grünen, abgeschiedenen Bergen oder in einem wunderschönen Tempel auf einer steinigen Klippe. Die Stoiker sind das genaue Gegenteil von dieser Vorstellung. Sie sind vielmehr der Mann auf dem Marktplatz, der Senator im Forum, die tapfere Gattin, die darauf wartet, dass ihr Soldat von der Schlacht heimkehrt, die Bildhauerin in ihrem Atelier. Dennoch ruht der Stoiker gleichermaßen ganz in sich.
Epiktet unterstreicht, dass deine innere Ruhe und Beständigkeit aus deinen Entscheidungen und Urteilen resultieren, nicht aus dem, was dich umgibt. Wenn du versuchst, alles zu vermeiden, was deine Gelassenheit stören könnte – andere Menschen, äußere Ereignisse, Stress – wirst du damit keinen Erfolg haben. Deine Probleme werden dich verfolgen, wo immer du gehst und stehst. Aber wenn du danach trachtest, jene schmerzlichen und zerstörerischen Urteile zu meiden, die diese Probleme verursacht haben, wirst du ruhig und gelassen sein, wo immer du dich gerade befindest.
12. Januar - Der gute Pfad zur Gelassenheit
»Greife diesen Gedanken auf, sobald der Tag anbricht, und denke Tag und Nacht daran: Es gibt nur einen Weg zum Glück, und der besteht darin, alles, worauf du keinen Einfluss hast, aufzugeben, darüber hinaus nichts als deinen Besitz zu betrachten, alles andere Gott und dem Schicksal zu überlassen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 4.4.39
Rufe dir am Morgen ins Gedächtnis, was in deiner Macht steht und was nicht. Denke daran, dich auf Ersteres und nicht auf Letzteres zu konzentrieren.
Erinnere dich am Mittag daran, dass das Einzige, was du wirklich besitzt, deine Fähigkeit ist, Entscheidungen zu treffen (und dabei deinen Verstand und dein Urteilsvermögen zu gebrauchen). Das ist das Einzige, was man dir nie nehmen kann.
Bedenke am Nachmittag, dass dein Schicksal, im Gegensatz zu den von dir getroffenen Entscheidungen, nicht vollkommen von dir abhängt. Die Welt dreht sich und wir drehen uns mit ihr – in welche Richtung auch immer, zum Guten oder Schlechten.
Am Abend erinnere dich noch einmal daran, wie viel außerhalb deiner Macht steht und wo deine Entscheidungen beginnen und enden.
Wenn du im Bett liegst, denke daran, dass Schlaf eine Form der Hingabe und des Vertrauens ist, und wie leicht er kommt. Und bereite dich vor, morgen den ganzen Zyklus von vorne zu beginnen.
13. Januar - Der Zirkel der Macht
»Wir beherrschen unsere bewussten Entscheidungen und alle Handlungen, die von dem moralischen Willen abhängen. Was wir nicht beherrschen, sind unsere Körper und all seine Einzelteile, unsere Besitztümer, Eltern, Geschwister, Kinder oder unser Land – alles, womit wir in Verbindung stehen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 1.22.10
Dies hier ist so wichtig, dass man es nicht oft genug wiederholen kann: Ein weiser Mensch weiß, was im Bereich seiner Macht liegt und was nicht.
Glücklicherweise ist es ziemlich einfach, sich daran zu erinnern, was in unserer Macht steht. Den Stoikern zufolge enthält der Zirkel der Macht nur eine einzige Sache: DEINEN VERSTAND. Genau, selbst unser Körper ist nicht innerhalb dieses Bereichs. Schließlich könntest du jederzeit von einer Krankheit oder physischen Beeinträchtigung heimgesucht werden. Du könntest durch ein fremdes Land reisen und ins Gefängnis geworfen werden.
Aber das sind gute Neuigkeiten, denn es verringert in drastischer Weise die Menge der Dinge, an die du denken musst. In der Einfachheit liegt die Klarheit. Während jeder mit einer ellenlangen Liste an Verantwortlichkeiten herumläuft – Dinge, für die man eigentlich nicht verantwortlich ist – hast du nur eine einzige Sache, um die du dich kümmern musst: deine Entscheidungen, deinen Willen, deinen Verstand.
Behalte das im Kopf.
14. Januar - Befreie Deinen Verstand
»Du musst begreifen, dass es etwas Kraftvolleres und Göttlicheres in dir gibt als das, was die körperlichen Leidenschaften erregt und dich wie eine Marionette bewegt. Welche Gedanken beherrschen deinen Geist? Doch nicht etwa Angst, Misstrauen, Begierde oder etwas dieser Art?«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 12.19
Denke an all jene, die dir an den Geldbeutel wollen oder um ein paar Sekunden deiner Aufmerksamkeit buhlen. Ernährungswissenschaftler entwickeln Produkte, die genau auf deine Geschmacksnerven abgestimmt sind. Ingenieure im Silicon Valley entwickeln Apps, die so süchtig machen wie Glücksspiele. Die Medien präsentieren Sensationsgeschichten, die in uns Wut und Entsetzen hervorrufen.
Dies ist nur ein kleiner Teil der Verführungen und Kräfte, die an uns zerren – uns ablenken und von den Dingen abbringen, die wahrhaft von Bedeutung sind. Marc Aurel war dankbarerweise diesen Extremen unserer modernen Gesellschaft nicht ausgeliefert. Aber er kannte eine Menge verführerischer Fallstricke: Klatsch, nicht enden wollende Arbeit, aber auch Angst, Misstrauen und Begierde. Jedes menschliche Wesen ist diesen inneren und äußeren Mächten ausgesetzt; sie werden zunehmend mächtiger und es wird immer schwerer, ihnen zu widerstehen.
Die Philosophie fordert uns auf, achtsam zu sein und danach zu streben, mehr als nur eine Schachfigur zu sein. So formulierte es Viktor Frankl in seinem Buch Der Wille zum Sinn: »Der Mensch ist hin- und hergerissen zwischen Tatendrang und Werten.« Diese Werte und innere Achtsamkeit schützen uns davor, Marionetten zu sein. Sicherlich erfordert es Arbeit, stets aufmerksam zu sein, aber ist das nicht besser, als an einer Strippe zu hängen?
15. Januar - Friede bedeutet, seinen Weg zu finden
»Gelassenheit können nur jene erreichen, die ein unerschütterliches und klares Urteilsvermögen haben – der Rest hadert ständig mit seinen Entscheidungen, schwankt hin und her zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Woher kommt dieses Für und Wider? Es rührt daher, dass nichts klar ist und sie sich auf den unsichersten Ratgeber verlassen: die öffentliche Meinung.«
Seneca, Moralische Briefe, 95.57b–58a
Seneca benutzt in seiner Abhandlung über die Gelassenheit das griechische Wort euthymia, das er folgendermaßen definiert: »An dich selbst zu glauben und zu vertrauen, dass du auf dem richtigen Weg bist; dich nicht abbringen zu lassen, indem du den unzähligen Fußpfaden derer folgst, die in alle möglichen Richtungen aufbrechen.« Es ist diese Gemütsverfassung, die laut Seneca Gelassenheit hervorruft.
Wir können nur an uns glauben, wenn wir den Weg klar vor Augen haben. Das soll nicht bedeuten, dass wir uns bei allem immer hundertprozentig sicher sind oder dies sein sollten. Wir brauchen lediglich die Zuversicht, dass wir uns grundsätzlich in die richtige Richtung bewegen – dass wir uns nicht ständig mit anderen Leuten vergleichen müssen oder alle paar Sekunden unsere Meinung ändern, je nachdem, ob wir etwas Neues erfahren.
Stattdessen finden wir Gelassenheit und Frieden, wenn wir unseren Weg erkennen und ihm treu bleiben, auch wenn hier und da kleine Korrekturen nötig sind – aber wir sollten die verführerischen Sirenen ignorieren, die uns zu den Klippen locken.
16. Januar - Tue nie etwas aus Gewohnheit
»So wenden wir uns neuen Lebenslagen meist nicht in Einklang mit den richtigen Annahmen zu, sondern folgen dabei eher unliebsamen Gewohnheiten. Wenn dies der Fall ist, muss der Lehrling versuchen, darüber hinauszuwachsen, um nicht bloß nach Vergnügungen zu suchen oder sich vom Schmerz abzulenken; er muss aufhören, sich ans Leben zu klammern und den Tod zu verabscheuen; und, was Besitz und Geld betrifft, darf er das Nehmen nicht höher wertschätzen als das Geben.«
Musonius Rufus, Lehrgespräche, 6.25.5–11
Ein Arbeiter wird gefragt: »Warum machst du das so?« Und er antwortet: »Weil ich es schon immer so gemacht habe.« Diese Antwort frustriert jeden guten Vorgesetzten und lässt jeden Unternehmer aufhorchen, denn der Arbeiter hat aufgehört, mitzudenken und handelt ohne Verstand, nur aus Gewohnheit. Dieser Betrieb wird wohl bald von einem Mitbewerber zerstört werden, und der Arbeiter wird von einem vorausschauenden Chef wahrscheinlich gefeuert.
Mit der gleichen Konsequenz sollten wir bei unseren eigenen Gewohnheiten vorgehen. Tatsächlich beschäftigen wir uns genau deswegen mit Philosophie, um unser angelerntes Verhalten abzulegen. Finde heraus, was du aus Routine tust oder weil du es auswendig gelernt hast. Frage dich: Ist das wirklich der beste Weg, dies zu tun? Verstehe, warum du tust, was du tust – mache es aus den richtigen Gründen.
17. Januar - Wage den Neuanfang
»Ich bin dein Lehrer und du lernst in meiner Schule. Mein Ziel ist es, dass du die Vollendung erlangst, ohne Bürden, frei von zwanghaftem Verhalten, ohne Scham, befreit, aufblühend und glücklich, in kleinen und großen Dingen zu Gott aufschauend – dein Ziel ist es, all diese Dinge zu lernen und zu praktizieren. Warum vollendest du die Arbeit nicht, wenn du doch das richtige Ziel hast und ich sowohl das richtige Ziel als auch die richtige Vorbereitung habe? Was fehlt? ... Die Arbeit ist gut ausführbar und das Einzige, das in unserer Macht steht ... Lass die Vergangenheit hinter dir. Wir müssen nur beginnen. Glaube mir und du wirst sehen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.19.29–34
Erinnerst du dich daran, dass du in der Schule oder früher in deinem Leben Angst vor etwas hattest, weil du befürchtetest, dabei zu versagen? Die meisten Teenager albern lieber herum als sich anzustrengen. Halbherzig und bequemlich zu handeln gibt ihnen eine vorgefertigte Entschuldigung: »Spielt doch keine Rolle. Ich habe mir noch nicht einmal Mühe gegeben.«
Wenn wir älter werden, ist das Scheitern nicht mehr ohne Konsequenzen. Was auf dem Spiel steht, ist nicht irgendein Zeugnis oder eine Sporttrophäe an der Uni, sondern deine Lebensqualität und deine Fähigkeit, mit der Welt um dich herum klarzukommen.
Doch davon solltest du dich nicht einschüchtern lassen. Du hast die besten Lehrer der Welt: die weisesten Philosophen, die jemals gelebt haben. Und du bist nicht nur fähig dazu, dein Lehrer gibt dir eine sehr einfache Aufgabe: Fang an zu arbeiten! Der Rest folgt von allein.
18. Januar - Betrachte die Welt wie ein Dichter und Künstler
»Durchlaufe diese kurze Zeitspanne in Einklang mit der Natur, und erreiche deine letzte Ruhestätte in Würde, so wie die reife Olive, die vom Baum fällt und die Erde preist, die sie ernährt hat, und dem Baum dankbar ist, der sie wachsen ließ.«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 4.48.2
In den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel gibt es überwältigend schöne Redewendungen – ein überraschendes Vergnügen, wenn man sein Publikum (er selbst) in Betracht zieht. In einem Abschnitt preist er den »Charme und Reiz« der Vorgänge in der Natur, die »Halme des reifen Korns, die sich nach unten biegen, die Falten werfende Braue des Löwen, der Schaum, der aus dem Maul eines Wildschweins tropft«. Dem Privatlehrer für Rhetorik, Marcus Cornelius Fronto, haben wir die Bildhaftigkeit dieser lebendigen Passagen zu verdanken. Fronto, der weithin als bester Redner neben Cicero galt, war von Marcs Adoptivvater ausgewählt worden, um ihn im Denken, Lesen und Schreiben zu unterrichten.
Mehr als nur schöne Redewendungen, vermittelte der Unterricht Marc – und nun uns – eine beeindruckende Betrachtungsweise einfacher und scheinbar bedeutungsloser Phänomene. Man muss den Blick eines Künstlers haben, um zu erkennen, dass das Ende des Lebens vergleichbar ist mit einer reifen Frucht, die vom Baum fällt. Nur eine Dichterseele bemerkt die Art und Weise, wie »gebackenes Brot an einigen Stellen bricht und diese Risse, auch wenn sie nicht zur Backkunst gehören, unseren Blick gefangen nehmen und unseren Appetit anregen«, und findet darin eine Metapher.
Es drückt sich eine Klarheit (und eine Freude) darin aus, etwas zu erkennen, was andere nicht wahrnehmen, Anmut und Harmonie an Stellen zu finden, die andere übersehen. Ist das nicht viel besser, als die Welt als einen düsteren Ort zu betrachten?
19. Januar - Wo Du auch hingehst, die Entscheidung liegt bei Dir
»Ein Podium und ein Gefängnis sind jeder ein Ort für sich, der eine liegt oben, der andere unten. Aber an beiden Orten wirst du die Entscheidungsfreiheit behalten, wenn du es wünschst.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.6.25
Die Stoiker stammten aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten innerhalb Roms strenger Hierarchie. Einige waren reich, andere kamen aus einfachsten Verhältnissen. Einige hatten es leicht, andere hingegen unvorstellbar schwer. Das gilt auch für uns – wir alle sind mit den unterschiedlichsten Vorgeschichten auf diese Philosophie gestoßen und haben in unserem Leben individuell glückliche Phasen und Pechsträhnen erfahren.
Aber unter allen Umständen – in der Not wie in der Überlegenheit – gibt es nur eine Sache, die wir tun müssen: uns auf das zu konzentrieren, was wirklich in unserer Macht steht. Im Moment mögen wir abgekämpft am Boden liegen, während wir vor einigen Jahren in Saus und Braus gelebt haben, und in nur ein paar Tagen haben wir vielleicht so viel Erfolg, dass es uns zu viel wird. Eine Sache bleibt unabänderlich: unsere Entscheidungsfreiheit – sowohl im kleinen als auch im großen Rahmen.
Das ist im Grunde genommen Erkenntnis. Wer wir auch sind, wo wir auch stehen – was zählt, sind unsere Entscheidungen. Worin bestehen sie? Wie werden wir sie bewerten? Wie nutzen wir sie bestmöglich? Das sind die Fragen, die das Leben uns stellt, ganz gleich, welche Position wir bekleiden. Wie wird deine Antwort lauten?
20. Januar - Entflamme Deine Gedanken von Neuem
»Deine Prinzipien können nicht getilgt werden, es sei denn, du löschst alle Gedanken aus, von denen sie zehren. Es liegt immer in deiner Macht, neue zu entflammen ... Es ist möglich, ein neues Leben zu beginnen! Betrachte die Dinge so, wie du sie einst betrachtet hast – so beginnt man das Leben neu!«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7.2
Hast du in den letzten Wochen viel durchmachen müssen? Bist du von deinen Prinzipien und Überzeugungen abgewichen, die dir so viel bedeuten? Das ist absolut in Ordnung. Das passiert uns allen.
Wahrscheinlich ist genau das auch Marc Aurel passiert, vielleicht hat er sich deswegen diese Notiz gemacht. Möglicherweise hatte er Probleme mit opponierenden Senatoren oder seinem verstörten Sohn. In diesen denkbaren Szenarios hat er womöglich seine Beherrschung verloren, ist depressiv geworden oder hat aufgehört, sich zu hinterfragen. Wer würde nicht so reagieren?
Aber hier soll daran erinnert werden, dass, ganz gleich, was passiert, ganz gleich, wie ernüchternd unser Verhalten in der Vergangenheit war, die Prinzipien selbst unverändert bleiben. Wir können sie in jedem Moment wieder aufgreifen und uns zu eigen machen. Was gestern geschah – was vor fünf Minuten geschah – gehört der Vergangenheit an. Wir können uns wieder neu entflammen und neu anfangen, wann immer wir es wollen.
Warum nicht jetzt gleich?
21. Januar - Ein morgendliches Ritual
»Stelle dir als erstes am Morgen folgende Fragen:
Was fehlt mir, um mich von Leidenschaft zu befreien?
Wie steht es um meine Gelassenheit?
Was bin ich? Ein reiner Körper, ein Besitzender, ein guter Ruf? Nichts davon.
Was dann? Ein vernunftgesteuertes Wesen.
Was wird dann von mir verlangt? Bedenke deine Handlungen.
Wie konnte ich aus der Ruhe gebracht werden?
Was habe ich getan, was unfreundlich, unsozial oder unaufmerksam war?
Was habe ich bei all diesen Dingen unterlassen?«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.6.34–35
Viele erfolgreiche Menschen haben ein morgendliches Ritual. Für einige ist es die Meditation. Für andere sind es Sportübungen. Manche führen ein Tagebuch – nur ein paar Seiten, in denen sie ihre Gedanken, Ängste und Hoffnungen niederschreiben. In diesen Beispielen geht es nicht um die Handlung an sich, sondern um die ritualisierte Reflexion. Die Idee dabei ist, nach innen zu schauen und sich genau zu betrachten.
Sich diese Zeit zu nehmen, ist das, wofür Stoiker eintraten, mehr als alles andere. Wir wissen nicht, ob Marc Aurel seine Selbstbetrachtungen am Morgen oder in der Nacht notierte, aber wir wissen, dass er sich Zeit für sich allein nahm – und dass er für sich selbst schrieb und für niemand anderen. Wenn du danach trachtest, dein eigenes Ritual zu starten, wären Marc Aurels Beispiel oder Epiktets Checkliste wahrlich nicht die schlechteste Wahl.
Stelle dir jeden Tag dieselben kniffligen Fragen. Fang noch heute an. Lass dich von der Philosophie und harter Arbeit zu besseren Antworten leiten, jeden Morgen aufs Neue, ein ganzes Leben lang.
22. Januar - Der Tag im Rückblick
»Ich will mich ständig unter Beobachtung halten und – was am sinnvollsten ist – jeden Tag reflektieren. Denn was uns schlecht macht, ist, dass niemand von uns auf unser Leben zurückschaut. Wir beschäftigen uns nur mit dem, was wir gerade vorhaben. Und dabei stammen doch unsere Pläne für die Zukunft aus der Vergangenheit.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 83.2
In einem Brief an seinen älteren Bruder Novatus beschrieb Seneca eine vorteilhafte Übung, die er sich bei einem anderen berühmten Philosophen abgeschaut hatte. Am Ende eines jeden Tages stellte er sich in steter Abwandlung folgende Fragen: Welche schlechte Angewohnheit habe ich heute im Zaum gehalten? Fühle ich mich jetzt besser? Waren meine Handlungen gerecht? Wie kann ich mich verbessern?
Zu Beginn oder am Ende jeden Tages setzt sich der Stoiker mit seinem Tagebuch hin und blickt auf das zurück, was er getan und gedacht hat, und was er verbessern könnte. Aus diesem Grund sind Marc Aurels Selbstbetrachtungen in gewisser Weise ein unergründliches Buch – es galt der persönlichen Einsicht, nicht dem öffentlichen Nutzen. Stoische Schreibübungen waren und sind auch eine Form, diese Philosophie zu praktizieren, genauso wie es ein wiederholtes Gebet oder ein Mantra ist.
Führe dein eigenes Tagebuch, ob auf dem Computer oder in einem kleinen Notizheft. Nimm dir Zeit, dir bewusst die Ereignisse des Tages in Erinnerung zu rufen. Sei unnachgiebig in deinen Beurteilungen. Notiere, was zu deiner Zufriedenheit beigetragen und was sie beeinträchtigt hat. Schreibe auf, woran du noch arbeiten möchtest, und notiere Zitate, die dir gefallen. Indem du dir die Mühe machst, solche Gedanken aufzuzeichnen, wirst du sie nicht so schnell vergessen. Ein zusätzlicher Bonus: Du kannst dich stets vergleichen und deine Fortschritte dokumentieren.
23. Januar - Die Wahrheit über Reichtum
»Lasst uns nun die ganz Reichen betrachten. Wie oft geschieht es, dass sie genauso ausschauen wie die Armen! Wenn sie weit reisen, müssen sie ihr Gepäck einschränken. Wenn Eile geboten ist, müssen sie auf ihre Entourage verzichten. Und diejenigen, die in der Armee sind, können kaum etwas von ihrem Besitz bei sich haben ...«
-- Seneca, Trostschrift an seine Mutter Helvia, 12.1.b–2
Der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald, der häufig den Lebensstil der Reichen und Berühmten in Büchern wie The Great Gatsby glorifizierte, begann eine seiner Kurzgeschichten mit diesen inzwischen klassischen Zeilen: »Lass dir von den Steinreichen erzählen. Sie sind nicht wie du und ich.« Ein paar Jahre nachdem diese Geschichte veröffentlicht worden war, ärgerte Ernest Hemingway seinen Freund Fitzgerald, als er schrieb: »Ja, sie haben mehr Geld.«
Daran wollte uns auch Seneca erinnern. Als jemand, der zu den reichsten Männern Roms zählte, wusste er aus erster Hand, dass Geld nur oberflächlich das Leben verändert. Es löst die Probleme nicht, auch wenn Menschen ohne Geld meinen, dass sich mit Geld Probleme lösen ließen. Tatsächlich hängt das nicht vom materiellen Besitz ab. Äußere Dinge können keine inneren Konflikte lösen.
Wir vergessen das ständig – und es verursacht so viele Irritationen und Schmerzen. So schrieb Hemingway später über Fitzgerald: »Er dachte [die Reichen] wären eine besonders glamouröse Spezies, und als er herausfand, dass sie das nicht waren, war er genauso am Boden zerstört wie bei jeder anderen Sache, die ihn zerstört hat.« Wenn wir nichts ändern, gilt dasselbe für uns.
24. Januar - Bemühe Dich um tiefe Einsicht
»Von Rusticus ... lernte ich, sorgfältig zu lesen und mich nicht damit zufriedenzugeben, etwas nur oberflächlich zu verstehen, und den Schwätzern nicht vorschnell zuzustimmen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 1.7.3
Das erste Buch von Marc Aurels Selbstbetrachtungen beginnt mit einer Reihe von Danksagungen. Nach und nach bedankt er sich bei jedem, der ihn in seinem Leben beeinflusst hat. Darunter befindet sich Quintus Iunius Rusticus, ein Lehrer, der in seinem Schüler die Liebe zu großer Klarheit und tiefer Einsicht weckte – den Wunsch, nicht nur an der Oberfläche zu bleiben, wenn es ums Lernen ging.
Durch Rusticus lernte Marc Aurel auch Epiktet kennen. Denn Rusticus lieh ihm sein persönliches Exemplar von Epiktets Vorträgen. Marc Aurel gab sich offensichtlich nicht damit zufrieden, nur das Wesentliche dieser Vorträge mitzubekommen und schlicht die Vorschläge seines Lehrers zu befolgen. Paul Johnson machte einmal den Witz, dass der Autor Edmund Wilson Bücher lese, »als kämpfe er vor Gericht um sein Leben«. Marc Aurel las Epiktet genauso – und genügten die Lektionen seinen Anforderungen, dann sog er sie förmlich in sich auf. Sie wurden Teil seiner DNA. Sein Leben lang zitierte er sie ausführlich, fand Klarheit und wahre Stärke in Worten, selbst angesichts des großen Luxus und der unbegrenzten Macht, die er später besitzen sollte.
Das ist die Art des vertieften Lesens und Studierens, die wir ebenfalls kultivieren sollten, weshalb wir pro Tag nur eine Seite lesen anstatt eines ganzen Kapitels. So können wir uns Zeit nehmen, aufmerksam zu lesen und uns darin zu vertiefen.
25. Januar - Der wahre Lohn
»Was ist noch lohnenswert? Ich glaube, dies: Unser Handeln und Nicht-Handeln einzig auf das zu reduzieren, was wir für unsere eigene Vorbereitung benötigen ... Darauf laufen alle Anstrengungen in der Erziehung und im Unterricht hinaus – das ist wirklich lohnenswert! Wenn du daran festhältst, wirst du aufhören, nach all den anderen Dingen zu streben ... Anderenfalls wirst du nicht frei, unabhängig und bar jeder Leidenschaft sein, sondern zwangsläufig neidisch, eifersüchtig und misstrauisch gegenüber jenen, die in der Lage sind, dir diese Dinge wegzunehmen, und du wirst dich gegen jene verschwören, die das besitzen, was du als erstrebenswert empfindest ... Aber Selbstachtung und die eigene Wertschätzung werden dazu führen, dass du mit dir zufrieden bist, mit deinen Mitmenschen besser auskommst und mit den Göttern stärker im Einklang bist – und alles preisen wirst, was sie für dich vorgesehen und dir auferlegt haben.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.16.2b–4a
Warren Buffett, dessen Vermögen schätzungsweise 65 Milliarden Dollar beträgt, lebt immer noch in dem Haus, das er 1958 für 31 500 Dollar gekauft hat. John Urschel, ein American-Football-Spieler der Baltimore Ravens, verdient Millionen, gibt aber nur 25 000 Dollar im Jahr aus. Kawhi Leonard, Basketball-Star der San Antonio Spurs, fährt seit seiner Jugend noch immer einen 1997er Chevy Tahoe, obwohl sich sein Vertrag auf gut 94 Millionen Dollar beläuft. Warum? Das liegt nicht daran, dass diese Männer geizig sind, sondern dass die Dinge, die ihnen etwas bedeuten, nicht so viel kosten.
Weder bei Buffett noch bei Urschel oder Leonard ist dies ein Zufall. Ihr Lebensstil ist eine Sache der Priorität. Sie pflegen Interessen, die entschieden unter ihren finanziellen Möglichkeiten bleiben, und daher würde jedes Einkommen ihnen die Freiheit geben, den Dingen nachzugehen, die sie am meisten schätzen. Dass sie jenseits der Erwartungen reich geworden sind, ist nun mal so geschehen. Diese Art der Einsicht – zu wissen, was sie am meisten auf dieser Welt lieben – bedeutet, dass sie ihr Leben genießen können. Es bedeutet, dass sie noch immer glücklich wären, wenn der Markt zusammenbrechen oder ihre Karriere aus anderen Gründen ein jähes Ende finden würde.
Je mehr Dinge wir uns wünschen und je mehr wir tun müssen, um diese zu verdienen oder zu erreichen, desto weniger genießen wir tatsächlich unser Leben – und desto unfreier sind wir.
26. Januar - Die Kraft eines Mantras
»Lösche die falschen Vorstellungen aus deinem Geist, indem du dir stets selbst versicherst: Ich habe die Seelenkraft, alles Böse, alle Begierden und jegliche Beunruhigung von mir fernzuhalten – stattdessen erkenne ich die wahre Natur der Dinge und ich gestehe ihnen nur das zu, was sie verdienen. Denke immer an diese Kraft, die die Natur dir gegeben hat.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.29
Wer schon einmal an einem Yoga-Kurs teilgenommen hat oder sich mit der Gedankenwelt der Hindus oder Buddhisten beschäftigt hat, wird wahrscheinlich von dem Konzept eines Mantras gehört haben. In Sanskrit bedeutet es »heilige Äußerung« – im Grunde ein Wort, ein Ausdruck, ein Gedanke, sogar ein Klang, mit dem beabsichtigt wird, Einsicht zu erlangen und spirituelle Anleitung zu finden. Ein Mantra kann besonders beim Meditieren hilfreich sein, weil es uns ermöglicht, alles auszublenden, während wir uns konzentrieren.
Daher passt es, dass Marc Aurel dieses stoische Mantra empfahl – eine Orientierungshilfe oder Redewendung, die wir ergreifen, wenn wir spüren, dass falsche Eindrücke, Ablenkungen oder das tägliche Leben auf uns einstürzen. Im Wesentlichen besagt es: »Ich habe die Kraft in mir, das alles fernzuhalten. Ich kann die Wahrheit erkennen.«
Ändere den Wortlaut, wie es dir gefällt. Das ist ganz dir überlassen. Aber mache dir ein Mantra zu eigen und setze es ein, um die von dir ersehnte innere Klarheit zu finden.
27. Januar - Die drei Bereiche der Ausbildung
»Es gibt drei Bereiche, in denen ein Mensch, der gut und weise sein will, ausgebildet werden muss. Der erste Bereich betrifft die Begierden und Abneigungen: Unsere Begierden dürfen uns nicht dazu treiben, Grenzen zu überschreiten, und unsere Abneigungen dürfen uns nicht in die Tiefe ziehen. Der zweite Bereich betrifft unsere Impulse, zu handeln oder es zu unterlassen – und im allgemeineren Sinne unsere Pflichten: Ein Mensch soll absichtsvoll handeln, aus gutem Grund, nicht unüberlegt. Der dritte Bereich befasst sich damit, frei von Trugschlüssen zu sein, er beinhaltet eine gewisse Gefasstheit und generell das Urteilsvermögen, die Bestätigung, die unser Verstand den Wahrnehmungen gewährt. Von all diesen Bereichen ist der wichtigste und dringlichste der erste, derjenige, der die Leidenschaften reguliert, denn wir entwickeln nur dann starke Gefühle, wenn wir hinsichtlich unserer Begierden und Abneigungen scheitern.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.2.1–3a
Heute wollen wir uns auf die drei Bereiche der Ausbildung konzentrieren, die Epiktet uns dargelegt hat.
Zuerst müssen wir uns überlegen, was uns wünschenswert erscheint und wogegen wir abgeneigt sind. Warum? Damit wir nach dem Guten streben und das Üble vermeiden. Es genügt nicht, nur auf den eigenen Körper zu hören, weil das, wozu wir uns hingezogen fühlen, uns auch in die Irre leiten kann.
Als nächstes müssen wir unsere Handlungsimpulse unter die Lupe nehmen, also unsere Motivation. Handeln wir aus den richtigen Gründen? Oder handeln wir, weil wir nicht nachgedacht haben? Oder glauben wir, dass wir etwas tun müssen?
Abschließend geht es um unser Urteilsvermögen. Unsere Fähigkeit, Dinge klar und deutlich einzuschätzen, verdanken wir dem größten Geschenk der Natur: der Vernunft.
Obwohl dies in der Ausbildung drei eigenständige Bereiche sind, sind sie in der Praxis untrennbar miteinander verbunden. Unser Urteilsvermögen beeinflusst unsere Wünsche, unsere Wünsche beeinflussen die Art unseres Handelns, so wie unser Urteilsvermögen wiederum unsere Handlungen bestimmt. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass dies selbstverständlich geschieht. Wir müssen über jeden Bereich unseres Lebens gründlich nachdenken und uns anstrengen. Erst wenn wir das tun, gelangen wir zu wahrer Einsicht und haben Erfolg.
28. Januar - Beobachte die Klugen
»Schaue dir genau die Leitprinzipien kluger Menschen an, was sie vermeiden und wonach sie streben.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 4.38
Seneca hat einmal gesagt: »Ohne ein Lineal kann man das Krumme nicht gerade ziehen.« Das ist die Rolle kluger Menschen in unserem Leben: als Vorbild und Inspiration zu dienen. Unsere Vorstellungen zu reflektieren und unsere Annahmen auf den Prüfstand zu stellen.
Wer dieser Mensch sein könnte, liegt ganz in deiner Hand. Vielleicht ist es dein Vater oder deine Mutter. Vielleicht ein Philosoph oder Schriftsteller oder Denker. Vielleicht ist es auch Jesus Christus.
Aber suche dir irgendein Vorbild, beobachte genau, was es tut (und was es unterlässt) – und bemühe dich, es ihm gleichzutun.
29. Januar - Einfacher ist oft besser
»Sei stets standhaft bei allen Aufgaben, als Römer wie als Mensch. Handele schlicht und einfach in Würde, Freundlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit und halte alle anderen Gedanken von dir fern. Dies wird dir gelingen, wenn du jede Aufgabe so angehst, als sei sie deine letzte, wenn du dich jeder Ablenkung verschließt, jeder emotionalen Einflussnahme deines Verstandes, jeden Dramas, jeder Eitelkeit, jeder Beschwerde über deinen gerechten Anteil. Du wirst sehen, wie es dir möglich wird, ein ergiebiges und frommes Leben zu führen, wenn du nur einige wenige Dinge beherrschst – denn wenn du diese Dinge im Blick behältst, werden die Götter nichts mehr von dir fordern.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 2.5
Jeder Tag bietet die Gelegenheit, über Dinge nachzudenken. Was soll ich anziehen? Werde ich gemocht? Ernähre ich mich gesund genug? Was steht als nächstes in meinem Leben an? Ist mein Vorgesetzter mit meiner Arbeit zufrieden?
Heute wollen wir uns auf das konzentrieren, was direkt vor uns liegt. Wir folgen dem Diktum, das der Trainer der New England Patriots, Bill Belichick, an seine Spieler ausgibt: »Macht euren Job.« Wie ein Römer, wie ein guter Soldat, wie ein Meister unseres Fachs. Wir dürfen uns nicht von tausend anderen Dingen oder den Angelegenheiten anderer Leute ablenken lassen.
Marc Aurel fordert, an jede Aufgabe heranzugehen, als wäre sie die letzte, denn so könnte es wahrlich sein. Und selbst wenn es nicht die letzte ist, hilft es auch nicht weiter, das vor uns Liegende zu vermasseln. Finde Klarheit in der einfachen Aufgabe, heute deine Sache gut zu machen.
30. Januar - Du musst nicht immer die Nase vorn haben
»Wenn du dich verbessern willst, sei damit zufrieden, ahnungslos oder dumm zu wirken, wenn es um irrelevante Dinge geht – tue nicht so, als wärst du besonders gescheit. Und wenn dich jemand wichtig findet, misstraue dir selbst.«
-- Epiktet, Enchiridion, 13a
In einer Welt der Massenmedien, in der wir rund um die Uhr total vernetzt sind, braucht es gehörige Courage, um zu sagen: »Ich weiß nichts davon.« Oder noch provokanter: »Es interessiert mich nicht.« In großen Teilen der Gesellschaft wird vorausgesetzt, dass man über jedes nennenswerte Ereignis Bescheid weiß, jede Episode einer von der Kritik gefeierten Fernsehserie gesehen hat, die Nachrichten ehrfürchtig verfolgt und sich anderen gegenüber als gut informiertes und weltgewandtes Individuum präsentiert.
Aber wo ist der Beweis, dass das tatsächlich notwendig ist? Wird diese Verpflichtung von offizieller Seite erzwungen? Oder hast du etwa Angst, dich auf der nächsten Party zu blamieren? Selbstredend schuldest du es deinem Land und deiner Familie, generell über Ereignisse informiert zu sein, die dich direkt betreffen könnten, aber das ist es dann auch.
Wie viel mehr Zeit, Energie und reines Denkvermögen stünden dir zur Verfügung, wenn du deinen Medienkonsum drastisch einschränken würdest? Um wie viel erholter und wacher würdest du dich fühlen, wenn dich nicht länger jeder Skandal, jede Sensationsnachricht und jede potentielle Krise (von denen sich viele ohnehin in Nichts auflösen) in helle Aufregung versetzen würde?
31. Januar - Philosophie ist Medizin für die Seele
»Kehre nicht zur Philosophie zurück wie zu einem Schulmeister, sondern wie ein Patient, der für wunde Augen nach Linderung sucht, oder nach Umschlägen und Balsam bei einer Verbrennung. Wenn du es so betrachtest, gehorchst du der Vernunft, ohne sie zur Schau zu stellen, und weißt dich bei ihr in guten Händen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5.9
Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr wir arbeiten, lesen und lernen, desto mehr verlieren wir uns. Wir sind unserem System verhaftet, verdienen Geld, sind kreativ, inspiriert und haben stets etwas zu tun. Es scheint, als ob alles gut läuft. Aber wir entfernen uns weiter und weiter von der Philosophie.
Diese Form der Vernachlässigung wird letzten Endes zu einem Problem: Der Stress nimmt zu, unser Verstand trübt sich, wir vergessen, was wichtig ist – und am Ende führt das zu einer Art von Verletzung. Wenn das passiert, ist es wichtig, auf die Bremse zu treten, die Eigendynamik zu unterbrechen und uns aus dem Hier und Jetzt zu lösen. Stattdessen sollten wir uns wieder den Regeln und Praktiken zuwenden, von denen wir wissen, dass sie in Einsicht, gutem Urteilsvermögen, guten Leitprinzipien und bester Gesundheit wurzeln.
Stoizismus dient als Medizin für die Seele. Er lindert unsere Verletzlichkeit in der modernen Welt. Er gibt uns den Elan zurück, den wir brauchen, um im Leben aufzublühen. Fange am besten heute schon an und lass die Philosophie ihre heilende Wirkung entfalten.
Februar - Leidenschaften und Gefühle
1. Februar - Für den Hitzkopf
»Halte diesen Gedanken bereit, wenn du spürst, dass du kurz vor einem Wutanfall bist – es ist nicht männlich, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Stattdessen sind Sanftheit und zivilisiertes Verhalten viel menschlicher und deswegen auch männlicher. Ein wahrer Mann gibt dem Ärger und der Unzufriedenheit nicht nach, sondern er beweist Stärke, Mut und Ausdauer – ganz anders als diejenigen, die immer wütend sind und sich beschweren. Je mehr sich ein Mann einem ruhigen Geisteszustand annähern kann, desto eher kommt er auch wahrer Stärke nahe.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 11.18.5b
Warum beschimpfen Sportler sich gegenseitig? Warum sagen sie, sobald der Schiedsrichter gerade mal nicht hinsieht, beleidigende, verletzende Dinge zu ihren Gegnern? Um eine Reaktion zu provozieren. Den Gegner abzulenken und zu ärgern ist ein sehr einfacher Weg, um ihn von seinem Spiel abzubringen.
Denke daran, wenn du spürst, dass du dich zu ärgern beginnst. Ärger beeindruckt niemanden und man beweist damit auch keine Stärke – er ist einfach ein Fehler. Er ist eine Schwäche. Je nachdem, womit du dich gerade beschäftigst, könnte Ärger sogar eine Falle sein, die jemand anderes für dich ausgelegt hat.
Für Fans und Gegner war der Boxer Joe Louis auch als der »Ring-Roboter« bekannt, denn er war völlig emotionslos. Seine kühle, ruhige Art löste mehr Schrecken aus als jeder wilde Blick oder Wutausbruch es hätte tun können.
Stärke bedeutet, dass man fähig ist, sich selbst unter Kontrolle zu halten. Eine Person zeigt dann Stärke, wenn sie nie wütend wird, sich nie verunsichern lässt, sie ihre Gefühle unter Kontrolle hat und sich nicht umgekehrt von ihren Gefühlen leiten lässt.
2. Februar - Die richtige Geisteshaltung
»Richte deine Gedanken folgendermaßen aus: Du bist eine alte Person, du wirst dich nicht länger wie eine Marionette von jedem Gefühl leiten lassen, und du wirst aufhören, dich über dein gegenwärtiges Schicksal zu beschweren oder die Zukunft zu fürchten.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 2.2
Wir ärgern uns über den Menschen, der einfach daherkommt und versucht, uns herumzukommandieren. Sag mir nicht, wie ich mich kleiden soll, was ich denken soll, wie ich meinen Job machen soll, wie ich leben soll. Wir ärgern uns, weil wir unabhängige, eigenständige Menschen sind.
Zumindest denken wir das von uns.
Doch wenn jemand etwas sagt, über das wir eine andere Meinung haben, fühlen wir uns genötigt, das jetzt ausdiskutieren zu müssen. Wenn vor uns ein Teller mit Keksen steht, müssen wir sie essen. Wenn etwas Schlimmes passiert, müssen wir traurig sein, deprimiert und besorgt. Aber wenn uns ein paar Minuten später etwas Gutes widerfährt, dann sind wir urplötzlich glücklich, aufgeregt und kriegen nicht genug.
Niemals würden wir es einer anderen Person erlauben, uns so herumzukommandieren wie wir es unseren Impulsen erlauben. Es wird Zeit, dass wir das erkennen: Wir sind keine Marionetten, die mal so tanzen und mal so, je nachdem, wie wir uns gerade fühlen. Wir sollten die Kontrolle über uns selbst haben, nicht unsere Gefühle, denn wir sind unabhängig und eigenständig.
3. Februar - Die Quelle Deiner Ängste
»Wenn ich einen ängstlichen Menschen sehe, frage ich mich, was will diese Person? Denn wenn sie nicht etwas wollte, was außerhalb ihrer persönlichen Macht ist, warum sollte sie dann so ängstlich sein?«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.13.1
Der ängstliche Vater macht sich Sorgen um seine Kinder. Was will er? Eine Welt, die immer sicher ist. Die hektische Reisende, was will sie? Dass das Wetter gut bleibt und der Verkehr sich in Luft auflöst, damit sie ihren Flieger rechtzeitig erreicht. Der nervöse Investor? Dass der Markt sich verändert und seine Investitionen sich auszahlen.
Alle diese Szenarien haben eine Gemeinsamkeit. Wie Epiktet es bereits schilderte, geht es darum, etwas zu wollen, was außerhalb unserer Macht steht. Wenn man sich aufregt, sich stresst, nervös auf und ab läuft – dann sind dies intensive, peinigende und ungewisse Momente, die uns von unserer hilflosesten und unterwürfigsten Seite zeigen. Wir starren auf die Uhr, auf den Börsenticker, auf die Schlange vor dem Check-in-Schalter, wir starren in den Himmel. Es ist, als wären wir Teil einer Sekte, die davon überzeugt ist, dass die Schicksalsgötter uns nur geben, was wir wollen, wenn wir dafür unsere innere Ruhe opfern.
Wenn du merkst, wie sich heute wieder die Ängste in dir aufstauen, dann frage dich: Warum verkrampft mein Magen sich so? Wer hat hier das Sagen – ich oder meine Angst? Und die wichtigste Frage: Hilft diese Angst mir überhaupt?
4. Februar - Über die Unbesiegbarkeit
»Wer ist denn unbesiegbar? Derjenige, der von nichts erschüttert werden kann, was außerhalb seiner Entscheidungsgewalt liegt.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 1.18.21
Hast du jemals beobachtet, wie ein alter Hase mit den Medien umgeht? Keine Frage ist zu hart, kein Ton zu spitz oder beleidigend. Jeden Angriff wehrt er mit Humor, Gelassenheit und Geduld ab. Selbst wenn er angegriffen oder provoziert wird, zieht er es vor, nicht mit der Wimper zu zucken oder irgendeine Reaktion zu zeigen. Er schafft das nicht nur, weil er darin ausgebildet ist und viel Erfahrung hat, sondern weil er weiß, dass eine emotionale Reaktion die Situation bloß verschlimmern würde. Die Medien warten nur darauf, dass man sich verhaspelt oder Betroffenheit zeigt. Um also Pressekonferenzen und dergleichen erfolgreich zu meistern, hat er verinnerlicht, wie wichtig es ist, sich stets unter Kontrolle zu haben.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass du dich heute einer Horde neugieriger Journalisten stellen musst, die dich mit Fragen bombardieren, die unter die Gürtellinie gehen. Aber egal, was für eine stressige, frustrierende oder überwältigende Situation du heute bestehen musst, vielleicht hilft es ja, dir dieses Bild zu vergegenwärtigen und dir ein Vorbild daran zu nehmen. Unsere Entscheidung – unsere prohairesis, wie die Stoiker es nannten – ist eine Form von Unbesiegbarkeit, die wir kultivieren können. Wir können feindliche Angriffe einfach abschütteln und mühelos durch stressige oder problematische Situationen segeln. Und wie unser Beispiel oben zeigt, können wir uns dann, wenn die Situation durchgestanden ist, der Menge zuwenden und sagen: »Die nächste Frage, bitte.«
5. Februar - Mäßige Deine Impulse
»Lasse dich nicht wie einen Spielball behandeln, sondern unterwerfe jedes impulsive Verhalten den Ansprüchen der Gerechtigkeit und verteidige deine klare Überzeugung immer und überall.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 4.22
Du kennst bestimmt Menschen, die sich manisch verhalten. Ich meine nicht diejenigen, die an einer bipolaren Störung leiden, sondern jene, deren Leben und Entscheidungen ein einziges Chaos sind. Für sie gibt es immer nur himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, ihre Tage sind entweder phänomenal oder furchtbar. Sind diese Menschen nicht anstrengend? Wünscht du dir nicht, sie hätten einen Filter, durch den sie die positiven und die negativen Impulse gegeneinander abwägen könnten?
Es gibt solche Filter: Gerechtigkeit. Verstand. Philosophie. Wenn es eine grundlegende Botschaft der stoischen Lehre gibt, dann diese: Es wird immer Impulse geben, jedweder Art, und deine Aufgabe ist es, sie zu beherrschen, so wie du einen Hund bei Fuß hältst. Einfacher gesagt: Erst denken, dann handeln. Frage dich: Wer hat hier die Kontrolle? Von welchen Prinzipien lasse ich mich gerade leiten?
6. Februar - Suche nicht den Konflikt
»Ich halte nichts von denen, die sich kopfüber in die Fluten stürzen, die freiwillig ein turbulentes Leben führen und jeden Tag unter großer geistiger Anstrengung mit ihren schwierigen Lebensumständen hadern. Ein weiser Mensch wird dies aushalten, aber er wird es nicht ausdrücklich suchen. Seine Entscheidung ist Frieden, nicht Krieg.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 28.7
Oft wird Theodore Roosevelts berühmte »Man in the Arena«-Rede zitiert, in der er in höchsten Tönen denjenigen lobt, »dessen Gesicht gezeichnet ist von Staub, Schweiß und Blut; der heldenhaft voranschreitet ...« und ihm jenen gegenüberstellt, der bloß von der Seitenlinie aus kritisiert. Roosevelt hielt diese Rede kurz nach Beendigung seiner Amtszeit, auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit. Wenige Jahre später zog er gegen seinen früheren Schützling in den Wahlkampf und versuchte, noch einmal in das Weiße Haus einzuziehen, doch er scheiterte kläglich und wurde fast ermordet. Knapp dem Tode entkam er auch, als er im Amazonasgebiet einen Fluss erforschte, auf Safaris in Afrika Tausende von Tieren tötete und schließlich Woodrow Wilson anflehte, in den Ersten Weltkrieg ziehen zu dürfen, obwohl er bereits 59 Jahre alt war. Er tat eine Menge Dinge, die einem im Rückblick etwas verwunderlich erscheinen.
Theodore Roosevelt war ein wahrhaft großer Mann. Doch er war auch ein Getriebener, jemand, der stets zwanghaft arbeiten und aktiv sein musste, ohne je zur Ruhe zu kommen. Viele von uns leiden darunter – wir werden von etwas getrieben, das wir nicht beherrschen. Wir haben Angst davor, still und statisch zu sein, also suchen wir Anstrengungen und betreiben Aktionismus, um uns abzulenken. Wir ziehen es vor, im Krieg zu sein – in manchen Fällen sogar im wortwörtlichen Sinn – wenn Frieden doch tatsächlich die ehrbarere und passendere Wahl wäre.
Ja, natürlich ist der Mann, der in der Arena steht und kämpft, bewundernswert. Ebenso bewundernswert sind Soldaten, Politiker, Geschäftsleute und alle andere Berufe. Jedoch, und dies ist ein wichtiger Einwand, sind sie nur bewundernswert, wenn sie aus den richtigen Gründen in der Arena stehen und kämpfen.
7. Februar - Angst ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung
»Vielen Menschen schadet vor allem die Angst an sich, und das Schicksal vieler Menschen hat sich bereits erfüllt, während sie noch auf die Erfüllung ihres Schicksals warten.«
-- Seneca, Ödipus, 992
Nur der Paranoide überlebt«, hat Andy Grove, der ehemalige Geschäftsführer von Intel, einmal gesagt. Vielleicht hat er recht. Doch wir wissen auch, dass Menschen, die paranoid sind, oftmals sich selbst schneller und effektiver zerstören als jeder Feind es könnte. Seneca, der Zugang zu den obersten Schichten des alten Roms hatte und die Verhältnisse sehr gut durchschaute, hat diese Dynamik wohl oft beobachtet. Nero etwa, ein Schüler Senecas, dessen Exzesse der Lehrer zu dämpfen versuchte, tötete nicht nur seine Mutter und seine Gattin, sondern wandte sich schließlich auch gegen seinen eigenen Lehrmeister, gegen Seneca.
Die Kombination aus Macht, Angst und Manie kann tödlich sein. Ein Firmeninhaber fürchtet, betrogen zu werden und handelt dann als erster, indem er andere betrügt. Er fürchtet, nicht beliebt zu sein, und bemüht sich so sehr darum, von anderen gemocht zu werden, dass es den gegenteiligen Effekt erzielt. Er ist überzeugt davon, dass in seiner Firma Misswirtschaft herrscht, übernimmt auf autoritäre Weise die Geschäftsleitung, kümmert sich um jedes Detail und wird damit zur Ursache der Misswirtschaft. So geht es immer weiter – das, was wir am meisten befürchten, handeln wir uns selbst ein.
Wenn du dich wieder einmal vor einem katastrophalen Ergebnis fürchtest, denke daran: Wenn du deine Impulse nicht kontrollierst, verlierst du die Selbstbeherrschung. Dann könntest du zur Ursache der Katastrophe werden, vor der du dich so fürchtest. Das haben schon viel schlauere, mächtigere und erfolgreichere Menschen erleben müssen. Auch wir sind davor nicht gefeit.
8. Februar - Geht es Dir jetzt besser?
»Du weinst, während ich unerträgliche Schmerzen aushalte! Fühlst du dich denn jetzt erleichtert, nachdem du dich so unmännlich verhalten hast?«
-- Seneca, Moralische Briefe, 78.17
Wenn das nächste Mal jemand in deiner Nähe einen Gefühlsausbruch erleidet – weint, schreit, Dinge zerbricht, spitzzüngig oder gemein wird – dann beobachte, wie schnell dieser Kommentar ernüchternd wirkt: »Ich hoffe, dir geht es jetzt besser.« Denn natürlich tut es das nicht. Nur in wirklich extremen Situationen ist solches Verhalten entschuldbar – und wenn wir uns dann rechtfertigen sollen, ist es uns peinlich und wir werden kleinlaut.
Probiere diesen Standpunkt einmal bei dir selbst aus: Wenn du das nächste Mal kurz davor bist, vollständig durchzudrehen, wenn du jammerst und winselst, als hättest du eine schwere Grippe, oder wenn du aus Wut heulst, dann frage dich: Fühle ich mich jetzt eigentlich besser? Hilft mir das, die Symptome anzugehen, die ich doch loswerden will?
9. Februar - Du musst nicht unbedingt eine Meinung haben
»Wir haben die Macht, uns keine Meinung über Dinge bilden zu müssen und uns dadurch aus unserer Gemütsruhe bringen zu lassen – denn Dinge haben per se nicht die Macht, unser Urteilsvermögen zu beeinflussen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.52
Dies ist eine kuriose Übung: Denke einmal an beunruhigende Dinge, von denen du nichts weißt – was die Leute vielleicht hinter deinem Rücken über dich sagen, Fehler, die du begangen hast, die dir aber nie aufgefallen sind, Dinge, die du hast fallen lassen oder die du verloren hast, ohne es zu merken. Wie reagierst du darauf? Du brauchst gar nicht reagieren, denn du weißt ja nichts davon.
Will heißen: Es ist möglich, keine Meinung über etwas Negatives zu haben. Du musst diese Macht aber bewusst einsetzen und sie nicht nur unwillkürlich anwenden. Dies ist vor allem wichtig, wenn der Gedanke, dass wir uns eine Meinung bilden sollten, uns beunruhigt. Die Fähigkeit, absolut gar keinen Gedanken an etwas zu verschwenden, so zu tun, als ob dies niemals existiert hätte, oder als ob man noch nie davon gehört hätte, ist etwas, das man üben muss. Lass die Dinge für dich irrelevant werden, lass sie nicht existieren. Dann haben sie viel weniger Einfluss auf dich.
10. Februar - Wut ist ein schlechter Antrieb
»Es gibt nichts, was einen mehr betäubt als Wut. Nichts ist so sehr auf seine eigene Kraft fokussiert. Wenn sie Erfolg hat, ist nichts so arrogant, wenn sie scheitert, ist nichts so wahnsinnig. Da sie selbst in der Niederlage nicht an Kraft verliert, greift die Wut sich selbst an, wenn das Schicksal ihr den Feind entzieht.«
-- Seneca, Über die Wut, 3.1.5
Die Stoiker haben es unzählige Male betont: Wütend zu werden löst so gut wie nie das Problem. Meistens wird dann alles nur noch schlimmer. Wir ärgern uns, dann beginnt unser Gegenüber, sich zu ärgern – schließlich sind alle verärgert und man ist der Lösung des Problems keinen Schritt näher gekommen.
Es gibt viele erfolgreiche Menschen, die dir erzählen werden, dass Wut in ihrem Leben ein mächtiger Antrieb war. Der Drang, es »den Anderen zu beweisen«, sich »zu rächen«, hat schon manch einen zum Millionär gemacht. Die innere Wut, weil man als dick oder dumm bezeichnet wurde, hat schon manch athletischen Körper oder brillanten Intellekt hervorgebracht. Die Wut darüber, abgewiesen worden zu sein, hat viele dazu motiviert, sich ihren eigenen Weg zu bahnen.
Aber das ist zu kurz gedacht. Diese Geschichten sagen nichts aus über die negativen Nebeneffekte oder wie anstrengend und zermürbend ein solcher Kampf ist. Sie sagen nichts darüber, was passiert, wenn die anfängliche Wut verpufft ist und man dann immer mehr neue Wut produzieren muss, um die Maschinerie am Laufen zu halten (bis schließlich als letzte Quelle nur noch der Ärger über sich selbst bleibt). »Hass ist eine zu große Last«, hat Martin Luther King Jr. seine Mitstreiter in der Bürgerrechtsbewegung 1967 gewarnt, obwohl sie wahrhaftig jeden Grund gehabt hätten, den Hass, der ihnen entgegenschlug, mit Hass zu erwidern.
Das gleiche gilt für Wut – und eigentlich für jedes extreme Gefühl. Extreme Gefühle sind ein höchst giftiger Antriebsstoff. Kein Zweifel, es gibt jede Menge davon in der Welt, aber sie sind niemals die Folgekosten wert, die sie unweigerlich nach sich ziehen.
11. Februar - König oder Tyrann
»Unsere Seele ist mal ein König, mal ein Tyrann. Sie ist königlich, wenn sie sich um das kümmert, was ehrenhaft ist, wenn sie den Körper schützt und ihn gesund hält, wenn sie ihm keine schädlichen Befehle gibt. Aber eine unkontrollierte Seele, eine, die von Begierden angetrieben wird und die es gewohnt ist, dass ihr jeder Wunsch erfüllt wird, ist nicht königlich, sondern sie wird zu dem, was wir am meisten fürchten und verabscheuen: zum Tyrann.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 114.24
Uneingeschränkte Macht ist etwas, das alles und jeden korrumpiert, so sagt man. Auf den ersten Blick scheint das zu stimmen, man denke da nur an Senecas Schüler Nero und die unzähligen Verbrechen und Morde, die er sich zu Schulden hat kommen lassen. Ein anderer Kaiser, Domitian, ließ willkürlich alle Philosophen aus Rom verbannen, weshalb auch Epiktet die Stadt verlassen musste. Viele römische Kaiser waren Tyrannen. Und doch wurde Epiktet nur wenige Jahre später ein enger Freund eines anderen Kaisers, Hadrian, der wiederum Marc Aurel auf den Thron verhalf, und Aurel ist das herausragende Beispiel eines weisen Philosophenkönigs.
Es ist also gar nicht so eindeutig der Fall, dass Macht immer korrumpiert. Tatsächlich scheint es in vielerlei Hinsicht von der inneren Stärke und Selbstwahrnehmung einer Persönlichkeit abzuhängen – welche Werte sie hat, welche Begierden sie beherrscht, ob ihr Verständnis von Fairness und Gerechtigkeit ihr hilft, den Verlockungen grenzenlosen Reichtums und allumfassender Ehrerbietung zu widerstehen.
Das Gleiche gilt für dich, sowohl im Privaten wie im Berufsleben. König oder Tyrann? Beliebt oder gefürchtet? Was willst du sein?
12. Februar - Schütze Deinen Seelenfrieden
»Behalte stets deine Wahrnehmungen im Auge, denn was du da beschützt ist nichts Geringeres als dein Respekt, deine Vertrauenswürdigkeit, deine Standhaftigkeit, dein Seelenfrieden, das Fehlen von Schmerz und Angst, in einem Wort, es ist deine Freiheit. Wofür würdest du dies alles hergeben?«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.3.6b–8
Ein Job, bei dem nichts richtig funktioniert, stresst dich. Oder eine belastete Beziehung. Oder das Leben im Rampenlicht. Der Stoizismus hilft uns, unsere emotionalen Reaktionen in den Griff zu bekommen und zu durchdenken. Dadurch können wir diese Situationen einfacher bestehen. Die Worte der Stoiker können dir helfen, all jene Reize zu kontrollieren und zu lindern, die dir sonst dauernd wie Stolperfallen vorkommen.
Aber frage dich selbst: Warum tust du dir das alles an? Ist dies wirklich die für dich richtige Umgebung? Ist es das wert, sich von nervigen E-Mails und einer endlosen Reihe von Problemen am Arbeitsplatz provozieren zu lassen? Unsere Adrenalindrüsen können nur bedingt viel ausschütten, bevor sie erschöpft sind. Solltest du dein Adrenalin nicht lieber für jene Momente aufsparen, wo es wirklich um Leben und Tod geht?
Also, ja, nutze den Stoizismus, um diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Aber vergiss nicht, dich selbst zu fragen: Ist dies wirklich das Leben, das ich führen will? Jedes Mal, wenn du dich aufregst, verliert dein Körper ein kleines bisschen von seinem Leben. Willst du diese unbezahlbaren Ressourcen wirklich für diese Dinge vergeuden? Hab keine Angst vor Veränderungen, auch wenn sie grundlegend sind.
13. Februar - Wenn aus einer Verlockung eine Strafe wird
»Wann immer du eine Verlockung verspürst, dann sieh dich vor, dass du nicht – wie bei jedem spontanen Eindruck – zu sehr mitgerissen wirst. Reagiere nicht sofort darauf, sondern gönn dir eine Pause. Dann denke über beides nach: Die Zeit, als du die Verlockung erstmals genossen hast, und die Zeit danach, wenn du es bereuen und dich dafür hassen wirst. Vergleiche dies mit der Freude und Zufriedenheit, die du verspürst, wenn du dich diesen Verlockungen grundsätzlich fernhältst. Doch wenn sich der scheinbar passende Moment zum Handeln ergibt, dann lass dich nicht von der Annehmlichkeit, der Wohligkeit und dem Reiz überwältigen, sondern bedenke hingegen, wie viel besser das Gewissen ist, wenn man den Drang, sich der Verlockung hinzugeben, überwunden hat.«
-- Epiktet, Enchiridion, 34
Selbstbeherrschung ist schwierig, kein Zweifel. Deshalb kann ein Trick ganz hilfreich sein, den man bei einer Diät gern anwendet: Manche Diät erlaubt nämlich einen sogenannten Ausnahmetag – einen Tag in der Woche, an dem man essen darf, was man möchte. Tatsächlich geht das so: Wer Diät macht, soll unter der Woche eine Liste führen und aufschreiben, was er am liebsten essen würde, damit man sich all das dann am Ausnahmetag gönnen kann, quasi als Belohnung (die Idee dahinter ist, dass man, wenn man sich sechs Tage die Woche an die Diät gehalten hat, immer noch viel gesünder lebt als ohne Diät).
Zunächst klingt das nach einer perfekten Lösung, aber jeder, der das schon mal mitgemacht hat, kennt die Wahrheit: An jedem Ausnahmetag stopft man sich voll, bis einem schlecht ist, und danach hasst man sich dafür. Und irgendwann zieht man es vor, keinen Ausnahmetag mehr zu machen. Denn man braucht das nicht, und man will es auch nicht.
Es ist wichtig, die scheinbare Verlockung mit ihren direkten Auswirkungen in Verbindung zu bringen. Wenn man erst einmal verstanden hat, dass nachgeben tatsächlich oft schlimmer ist als widerstehen, beginnt die Verlockung an Reiz zu verlieren, das Verlangen lässt nach. Auf diese Weise wird Selbstbeherrschung zur wahren Freude und die Verlockung zieht nur Bedauern nach sich.
14. Februar - Erst denken, dann handeln
»Weise zu sein bedeutet nur eines: dass unsere Aufmerksamkeit auf unsere Intelligenz gerichtet ist, denn sie leitet die Dinge überall.«
-- Heraklit, zitiert nach Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 9.1
Warum habe ich das gemacht? Das hast du dich bestimmt schon mal gefragt. Haben wir alle. Wie konnte ich so dumm sein? Was habe ich mir dabei bloß gedacht? Eben, du hast gar nicht gedacht. Das ist das Problem. Du hast den Verstand und die Intelligenz, die du brauchst. Die Schwierigkeit der Aufgabe liegt darin, diese auch anzuwenden und sich ihr zu fügen. Du musst sicherstellen, dass dein Verstand die Kontrolle hat, nicht deine Gefühle, nicht deine direkten körperlichen Empfindungen, nicht deine steigenden Hormone.
Lenke deine Aufmerksamkeit auf deine Intelligenz. Lass sie frei walten.
15. Februar - Nichts als böse Träume
»Kläre deinen Geist und bringe dich selbst unter Kontrolle, als wärest du aus einem Traum aufgewacht und merkst, dass es nur ein böser Traum war, der dich erschüttert hat. Dann stelle fest, dass das, was du siehst, auch bloß Teil ist dieses Traums.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.31
Der amerikanische Schriftsteller Raymond Chandler hat wohl die meisten von uns beschrieben, als er in einem Brief an seinen Verleger gestand: »Ich habe nie zurückgeblickt, aber ich habe viele unruhige Stunden damit verbracht, nach vorne zu schauen.« Thomas Jefferson merkte einmal in einem Brief an John Adams scherzhaft an: »Wie viele Schmerzen hat uns all das Übel zugefügt, das sich nie ereignet hat!« Und Seneca hätte das ganz treffend kommentiert: »Nichts an unseren Ängsten ist so sicher wie die Tatsache, dass das Meiste, vor dem wir uns fürchten, sich in Nichts auflöst.«
Die Stoiker glaubten, dass viele Dinge, die uns Sorgen bereiten, einzig und allein unserer Einbildungskraft entstammen, nicht der Realität. Wie Träume erscheinen sie uns als wirklich und wahrhaftig, aber wenn wir sie überstanden haben, sehen wir, dass sie lächerlich waren. Im Traum halten wir nicht inne und fragen uns: »Macht das eigentlich irgendeinen Sinn?« Nein, wir lassen uns einfach darauf ein. Das trifft auch auf unsere Anflüge von Wut oder Angst oder anderen starken Emotionen zu.
Sich übermäßig Sorgen machen, das ist, als würde man weiterträumen, obwohl man bereits aufgewacht ist. Das, was alles ausgelöst hat, ist nicht real – aber deine Reaktion darauf ist real. Und so entstehen reale Konsequenzen aus bloßen Phänomenen. Deshalb musst du jetzt unbedingt aufwachen, anstatt dir deinen eigenen Albtraum auszumalen.
16. Februar - Mache Dir das Leben nicht schwerer als nötig
»Wenn jemand dich fragt, wie man deinen Namen schreibt, schreist du ihm dann jeden Buchstaben entgegen? Und wenn er wütend wird, erwiderst du den Ärger? Würdest du nicht lieber ganz sanft und freundlich deinen Namen buchstabieren? Denke also daran: Deine Pflichten im Leben sind die Summe einzelner Aktionen. Schenke den Aufgaben ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Pflichten, erfülle sie ganz methodisch.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.26
Eine typische Situation: Du arbeitest mit einem Kollegen, der dich frustriert, oder mit einem schwierigen Vorgesetzten. Er bittet dich, etwas für ihn zu tun. Weil du den Auftraggeber nicht magst, weigerst du dich. Du siehst dieses oder jenes Problem, findest die Bitte inakzeptabel oder unhöflich. Also antwortest du: »Nein, ich kann den Auftrag nicht erledigen.« Dann rächt er sich, indem er etwas nicht tut, um das du ihn bereits gebeten hattest. So eskaliert der Konflikt.
Doch wenn du einen Schritt zurückgehen und die Situation ganz objektiv betrachten würdest, würde dir wohl auffallen, dass nicht alles, worum er dich gebeten hat, inakzeptabel ist. Vielleicht ist einiges davon sogar relativ einfach zu erledigen oder zumindest angenehm. Und wenn du dies erledigen würdest, käme dir der Rest des Auftrags vielleicht auch nicht mehr ganz so schlimm vor. Im Nullkommanichts hast du alles erledigt.
Das Leben (und die Arbeit) ist schwer genug. Mach es nicht noch schwerer, indem du dich über Nichtigkeiten aufregst oder Kämpfe austrägst, die dich eigentlich gar nicht interessieren. Lass dir den Weg nicht von Gefühlen versperren und kathêkon behindern – die einfachen, angemessenen Handlungen auf dem Pfad der Tugend.
17. Februar - Der Feind Deines Glücks
»Es ist nicht möglich, Glück zu empfinden, wenn wir uns gleichzeitig nach etwas sehnen, das wir nicht haben. Das Glück hat alles, was es braucht, wie ein Wohlernährter, der weder Hunger noch Durst kennen sollte.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.24.17
Wenn ich erst meinen Abschluss habe, dann werde ich glücklich sein. Das sagen wir uns. Wenn die Beförderung durch ist, wenn die Diät funktioniert hat, wenn ich mehr Geld besitze als meine Eltern je hatten, dann werde ich glücklich sein. Diese Art von Gedanken nennen Psychologen »abhängiges Glück«. Es verhält sich wie mit dem Horizont: Man läuft und läuft, doch man erreicht ihn nie. Man nähert sich ihm noch nicht einmal.
Du wartest gespannt darauf, dass sich in der Zukunft etwas ereignen wird. Leidenschaftlich stellst du dir vor, was du dir wünschst – du freust dich auf das zukünftige Glück. So angenehm eine solche Geisteshaltung zu sein scheint, zerstört sie doch deine Chance, hier und jetzt glücklich zu sein. Du musst diesen Drang nach mehr, besser, eines Tages erkennen und begreifen, was er wirklich ist: Der Feind deiner Zufriedenheit. Du hast die Wahl zwischen diesem Drang und dem Glück. Wie Epiktet bereits sagte: Die beiden sind nicht miteinander vereinbar.
18. Februar - Rüste Dich für den Sturm
»So erkennt man einen wahren Athleten – es ist jemand, der sich rigoros vor falschen Eindrücken schützt. Bleibe standhaft, auch wenn du leidest, lass dich nicht von deinen Eindrücken überwältigen! Der Kampf ist hart, die Aufgabe göttlich – so erringt man Meisterschaft, Freiheit, Glück und Gelassenheit.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.18.27–28
Epiktet benutzte auch die Sturmmetapher, er sagte, unsere Eindrücke seien wie extreme Wetterlagen, die unversehens über uns kommen und uns herumwirbeln. Wenn wir uns wegen einer Sache aufregen oder sehr leidenschaftlich reagieren, können wir diese Metapher verstehen. Aber welche Rolle hat das Wetter in der heutigen Zeit? Wir haben Wettervorhersagen und Experten, die ziemlich genau die Wege und Auswirkungen eines Sturms prognostizieren. Heute sind wir einem Hurrikan nur ausgeliefert, wenn wir uns weigern, Vorbereitungen zu treffen oder den Warnungen keine Beachtung schenken.
Ohne einen Plan, ohne gelernt zu haben, wie man bei einem Sturm die Fenster verbarrikadiert, sind wir diesen äußerlichen – ebenso wie den innerlichen – Elementen ausgeliefert. Wir sind immer noch hilflose Wesen im Vergleich zu einem Wind, der 150 km/h erreicht, aber unser Vorteil ist, dass wir uns vorbereiten können – wir können auf neue Art und Weise gegen die Stürme ankämpfen.
19. Februar - Das Festbankett des Lebens
»Denke daran, dich im Leben stets so zu verhalten, als seist du bei einem Festbankett. Wenn etwas, das herumgereicht wird, bei dir ankommt, dann nimm dir eine bescheidene Menge. Es geht vorbei? Halte es nicht an. Es ist noch nicht bei dir angekommen? Lass dein Verlangen danach nicht überhand nehmen, sondern warte, bis es bei dir ankommt. So verhalte dich mit Kindern, dem Ehepartner, mit deiner beruflichen Position, mit Reichtum – und eines Tages wirst du es dir verdient haben, an einem Festbankett mit den Göttern teilzunehmen.«
-- Epiktet, Enchiridion, 15
Wenn du das nächste Mal etwas siehst, wonach es dich verlangt, denke an die Metapher Epiktets vom Leben als Festbankett. Wenn du merkst, dass du nervös wirst, bereit wärest, alles stehen und liegen zu lassen für etwas, wenn du also, um bei diesem Bild zu bleiben, kurz davor bist, über den Tisch zu langen und jemandem den Teller aus den Händen zu reißen, dann denke daran: Das ist nicht nur schlechtes Benehmen, es ist auch unnötig. Warte geduldig, bis du an der Reihe bist.
Man kann diese Metapher noch anders interpretieren. So sollten wir uns zum Beispiel darüber klar werden, wie glücklich wir uns schätzen können, überhaupt zu diesem wunderbaren Mahl eingeladen worden zu sein (Dankbarkeit). Oder wir sollten die Zeit und die Aromen, die uns geboten werden, in vollen Zügen genießen (den Moment genießen), ohne uns jedoch zu sehr vollzustopfen, denn zu viel Essen und Trinken hilft niemandem, vor allem nicht der Gesundheit (Völlerei ist schließlich eine Todsünde). Wir sollten daran denken, dass es unhöflich wäre, am Ende eines Mahls dem Gastgeber nicht zu helfen, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen (Selbstlosigkeit). Und schließlich denke daran: Beim nächsten Mal könnten wir die Gastgeber sein und dann sollten wir die Gäste so zuvorkommend behandeln, wie wir behandelt wurden (Nächstenliebe).
Genieße das Festmahl!
20. Februar - Die große Parade des Verlangens
»Räuber, Perverse, Mörder und Tyrannen – eure sogenannten Freuden sollen helfen, euch zu prüfen!«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.34
Man sollte nie über andere Menschen urteilen, aber es lohnt sich ein zweiter, genauerer Blick darauf, wie ein Leben eigentlich verläuft, wenn man sich jeden noch so kleinen Wunsch erfüllt. Die Schriftstellerin Anne Lamott scherzt in ihrem Buch Bird by Bird: »Haben Sie sich jemals gefragt, was Gott von Geld hält? Schauen Sie sich doch mal die Leute an, denen er es gibt.« Das gleiche gilt für Verlockungen. Sieh dir den Diktator an und seinen Harem, voller Geliebter, die den lieben langen Tag Ränke und Verschwörungen schmieden. Sieh dir an, wie schnell ein junger, gefeierter Star in die Drogenabhängigkeit abstürzt und wie die Karriere scheitert.
Frage dich: Ist es das wirklich wert? Bringt es mir wirklich solche Freuden?
Denke daran, wenn du dich nach etwas verzehrst oder dir eine angeblich »harmlose« kleine Sünde leistest.
21. Februar - Wer nicht will, Ddem fehlt es an nichts
»Denke daran, dass es nicht nur unser Verlangen nach Reichtum und Erfolg ist, das uns unterjocht und erniedrigt, sondern auch das Verlangen nach Frieden, Freizeit, Reisen und Bildung. Um welches Objekt es sich handelt, ist egal – es ist der Wert, den wir einer Sache beimessen, der uns unterwürfig macht ... Wo unser Herz hinstrebt, das ist unsere Bürde.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.4.1–2; 15
Sicherlich meint Epiktet nicht, dass Frieden, Freizeit, Reisen und Bildung schlecht sind, oder? Gott sei Dank nein. Doch permanentes, brennendes Verlangen – selbst wenn es an und für sich nicht schlecht ist – ist beladen mit möglichen Komplikationen. Das, wonach wir uns sehnen, macht uns verwundbar. Sei es die Gelegenheit, eine Weltreise zu machen, Präsident zu werden, oder die Verlockungen von fünf Minuten friedlicher Ruhe – wenn wir uns nach etwas sehnen, wenn wir wider aller Chancen hoffen, dann sind wir gegen die Enttäuschung nicht gefeit. Denn das Schicksal kann immer intervenieren, und in der Folge verlieren wir sehr wahrscheinlich unsere Selbstbeherrschung.
Der berühmte Zyniker Diogenes sagte einmal: »Es ist das Privileg der Götter, nichts zu wollen, und das gottgleicher Menschen, wenig zu wollen.« Nichts zu wollen macht einen unbesiegbar – denn dann liegt nichts mehr außerhalb deiner Macht. Das betrifft nicht nur Aspekte, die leicht kritisiert werden können, wie Reichtum oder Berühmtheit, jene Torheiten, die in einigen unserer bekanntesten Theaterklassiker und Fabeln behandelt werden. Jenes grüne Licht, nach dem der große Gatsby sich stets sehnte, kann auch scheinbar positive Ziele verkörpern, wie Liebe oder eine heldenhafte Aufgabe. Doch es kann trotzdem Menschen zerstören.
Was deine Ziele betrifft und das, was du erreichen willst, frage dich: Kontrolliere ich sie oder kontrollieren sie mich?
22. Februar - Was man lieber für sich behalten sollte
»Als öffentlicher Redner war Cato fähig, die Massen zu bewegen. Er glaubte, dass die richtige politische Philosophie, so wie jede große Stadt, sich bemüht, ein kriegerisches Element beizubehalten. Doch nie sah man ihn vor anderen üben oder seine Reden einstudieren. Als er hörte, dass Menschen ihn wegen seines Schweigens kritisierten, antwortete er: ›Besser, als wenn sie mein Leben kritisieren. Ich fange erst dann an zu sprechen, wenn ich sicher bin, dass das, was ich sage, nicht besser unausgesprochen geblieben wäre.‹«
-- Plutarch, Cato der Jüngere, 4
Handeln ist leicht – man macht einfach. Weit schwieriger ist es, aufzuhören, sich zu unterbrechen, nachzudenken: Ich bin nicht sicher, ob ich das jetzt schon tun muss. Ich bin nicht sicher, ob ich schon soweit bin. Als Cato in das politische Leben eintrat, erwarteten viele Menschen große Dinge und schnelle Veränderungen von ihm – aufrührende Reden, spektakuläre Verurteilungen, weise Analysen. Er war sich dieses Drucks bewusst – ein Druck, der immerzu auf uns allen lastet – und er widerstand ihm. Es ist einfach, die Masse (und sein eigenes Ego) zu befriedigen.
Stattdessen wartete er und bereitete sich vor. Er prüfte seine Worte, um sicherzugehen, dass er nicht zu emotional, selbstbezogen, unwissend oder voreilig reagierte. Erst dann begann er zu sprechen: Wenn er sicher war, dass seine Worte es wert waren, gehört zu werden.
So zu handeln, setzt Bewusstsein voraus. Wir müssen uns selbst unterbrechen und uns ganz ehrlich einschätzen. Bist du dazu bereit?
23. Februar - Den Äußeren Umständen sind unsere Gefühle egal
»Gib den äußeren Umständen nicht die Macht, deinen Ärger zu provozieren, denn ihnen ist es völlig egal.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7.38
Ein Großteil der Selbstbetrachtungen von Marc Aurel besteht aus kurzen Zitaten und Textpassagen anderer Autoren. Es ging Marc Aurel gar nicht darum, ein eigenes Werk zu erschaffen, sondern um die Übung: Er wollte sich immer wieder an wichtige Lektionen erinnern, und manchmal waren diese Lektionen Textstellen, die er gelesen hatte.
Das einleitende Zitat ist insofern besonders, weil es einem Theaterstück von Euripides entnommen ist, dessen Werk, bis auf eine Handvoll Zitate, verloren ist. Die erhaltenen Fragmente erlauben den Schluss, dass das Stück davon handelt, dass der Held, Bellerophon, die Existenz der Götter anzuzweifeln beginnt. Doch an oben zitierter Stelle sagt er: Warum sollen wir uns überhaupt aufregen über Ursachen und Kräfte, die viel größer sind als wir? Warum nehmen wir das alles so persönlich? Schließlich sind äußere Umstände keine fühlenden Wesen, sie können auf unser Schreien und Wehklagen gar nicht antworten – ebenso wenig wie die Götter, die größtenteils gefühllos sind.
Das ist es, woran Marc Aurel sich hier erinnern wollte: Die Umstände können deine Gefühle, deine Ängste, deine Aufregung nicht berücksichtigen, sie spüren sie nicht. Es ist ihnen gleichgültig, wie du reagierst. Sie sind nicht menschlich. Dich immer gleich aufzuregen kann also keinerlei Einfluss haben auf die Situation, in der du steckst. Es ist der Situation völlig egal.
24. Februar - Der wahre Quell des Bösen
»Denke daran: Nicht derjenige, der es auf dich abgesehen hat und dich angreift, schadet dir – nein, der Schaden entsteht erst dadurch, wie du über diese Misshandlung denkst. Wenn also jemand deinen Ärger hervorruft, bedenke, dass es deine eigene Meinung ist, die den Ärger entfacht. Stattdessen sollte deine erste Reaktion sein, dass du dich von solchen Eindrücken nicht überwältigen lässt, denn mit genug Zeit und Distanz wird Selbstbeherrschung viel einfacher erlangt.«
-- Epiktet, Enchiridion, 20
Den Stoikern zufolge gibt es eigentlich kein Ereignis, das an sich gut oder böse ist. Wenn ein Milliardär aufgrund der Marktfluktuationen eine Million Dollar verliert, ist es nicht das gleiche, als wenn du eine Million Dollar verlierst. Wenn dein schlimmster Feind dich kritisiert, hat das einen anderen Stellenwert, als wenn dein Ehepartner schimpft. Wenn jemand dir in seinem Ärger eine E-Mail schickt, du sie aber nie zu lesen bekommst, ist es dann jemals geschehen? Was ich meine ist: Diese Situationen brauchen unsere Teilnahme, logischen Zusammenhänge, sie müssen von uns kategorisiert werden, bevor wir sie als »schlimm« erkennen können.
Es ist allein unsere Reaktion, die bestimmt, ob etwas Schlimmes geschehen ist. Wenn wir uns ärgern, weil wir uns schlecht behandelt fühlen, dann werden wir die Situation auch genauso einschätzen. Wenn wir unsere Stimme erheben, weil wir uns angegriffen fühlen, dann wird das zwangsläufig zu einem Konflikt führen.
Doch wenn wir Selbstbeherrschung bewahren, dann können wir selbst entscheiden, ob wir etwas als »schlecht« oder »gut« einschätzen. Tatsächlich können wir ganz unterschiedlich auf dieselbe Situation reagieren, ja nachdem, wann in unserem Leben sie sich ereignet. Warum beschließt du nicht gleich jetzt, diese Kategorisierung nicht vorzunehmen? Warum beschließt du nicht einfach, nicht zu reagieren?
25. Februar - Der Schall und Rauch von Mythen
»Halte in Gedanken eine Liste bereit von all denen, die sich vor Wut und Verbitterung verzehren, und seien sie noch so berühmt für ihren Erfolg, ihr Unglück, ihre üblen Taten oder sonstige besondere Auszeichnungen. Dann frage dich: Wie konnte das geschehen? Das sind Schall und Rauch, das Zeug eines simplen Mythos, der eine Legende sein möchte ...«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 12.27
In seinen Schriften weist Marc Aurel immer wieder darauf hin, dass die Kaiser, die vor ihm an der Macht waren, schon wenige Jahre nach Ende ihrer Regentschaft kaum mehr bekannt waren. Ihm diente das als Erinnerung, dass, unabhängig davon, wie viele Länder er eroberte, unabhängig davon, wie sehr er der Welt seinen Willen aufzwang, es nichts anderes sei, als Sandburgen zu bauen – Luftgebilde, die der Zahn der Zeit schnell zerstören würde.
Das gleiche gilt für all jene, die zu Gipfeln des Hasses, der Wut, der Besessenheit oder des Perfektionismus getrieben werden. Marc Aurel wies gern darauf hin, dass Alexander der Große, einer der leidenschaftlichsten und ehrgeizigsten Männer, die je gelebt haben, in derselben Erde begraben liegt wie sein Eselstreiber. Letzten Endes werden wir alle sterben und langsam in Vergessenheit geraten. Die kurze Zeit, die uns auf Erden vergönnt ist, sollten wir genießen, und uns nicht von Gefühlen unterwerfen lassen, die uns bloß missmutig und unzufrieden machen.
26. Februar - Jedem das Seine
»Ein Anderer hat mir ein Leid zugefügt? Lass ihn sich darum kümmern. Er hat seine eigenen Vorstellungen und seine eigenen Vorhaben. Was ich jetzt habe, ist das, was die übergeordnete Natur vorgesehen hat, und was ich zu erreichen mir vornehme, ist das, was meine Natur vorsieht.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5.25
Abraham Lincoln konnte gelegentlich fuchsteufelswild werden, mal mit einem Untergeordneten, mal mit einem seiner Generäle, ja sogar mal mit einem Freund. Anstatt mit der betreffenden Person alles zu besprechen, schrieb er ihr dann einen langen Brief, formulierte seine Sicht der Dinge, warum der andere die Dinge falsch sah, und was er ihn wissen lassen wollte. Dann faltete Lincoln den Brief und legte ihn in seine Schreibtischschublade. Er schickte diese Briefe nie ab – nur durch Zufall sind viele davon erhalten geblieben.
Lincoln wusste ebenso gut wie der ehemalige Kaiser von Rom, dass es einfach ist, sich zu wehren. Es ist verführerisch, seinem Gegenüber die Meinung zu sagen. Aber fast immer tut es einem danach leid. Fast immer wünscht man sich, man hätte den Brief nicht abgeschickt. Erinnere dich an das letzte Mal, als du die Fassung verloren hast. Was war das Ergebnis? Hat es irgendetwas genutzt?
27. Februar - Kultiviere Gleichgültigkeit, wo andere Leidenschaften hegen
»Von all den Dingen, die es gibt, sind manche gut, andere schlecht, andere wiederum gleichgültig. Die guten Dinge und alles, was daran teilhat, sind Tugenden; die schlechten und alles, was sich ihnen hingibt, sind Sünden; die gleichgültigen liegen genau zwischen Tugend und Sünde, sie umfassen Wohlstand, Gesundheit, Leben, Tod, Freud und Leid.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.19.12b–13
Stell dir vor, wie mächtig du in deinem Leben und in deinen Beziehungen wärst, wenn all die Dinge, mit denen sich andere Menschen beschäftigen – ihre Figur, wie viel Geld sie haben, wie lange sie noch leben werden, wie sie sterben werden – dir nicht so wichtig wären. Wie wäre das, wenn du objektiv, ruhig und bei klarem Verstand bleiben würdest, während alle anderen aufgebracht, neidisch, erregt, besitzergreifend oder gierig wären? Kannst du dir das vorstellen? Stell dir vor, wie sich das auf deine Beziehungen am Arbeitsplatz auswirken würde, auf dein Liebesleben oder deine Freundschaften.
Seneca war ein unfassbar reicher, ja sogar berühmter Mann, und er war zugleich ein Stoiker. Er besaß viele materielle Werte, doch die Stoiker berichten, dass sie ihm gleichgültig waren. Er genoss die Dinge, solange es sie gab, und akzeptierte, dass sie irgendwann vielleicht nicht mehr da sein würden. Um wie viel besser ist eine solche Haltung, als wenn man verzweifelt stets nur mehr anstrebt oder fürchtet, auch nur einen Cent Verlust zu machen. Gleichgültigkeit ist die beständige Mitte.
Es geht nicht darum, Dinge zu vermeiden oder gar zu verdammen, sondern darum, keinem der möglichen Ergebnisse mehr Macht oder mehr Vorzüge zuzugestehen, als angemessen. Dies ist gar nicht so einfach umzusetzen, aber wenn es dir gelänge, wie viel entspannter wärest du dann?
28. Februar - Wenn Du die Selbstbeherrschung verlierst
»Die Seele ist wie eine Schale Wasser und unsere Eindrücke sind wie die Lichtstrahlen, die auf die Wasseroberfläche fallen. Wenn die Wasseroberfläche unruhig ist, erscheint es einem, als würde auch das Licht sich bewegen, aber das stimmt nicht. Wenn also ein Mensch seine Selbstbeherrschung verliert, sind nicht seine Fähigkeiten und Tugenden in Bewegung, sondern die Seele, aufgrund derer diese existieren, und wenn die Seele zur Ruhe kommt, tun es auch die anderen Dinge.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.3.20–22
Dir ist ein kleiner Fehler unterlaufen. Oder sogar ein großer.
Na und? Das ändert nichts an der Philosophie, die du kennst. Es ist doch nicht so, als ob deine Entscheidungsgewalt dich permanent verlassen hätte. Nein, du warst es, der sich kurzfristig verabschiedet hat.
Denke daran, dass die Werkzeuge und Ziele unseres Trainings von momentanen Turbulenzen unberührt bleiben. Halte an. Gewinne deine Gelassenheit zurück. Sie wartet auf dich.
29. Februar - Du wirst nicht immer alles bekommen, was Du willst
»Wenn ein Kind in ein schmales Bonbonglas greift und die volle Faust nicht mehr aus der Öffnung bekommt, fängt es an zu weinen. Lass ein paar Bonbons fallen und du wirst deine Hand herausziehen können! Schränke deine Wünsche ein – lege dich nicht auf so viele Dinge fest und du wirst bekommen, was du brauchst.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.9.22
Wir können alles erreichen« – das ist das Mantra unseres modernen Lebens. Beruf, Familie, Ziele, Erfolg, Freizeit – wir wollen alles, und zwar alles auf einmal (und zwar jetzt). Im alten Griechenland war die scholeion, oder der Vortragssaal, ein Ort der Erholung, an dem Schüler sich mit dem höheren Gut (dem Guten, Wahren und Schönen) beschäftigten, um ein besseres Leben führen zu können. Es ging darum, Prioritäten zu setzen, sich bewusst zu werden, was in der Welt wichtig ist. Heute sind wir viel zu sehr damit beschäftigt, Materielles anzuhäufen – wie die Kinder, deren Hände im Bonbonglas feststecken. Wir hinterfragen kaum mehr etwas.
»Lege dich nicht auf so viele Dinge fest«, sagt Epiktet. Konzentriere dich. Setze Prioritäten. Schule deinen Verstand, indem du dich fragst: Brauche ich dieses Objekt? Was wird passieren, wenn ich es nicht bekomme? Werde ich ohne es klarkommen?
Die Antworten zu diesen Fragen werden dir helfen, dich zu entspannen, die unwichtigen Dinge zu reduzieren, die dich dauernd auf Trab halten und daran hindern, ausgeglichen und glücklich zu sein.
März - Aufmerksamkeit
1. März - Wo Philosophie beginnt
»Um Philosophie zu beginnen, ist es besonders wichtig, über eine klare Wahrnehmung des eigenen Leitprinzips zu verfügen.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 1.26.15
Philosophie ist einschüchternd. Wo soll man beginnen? Mit Büchern? Mit Vorträgen? Mit dem Verkauf irdischer Besitztümer?
Nichts von alledem. Epiktet sagt, dass man zum Philosophen wird, wenn man sich darin übt, sich von der Vernunft leiten zu lassen, und beginnt, Gefühle, Überzeugungen und selbst Sprache infrage zu stellen, die andere Menschen als gegeben hinnehmen. Es heißt, dass ein Tier über Selbstwahrnehmung verfügt, wenn es in der Lage ist, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Vielleicht könnten wir sagen, dass wir unsere Reise in die Philosophie beginnen, wenn wir uns bewusst werden, dass wir unseren eigenen Verstand analysieren können.
Kannst du heute mit diesem Schritt beginnen? Wenn du das tust, wirst du herausfinden, dass wir richtig aufblühen und ein Leben führen – um mit Sokrates zu sprechen –, das wirklich lebenswert ist.
2. März - Genaue Selbstbeurteilung
»Für einen Menschen ist es vor allem wichtig, sich selbst gut einschätzen zu können, denn im Allgemeinen glauben wir, dass wir mehr können, als es tatsächlich der Fall ist.«
-- Seneca, Von der Ruhe des Gemüts, 5.2
Den meisten Menschen widerstrebt der Gedanke, sich selbst angemessen einzuschätzen, vielleicht weil sie fürchten, dass sie dann einige ihrer Überzeugungen, nämlich wer sie sind und wozu sie fähig sind, nach unten korrigieren müssten. Schon Goethe stellte fest, dass es ein großer Fehler sei, »sich selbst als mehr zu sehen, als man ist«. Wie kannst du dich selbst realistisch einschätzen, wenn du dich dagegen wehrst, dir deine Schwächen einzugestehen?
Habe keine Angst vor der Selbstbeurteilung, sei nicht besorgt, dass du dir dann bestimmte Sachen eingestehen musst. Die zweite Hälfte von Goethes Maxime ist ebenso wichtig. Er stellte fest, dass es gleichermaßen schädlich ist, »sich selbst unter seinem wahren Wert einzuschätzen«. Passiert es nicht auch, dass wir überrascht sind, wie gut wir mit einem zuvor befürchteten Szenario umgehen können? Dass es uns gelingt, den Schmerz um einen geliebten Menschen hintanzustellen und uns um andere zu kümmern, obwohl wir überzeugt waren, dass wir am Boden zerstört wären, sollte unseren Eltern oder Geschwistern etwas zustoßen? Es ist die Art und Weise, wie wir über uns hinauswachsen können, wenn es eine stressige oder das Leben verändernde Situation erfordert.
Wir unterschätzen unsere Möglichkeiten ebenso sehr, wie wir andere Fähigkeiten überschätzen – beides ist gefährlich. Arbeite an deiner Fähigkeit, dich selbst genau und ehrlich zu beurteilen. Schau in dich hinein, um zu erkennen, wozu du fähig bist, und was erforderlich wäre, dein Potential auszuschöpfen.
3. März - (K)ein Teil des Ganzen
»Diese Dinge passen nicht zueinander. Du musst ein einheitlicher Mensch sein, entweder gut oder böse. Du musst sorgfältig an deinem eigenen Denken arbeiten oder aber an Dingen, die nicht in deiner Macht stehen. Gib gut auf dein Inneres acht, nicht auf das Außen, was so viel heißt wie: Bleibe dem Philosophen treu, sonst gehörst du zum Pöbel!«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.15.13
Wir alle sind kompliziert. Wir haben die unterschiedlichsten Seiten, mit widersprüchlichen Wünschen, Leidenschaften und Ängsten. Die Außenwelt ist nicht weniger verwirrend und widersprüchlich. Wenn wir nicht aufpassen, werden uns diese Kräfte – das ewige Hin und Her – zerreißen. Wir können nicht gleichzeitig wie Jekyll und Hyde leben. Zumindest nicht sehr lange.
Wir haben die Wahl: dem Philosophen treu zu bleiben und uns ganz auf unser Inneres zu konzentrieren, oder uns wie ein Rädelsführer zu verhalten und so zu werden, wie es die Masse gerade wünscht.
Wenn wir uns nicht ganz auf uns selbst konzentrieren – auf Selbstwahrnehmung –, riskieren wir, uns selbst zu verlieren.
4. März - Achtsamkeit ist Freiheit
»Diejenige Person ist frei, die nach ihren Wünschen lebt, weder erzwungen, noch behindert oder begrenzt ist, deren Entscheidungen nicht behindert werden, deren Wünsche sich erfüllen, und die sich nicht auf das einlässt, was sie abschreckt. Wer möchte denn im Selbstbetrug leben – aus der Bahn geraten, mit falschen Zielen, undiszipliniert, sich dauernd beschwerend, im Alltagstrott? Niemand. Es sind unwürdige Menschen, die nicht so leben, wie sie möchten – sie sind nicht frei.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.1.1–3a
Es ist schon traurig, wenn man sich überlegt, wie viele Menschen im Laufe eines Tages Dinge tun, die sie tun »müssen« – gemeint sind nicht die Verpflichtungen für Arbeit und Familie, sondern etwas, das man sich unnötigerweise aus Eitelkeit oder Dummheit auferlegt. Wenn man bedenkt, was wir alles machen, um andere Leute zu beeindrucken, oder welche Mühen wir auf uns nehmen, um unser Verlangen zu stillen oder Wünsche zu befriedigen, die wir erst gar nicht infrage stellen. In einem seiner berühmten Briefe bemerkt Seneca, wie oft mächtige Menschen sich ihrem Reichtum unterwerfen, ihren Stellungen, ihren Mätressen und sogar – weil es in Rom legal war – ihren Sklaven. »Keine Knechtschaft ist erbärmlicher«, spottete er, »als die sich selbst auferlegte.«
Wir können diese Form der Sklaverei ständig beobachten – ein emotional abhängiger Mensch, der nicht anders kann, als für seinen gestörten Freund immer alles in Ordnung zu bringen; ein Chef, der seinen Angestellten alles bis ins kleinste Detail vorschreibt und um jeden Cent feilscht. Die zahllosen Anlässe, Veranstaltungen und Treffen, für die wir eigentlich keine Zeit haben, die wir aber trotzdem nicht absagen.
Mache mal ab und zu eine Bestandsaufnahme deiner Verpflichtungen. Wie viele davon hast du dir selbst auferlegt? Wie viele davon sind tatsächlich notwendig? Bist du so frei, wie du glaubst?
5. März - Reduziere das Kostspielige
»Was nun die Dinge betrifft, denen wir hinterherjagen und für die wir uns ins Zeug legen, schulden wir uns folgende Überlegung: Entweder ist ihnen nichts Nützliches zu eigen oder sie sind meist zu nichts zu gebrauchen. Einige von ihnen sind überflüssig, während andere nicht viel wert sind. Aber wir erkennen das nicht und betrachten sie als gegeben, obwohl sie uns eine Menge gekostet haben.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 42.6
Von Senecas vielen Briefen ist dies vielleicht einer der wichtigsten, und der auch am wenigsten verstanden wurde. Er trägt darin ein Argument vor, dass in einer Gesellschaft immer größerer Häuser und stetig wachsender Besitztümer ungehört bleibt: dass dieser ständige Wachstum heimlich Kosten verursacht. Und je schneller wir uns das bewusst machen, desto besser.
Wir sollten uns daran erinnern, dass selbst das, was wir umsonst bekommen, Kosten verursacht, und sei es nur, dass wir für die Lagerung bezahlen – in unseren Garagen wie in unserem Kopf. Wenn du dir heute im Vorübergehen deine Besitztümer anschaust, frage dich: Brauche ich das? Ist das überflüssig? Was ist es tatsächlich wert? Was kostet es mich?
Du wirst von den Antworten überrascht sein und dich wundern, wie viel wir bezahlen, ohne es zu wissen.
6. März - Erzähle keine Geschichten
»Vermeide es, in der Öffentlichkeit häufig und ausgiebig von dem zu erzählen, was du erreicht hast und was dir widerfahren ist, auch wenn du es genießt, von deinen Fährnissen zu erzählen – so ist es für andere kein Vergnügen, sich deine Geschichten anzuhören.«
-- Epiktet, Enchiridion, 33.14
Der moderne Philosoph Nassim Taleb warnt uns vor »den Fallstricken« des Erzählens – vor der Tendenz, Ereignisse aus der Vergangenheit zu Geschichten zu verweben. Diese Geschichten sind grundsätzlich täuschend, auch wenn man sich an ihrer Entstehung erfreut. Sie vermitteln ein Gefühl von Zusammenhängen und Gewissheit, das aber nicht der Wirklichkeit entspricht.
Wem das zu komplex erscheint, der erinnere sich, dass Epiktet noch einen anderen Grund anführt, warum du keine Geschichten aus deiner Vergangenheit erzählen sollst. Es ist langweilig, lästig und selbstverliebt. Es mag dir ein gutes Gefühl geben, das Gespräch zu beherrschen und dich in den Mittelpunkt zu stellen, aber was glaubst du, wie sich andere dabei fühlen? Denkst du wirklich, dass Leute Spaß daran haben, sich die Höhepunkte deiner Fußballerkarriere zu Schulzeiten anzuhören? Ist eine weitere übertriebene Geschichte deiner erotischen Heldentaten wirklich angebracht?
Versuche dein Möglichstes, keine Fantastereien zu kreieren – lebe in der Realität. Höre den Menschen zu, sei aufgeschlossen ihnen gegenüber und spiele ihnen nichts vor.
7. März - Misstraue Deinen Sinnen
»Heraklit bezeichnete Selbstbetrug als schreckliche Krankheit und das Augenlicht als einen lügnerischen Sinn.«
-- Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 9.7
Selbstwahrnehmung ist die Fähigkeit, sich selbst objektiv zu betrachten. Es ist die Fähigkeit, unsere eigenen Instinkte, Verhaltensmuster und Annahmen infrage zu stellen. Oiêsis, Selbsttäuschung oder überhebliche und unwidersprochene Meinungen, machen es erforderlich, dass wir alle unsere Ansichten einer harten Prüfung unterziehen; selbst unsere Augen können uns täuschen.
Das mag einerseits alarmierend sein. Ich kann noch nicht mal meinen eigenen Sinnen trauen?! Sicherlich kannst du das. Aber sehe es doch mal so: Weil unsere Sinne häufig falsch liegen, unsere Gefühle übermäßig gesteigert und unsere Einschätzungen über die Maßen optimistisch sind, sind wir besser beraten, wenn wir keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Wir können bei allem, was wir tun, kurz innehalten und uns über das bewusst werden, was um uns herum passiert, sodass wir die richtige Entscheidung treffen.
8. März - GIB DEINE FREIHEIT NICHT UNFREIWILLIG AUS DER HAND
»Wenn jemand deinen Körper einer zufällig vorübergehenden Person geben würde, wärest du entsetzt. Aber deinen Verstand gibst du jedem Dahergelaufenen, lässt dich missbrauchen, bis du verstört und gepeinigt zurückbleibst – schämst du dich nicht?«
-- Epiktet, Enchiridion, 28
Wir beschützen unseren Körper instinktiv. Wir lassen uns nicht einfach anfassen, herumschubsen oder von anderen Leuten sagen, wohin wir uns wenden sollen. Aber wenn es um unseren Verstand geht, sind wir weniger diszipliniert. Wir liefern ihn freiwillig den sozialen Medien aus, dem Fernsehen oder dem, was andere Leute tun, denken oder sagen. Wir setzen uns hin, um zu arbeiten, und ehe wir uns versehen, surfen wir schon wieder im Internet. Wir setzen uns mit der Familie zusammen und wenige Minuten später holen wir unsere Smartphones aus der Tasche. Wir setzen uns friedlich in den Park, aber statt über uns selbst nachzudenken, fällen wir Urteile über Passanten.
Wir verstehen noch nicht einmal, warum wir so handeln. Wir erkennen nicht, wie viel wir verschwenden, wie ineffizient und fahrig uns das macht. Und das Schlimmste ist, dass uns niemand dazu zwingt. Es ist vollkommen freiwillig.
Für die Stoiker ist das ein Gräuel. Sie wissen, dass die Welt unsere Körper beherrschen kann – wir können ins Gefängnis geworfen werden oder ein Spielball des Wetters sein. Aber der Verstand? Der gehört uns. Wir müssen ihn beschützen. Behalte die Kontrolle über deinen Verstand und deine Wahrnehmung, sagen die Stoiker. Es ist dein wertvollster Besitz.
9. März - Suche den richtigen Umgang
»Vor allem ziehe eines in Betracht: Lasse dich nie so stark an deine ehemaligen Bekannten und Freunde binden, dass sie dich auf ihr Niveau herunterziehen. Wenn du das nicht beachtest, bist du ruiniert ... Du musst wählen, ob du von diesen Freunden geliebt werden möchtest und immer derselbe bleibst, oder ob du dich auf Kosten deiner Freunde verbessern willst ... Wenn du beides versuchst, wirst du weder Fortschritte machen noch das behalten können, was du einmal hattest.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.2.1; 4–5
»Von guten Menschen wirst du Gutes lernen, aber wenn du dich unter schlechte begibst, wird deine Seele Schaden nehmen.«
-- Musonius Rufus, der Theognis von Megara zitiert,
-- Vorträge, 11.53.21–22
Jim Rohns weithin bekanntes Zitat lautet: »Du bist der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen du die meiste Zeit verbringst.« James Altucher rät jungen Autoren und Unternehmern, sich ihre »Szene« zu suchen – eine Gruppe Gleichgesinnter, die einen anspornt, sich zu verbessern. Dein Vater hat dich vielleicht gewarnt, als du vermeintlich schlechten Umgang hattest: »Denk daran, du wirst wie deine Freunde.« Eine von Goethes Maximen bringt es treffender auf den Punkt: »Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.«
Achte darauf, mit wem du in deinem Leben Umgang pflegst, aber nicht aus snobistischem Elitedenken, sondern wie jemand, der versucht, das Beste aus dem Leben herauszuholen. Prüfe selbst, welche Leute du triffst und mit wem du deine Zeit verbringst: Machen sie mich besser? Ermutigen sie mich voranzukommen und übertragen sie mir Verantwortung? Oder ziehen sie mich auf ihr Niveau herunter? Wenn du dir das vergegenwärtigst, stelle dir die wichtigste Frage: Sollte ich mehr oder weniger Zeit mit diesen Leuten verbringen?
Der zweite Teil von Goethes Zitat zielt auf das, was auf dem Spiel steht: »Weiß ich, womit du dich beschäftigst, dann weiß ich, was aus dir werden kann.«
10. März - Suche Dir einen Cato
»Wir können die meisten Sünden vermeiden, wenn wir jemanden haben, der uns beisteht, sobald wir im Begriff sind, falsch zu handeln. Die Seele braucht jemanden, den sie respektieren kann, dessen Beispiel ihr hilft, unantastbar zu bleiben. Glücklich ist der Mensch, der andere verbessern kann, nicht nur, wenn er anwesend ist, sondern sogar, wenn sie bloß an ihn denken!«
-- Seneca, Moralische Briefe, 11.9
Cato der Jüngere, ein römischer Politiker, der besonders für seine Selbstdisziplin und seine heldenhafte Verteidigung der Republik gegen Julius Caesar bekannt geworden ist, taucht ständig in der Literatur der Stoiker auf – was vor allem deshalb interessant ist, weil er nichts Schriftliches hinterlassen hat. Er gab keinen Unterricht. Er führte keine Lehrgespräche. Seine Stärke und Tapferkeit sind es, die aus ihm einen beispielhaften Philosophen gemacht haben.
Seneca empfiehlt jedem von uns, sich seinen eigenen Cato zu suchen – eine große und edle Persönlichkeit, der wir uns anvertrauen und die unsere Geschicke lenkt, selbst wenn sie körperlich nicht anwesend ist. Der Ökonom Adam Smith verfolgte ein ähnliches Konzept und sprach dabei vom unparteiischen Beobachter. Es muss keine wirkliche Person sein, nur jemand, der, wie Seneca es ausdrückt, unser Verhalten kontrolliert. Jemand, der uns als moralische Instanz dient, wenn wir im Begriff sind, etwas aus Faulheit, Unehrlichkeit oder Eigennützigkeit zu tun.
Und wenn wir richtig handeln und unser Leben derart gestalten, können wir vielleicht selbst jemand anderem als Cato oder unparteiischer Beobachter dienen.
11. März - Lebe ohne Einschränkungen
»Ein Mensch ist dann frei, wenn er uneingeschränkt in jeder Situation die Entscheidung selbst in der Hand hat. Aber jeder, der eingeschränkt, genötigt und zu etwas gezwungen werden kann, ist ein Sklave.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.1.128b–129a
Wirf mal einen Blick auf einige der mächtigsten, reichsten und berühmtesten Menschen der Welt. Lass das Drumherum ihres Erfolgs außer Acht und ignoriere, was sie sich alles kaufen könnten. Schau stattdessen, was sie dafür geben mussten. Schau, was der Erfolg sie gekostet hat.
Und was ist es? Freiheit. Die Arbeit macht es erforderlich, dass sie Anzüge tragen. Ihr Erfolg hängt davon ab, dass sie bestimmte Partys besuchen und sie müssen sich mit Menschen gutstellen, die sie nicht mögen. Das erfordert zwangsläufig, dass sie feststellen müssen, dass sie nicht mehr sagen können, was sie wirklich denken. Noch schlimmer ist, dass es sie zwingt, ein anderer Mensch zu werden oder schlechte Dinge zu tun.
Sicher, es mag gut bezahlt sein, aber sie haben diesen Handel nicht wahrhaft bedacht. Wie sagte Seneca: »Sklaverei haust in Marmor und Gold.« Zu viele erfolgreiche Menschen sitzen in Gefängnissen, die sie sich selbst errichtet haben. Kannst du so etwas wollen? Ist es das, worauf du mühsam hinarbeitest? Besser nicht.
12. März - Sieh die Dinge wie ein Mensch, der im Irrtum ist
»Wenn dir jemand etwas antut, überlege sofort, ob er dabei Gutes oder Schlechtes im Sinn hat. Wenn du das erkannt hast, wirst du Mitleid haben, anstatt dich zu wundern oder wütend zu sein. Vielleicht hast du dieselbe oder eine ähnliche Auffassung von Gut und Böse, sodass du ihm seine Tat verzeihen kannst. Wenn du aber nicht derselben Auffassung bist, wirst du eher bereit sein, gegenüber seinem Fehler nachsichtig zu sein.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7.26
Sokrates, der vielleicht klügste Mann, der jemals gelebt hat, pflegte zu sagen, dass »niemand gerne etwas falsch macht«. Was bedeutet, dass niemand absichtlich etwas verkehrt macht. Niemand denkt, dass er falsch liegt, selbst wenn dies der Fall ist. Man glaubt, man sei im Recht, ist jedoch im Irrtum. Anderenfalls würde man es ja auch nicht glauben!
Könnte es sein, dass dir die Kränkungen, die du erfahren hast, oder das Leid, das andere dir angetan haben, nicht absichtlich zugefügt worden sind? Was wäre, wenn sie einfach gedacht haben, das Richtige zu tun, für dich als auch für sich selbst? Es ist wie bei dem Confederate Memorial in Arlington, dem Denkmal für die gefallenen Soldaten (die offensichtlich aus einem falschen Grund kämpften und im Irrtum waren), auf dem unter anderem steht, dass die konföderierten Soldaten »in einfacher Ausführung ihrer Pflicht, wie sie diese verstanden«, dienten. Noch einmal: Sie verstanden es falsch, handelten aber aufrichtig, genau wie Lincoln aufrichtig war, als er seine berühmte Cooper-Union-Rede mit den Worten beendete: »Lasst uns bis zum Ende wagen, unsere Pflicht zu tun, so, wie wir sie verstehen.
Wie viel toleranter und verständnisvoller wärest du heute, wenn du die Handlungen anderer Menschen als Versuche, das Richtige zu tun, betrachten würdest? Ob du ihnen beipflichtest oder nicht, wie radikal würde sich deine Sichtweise auf vermeintlich aggressives oder beleidigendes Verhalten ändern?
13. März - Eines Tages wird alles Sinn machen
»Wann immer du im Begriff bist, der Vorsehung die Schuld zu geben, betrachte es von der anderen Seite, und du wirst sehen, dass das, was geschehen ist, mit der Vernunft vereinbar ist.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.17.1
Zum Teil ist unser Kampf gegen Dinge, die passieren, darin begründet, dass wir so sehr auf unser Vorhaben fokussiert sind, dass wir vergessen, dass es hinter allem einen größeren Plan geben könnte, von dem wir nichts wissen. Ist es nicht so, dass manches, von dem wir annahmen, es sei ein Desaster, sich im Laufe der Zeit als Glücksfall erwiesen hat? Wir vergessen auch, dass wir nicht die einzigen sind, die zählen, und dass unser Verlust für jemand anderen ein Gewinn bedeuten kann.
Das Gefühl, dass einem geschadet wird, ist eine Frage des Bewusstseins. Wir müssen uns klar machen, dass alle Dinge eine Ursache haben, aber die Ursachen sind so unüberschaubar und universell, dass wir dies nicht immer erkennen können. Dass der unerwartet über uns hereinbrechende Hurrikan das Ergebnis eines Schmetterlingsflügelschlags irgendwo in der Hemisphäre war oder dass das Unglück, das uns widerfahren ist, nur das Vorspiel zu einer erfreulichen und beneidenswerten Zukunft war.
14. März - Selbsttäuschung ist unser Feind
»Zenon hätte auch gesagt, dass nichts unser Wissen mehr gefährdet als Selbsttäuschung.«
-- Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 7.23
Selbsttäuschung und Größenwahn: Das sind nicht nur lästige Charakterzüge. Egoismus ist mehr als bloß abschreckend und widerlich. Er ist der Erbfeind unserer Fähigkeit, zu lernen und uns weiterzuentwickeln.
Epiktet hat betont: »Es ist für einen Menschen unmöglich, etwas zu lernen, von dem er glaubt, dass er es schon weiß.« Wenn wir glauben, dass wir perfekt sind, ein anerkanntes Genie, werden wir uns nicht verbessern können, nichts mehr hinzulernen und uns nicht den Respekt anderer verdienen. So gesehen sind das Ego und die Selbsttäuschung die Feinde jener Dinge, die wir haben wollen, denn wir täuschen uns selbst, wenn wir glauben, wir besäßen sie schon.
Also müssen wir unserem Ego mit der gleichen Feindseligkeit und Verachtung begegnen, mit der es sich heimtückisch gegen uns stellt, und sei es auch nur für die nächsten 24 Stunden.
15. März - Die Gegenwart ist alles, was wir besitzen
»Selbst wenn du 3000 Jahre und noch unendlich viel länger leben würdest, denke daran: Niemand kann ein anderes Leben verlieren als das, das er gerade führt. Das längste Leben ist also genauso begrenzt wie das kürzeste, denn die Gegenwart ist für alle gleich und sie ist alles, was wir besitzen. Niemand kann die Vergangenheit oder die Zukunft verlieren, denn wie sollte man einem etwas nehmen, das er nicht besitzt.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 2.14
Achte heute darauf, wie oft du mehr verlangst. Will heißen, wie oft du wünschst, deine Vergangenheit hätte mehr zu bieten (sie wäre anders, besser, nachhaltiger usw.), als es der Fall ist, oder wenn du dir eine Zukunft vorstellst, die genau deinen Erwartungen entspricht (ohne einen Gedanken darauf zu verwenden, wie dies andere Menschen betrifft).
Dann vernachlässigst du den Moment der Gegenwart. Wie undankbar. Es gibt eine Redensart, die dem Cartoonisten Bil Keane zugesprochen wird: »Gestern war Vergangenheit, morgen ist die Zukunft, heute ist ein Geschenk. Deswegen heißt es auch Präsens – wie Präsent.« Dieses Präsent ist in unserem Besitz – aber es hat ein Ablaufdatum, das schneller kommt, als man meint. Doch wenn du jeden Moment genießt, ist es reichlich. Es könnte ein Leben lang reichen.
16. März - Das besondere in Dir
»Halte deine Fähigkeit, zu verstehen, in Ehren. Denn sie umschließt alles, und unser Leitprinzip wird es nicht zulassen, dass etwas eindringt, das weder der Natur noch einem logisch denkenden Wesen zuträglich ist. Diese Fähigkeit verlangt angemessenen Fleiß, Fürsorge und Gottgefälligkeit.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 3.9
Die Tatsache, dass du denken kannst, die Tatsache, dass du dieses Buch lesen kannst, die Tatsache, dass du in der Lage bist, in und aus einer Situation heraus vernünftig zu urteilen – all dies befähigt dich, deine Verhältnisse und dich selbst zu verbessern. Es ist wichtig, diese Fähigkeit zu schätzen, denn sie ist einmalig. Nicht jeder kann sich so glücklich schätzen.
Im Ernst: Was du für selbstverständlich hältst, davon würden andere nicht zu träumen wagen.
Nimm dir heute ein wenig Zeit und vergegenwärtige dir, dass du mit der Fähigkeit gesegnet bist, mit Logik und Vernunft dir deinen Weg durch Situationen und Sachverhalte zu bahnen. Das gibt dir die Macht, deine Umstände und die von anderen zu verändern. Doch denke daran: Mit der Macht kommt die Verantwortung.
17. März - Die Schönheit der Entscheidung
»Du bist nicht dein Körper und deine Frisur, sondern die Fähigkeit, richtig zu entscheiden. Wenn deine Entscheidungen schön sind, wirst du es auch sein.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.1.39b–40a
Unvergessen sind diese Zeilen aus dem Film Fight Club: »Du bist nicht dein Job. Du bist nicht dein Geld auf dem Konto. Du bist nicht das Auto, das du fährst. Du bist nicht der Inhalt deiner Brieftasche.« Natürlich hat unser Freund Epiktet weder den Film gesehen noch das Buch gelesen, aber anscheinend existierte der Materialismus der 1990er-Jahre auch im alten Rom.
Schnell bringen wir das Bild von uns, das wir nach außen hin präsentieren, mit unserem wahren Ich durcheinander, besonders, weil in den sozialen Medien kein Unterschied gemacht wird zwischen Image und Identität.
Du magst heute schön aussehen, aber wenn dies das Ergebnis selbstgefälliger morgendlicher Anstrengungen vor dem Spiegel ist, würden die Stoiker fragen: Bist du wirklich schön? Ein Körper, der von harter Arbeit geformt ist, ist bewundernswert. Ein Körper, der Fitness-Freaks beeindrucken soll, ist es nicht.
Den Stoikern ist es wichtig, dass wir abwägen: Es ist nicht wichtig, wie die Dinge erscheinen, sondern welche Anstrengung, Arbeit und Entscheidung ihnen zugrunde liegen.
18. März - Nichts geht ohne Dein Einverständnis
»Heute bin ich allen bedrückenden Umständen ausgewichen, besser gesagt, ich habe mich von ihnen befreit, denn der Druck kam nicht von außen, sondern von mir und meinen Annahmen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 9.13
An manchen Tagen seufzen wir vielleicht: »Meine Arbeit überfordert mich.« Oder: »Mein Chef nervt mich.« Wenn wir nur einsehen könnten, dass das unmöglich ist. Niemand kann dich nerven, Arbeit kann dich nicht überfordern – dies sind äußere Objekte, und sie haben keinen Zugang zu deinem Verstand. Die Gefühle, die du empfindest, so real sie auch sein mögen, kommen von innen, nicht von außen.
Die Stoiker nennen das hypolêpsis, was »aufgreifen« bedeutet, von Wahrnehmungen, Gedanken und Urteilen. Was wir annehmen, welche Hirngespinste wir fabrizieren, das liegt an uns selbst. Wir können anderen Leuten ebenso wenig vorwerfen, dass sie dafür verantwortlich sind, wenn wir uns gestresst fühlen oder frustriert sind, wie für unsere Eifersucht. Die Ursache liegt bei uns selbst. Sie sind nur die Zielscheibe.
19. März - Ewige Weisheit
»Es gibt zwei Regeln, die du stets beherzigen solltest: Es gibt nicht Gutes oder Schlechtes außerhalb meiner eigenen Entscheidungsgewalt, und wir sollten nicht versuchen, Ereignisse zu lenken, sondern ihnen folgen.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.10.18
Mitte des 20. Jahrhunderts lebte in Indien der Jesuitenpriester Anthony de Mello. Er war in Bombay geboren, noch zu Zeiten des britischen Empires, und er vereinte verschiedene Kulturen und Sichtweisen der östlichen wie der westlichen Welt in sich; zudem war er ausgebildeter Psychotherapeut. Es ist interessant zu sehen, wie zeitlos Weisheit ist und wie sie sich hinweg über Schulen, Epochen und Vorstellungen entwickelt. Hier ein Zitat aus Mellos Buch The Way to Love, das fast so klingt, als sei es von Epiktet:
»Der Grund meiner Verärgerung liegt nicht bei einem anderen Menschen, sondern bei mir.«
Denke daran: Jedes Individuum kann frei entscheiden. Letzten Endes liegt es immer in deiner Hand. Die Ursache für Irritationen oder unser Gefühl, dass etwas schlecht ist, liegt in uns, abhängig davon, wie wir Dinge einschätzen und was wir erwarten. Wir können unsere Einschätzungen ganz leicht verändern; wir können unsere Ansprüche verändern und beschließen zu akzeptieren, was rund um uns geschieht, und es genießen. Diese Weisheit wurde immer schon wiederholt, sie wird auch immer wieder neu entdeckt, in jedem Jahrhundert und in jedem Land.
20. März - Sei stets bereit
»Ich mag mir wünschen, dass ich nie Folter erleiden muss, aber wenn es so weit wäre, dass ich sie erdulden müsste, wünschte ich mir den Mut, sie tapfer und ehrenhaft zu ertragen. Würde ich es nicht vorziehen, in keinen Krieg hineingezogen zu werden? Aber wenn mich der Krieg heimsuchen würde, wünschte ich, dass ich erhobenen Hauptes die Wunden und den Hunger ertrage, und alles, was der Krieg sonst noch mit sich bringt. Ich wäre auch nicht so verrückt, mir Krankheit zu wünschen, aber wenn ich Krankheiten erleiden muss, wünschte ich, dass ich nicht überstürzt oder unwürdig handeln würde. Nicht solche Widrigkeiten sind wünschenswert, sondern die Tugendhaftigkeit, mit der Widrigkeiten ertragen werden.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 67.4
Der US-Präsident James Garfield war ein berühmter Mann, der in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen war, ein Autodidakt, der schließlich zum Bürgerkriegshelden avancierte, dessen Präsidentschaft jedoch nach kurzer Zeit durch die Kugel eines Attentäters jäh beendet wurde. In seiner kurzen Amtszeit musste er sich mit einem zutiefst gespaltenen Land sowie mit einer verbitterten und innerlich zerrütteten republikanischen Partei auseinandersetzen. Während einer Konfrontation, bei der die Autorität seines Amts infrage gestellt wurde, blieb er hart und sagte einem Berater: »Natürlich lehne ich den Krieg ab, aber wenn er bis an meine Tür gelangt, werde ich bereit sein.«
Genau das besagt auch Senecas Zitat. Wir wären verrückt, wenn wir uns freiwillig mit den Schwierigkeiten im Leben konfrontieren wollten. Wir wären aber ebenso verrückt, wenn wir so tun würden, als könne nichts Schlimmes passieren. Wenn das Unglück an unsere Tür klopft – was jederzeit der Fall sein kann – sollten wir vorbereitet sein. Nicht so, wie wenn wir spät abends überraschend Besuch bekommen, sondern als würden wir auf einen wichtigen Gast warten: angekleidet, wach und bereit.
21. März - Suche Einkehr bei Dir, nicht woanders
»Um sich zurückzuziehen, suchen die Menschen nach Orten, auf dem Land, am Meer oder in den Bergen. Wahrscheinlich sehnst auch du dich nach solchen Orten. Dabei ist das vollkommen einfältig, denn du kannst dich jederzeit in dich selbst zurückziehen. Es gibt keinen friedlicheren und sorgenloseren Ort als deine eigene Seele, besonders da sie bei näherer Betrachtung ein Ort der inneren Ruhe ist, also nicht weniger als eine innere Ordnung. Diesen Rückzug solltest du möglichst oft anstreben und dich erholen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 4.3.1
Stehst du kurz vor einem Urlaub? Freust du dich auf das Wochenende, um dich mal richtig erholen zu können? Du denkst: Vielleicht wird es besser, sobald sich die Dinge beruhigt haben, oder nachdem ich das hinter mich gebracht habe. Aber wie oft hat das wirklich funktioniert?
Jon Kabat-Zinn, der Zen und Achtsamkeitsmeditation lehrt, prägte folgenden Spruch: »Wohin du auch gehst, dort bist du.« Wir können jederzeit einen Zufluchtsort finden, indem wir in uns gehen. Wir können uns mit geschlossenen Augen hinsetzen und unseren Atem spüren. Wir können Musik hören und die Welt ausblenden. Wir können alles Technische ebenso abschalten wie die rasenden Gedanken in unserem Kopf. Das wird uns inneren Frieden geben. Nichts anderes.
22. März - Das zeichen wahrer Bildung
»Was heißt es denn, gut ausgebildet zu sein? Es bedeutet, dass wir lernen, unsere natürlichen Vorteile auf die richtigen Dinge anzuwenden, und darüber hinaus unterscheiden können, was in unserer Macht steht und was nicht.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 1.22.9–10a
Ein Diplom an der Wand weist auf deine Bildung hin, ebenso wie die Schuhe an deinen Füßen bedeuten, dass du laufen kannst. Es ist ein Anfang, aber noch lange nicht genug.
Wieso würden sonst so viele »gebildete« Menschen unvernünftige Entscheidungen treffen? Oder so viel Offensichtliches übersehen? Teilweise liegt das daran, dass sie vergessen haben, sich nur auf das zu konzentrieren, was in ihrer Macht steht. Ein erhaltenes Fragment des Philosophen Heraklit bringt dies zum Ausdruck:
»Viele, die von Hesiod die zahllosen Namen von Göttern und Ungeheuern gelernt haben, haben nie begriffen, dass Tag und Nacht eins sind.«
Ebenso, wie du gut auch ohne Schuhe laufen kannst, musst du auch kein Klassenzimmer betreten, um die grundsätzliche Realität der Natur und unsere angemessene Rolle in ihr zu verstehen. Beginne mit Achtsamkeit und Reflektion. Nicht nur einmal, sondern in jeder Sekunde an jedem Tag.
23. März - Die geknebelte Seele
»Eine vernunftgeleitete Seele leidet an hartnäckigen Lastern wie Gier und Ehrgeiz. Diese knebeln die Seele und verrichten ihr Teufelswerk. Kurzum, sie beeinträchtigen das Urteilsvermögen so unerbittlich, dass das, was kaum wünschenswert ist, heftig angestrebt wird.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 75.11
In der großen Finanzkrise Ende der 2000er-Jahre verloren hunderte kluger, vernünftiger Menschen Billiarden von Dollar. Wie konnten so kluge Köpfe nur so töricht sein? Diese Menschen kannten das System, wussten, wie die Märkte funktionierten und handelten mit Billionen, wenn nicht Billiarden von Dollar. Und doch lag fast jeder von ihnen falsch – so falsch, dass die Märkte weltweit kollabierten.
Es ist nicht schwer, auf diese Situation zu schauen und zu dem Schluss zu kommen, dass die Gier ein Teil des Problems war. Gier verleitete die Menschen dazu, komplizierte und kaum noch überschaubare Märkte zu entwickeln, in der Hoffnung, schnelles Geld zu verdienen. Gier brachte andere Menschen dazu, mit Schuldenbergen Handel zu treiben. Gier hielt jeden davon ab, die Situation als das zu benennen, was sie war – ein Kartenhaus, bei dem die leichteste Brise genügte, um es zusammenstürzen zu lassen.
Es bringt nichts, diese Leute nach vollbrachten Tatsachen noch groß zu kritisieren. Es nutzt mehr, wenn du schaust, welche Auswirkung Gier und andere Laster auf dein eigenes Leben haben. Wie beeinträchtigen sie dein Urteilsvermögen? Welche »Krankheiten« könntest du haben?
Und wie kann deine Vernunft einschreiten und sie regulieren?
24. März - Philosophie ist überall
»Iss wie ein Mensch, trinke wie ein Mensch, kleide dich, heirate, zeuge Kinder, werde politisch aktiv, erdulde Erniedrigungen, habe Nachsicht mit einem eigensinnigen Bruder, Vater, Sohn, Nachbarn oder Freund. Zeige uns all das, sodass wir erkennen, was du wirklich von den Philosophen gelernt hast.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.21.5–6
Plutarch, ein römischer Biograf und ebenso ein Bewunderer der Stoiker, beschäftigte sich erst sehr spät mit den Größen der römischen Literatur. Aber er erinnert sich in seiner Biografie des Demosthenes, dass er überrascht war, wie schnell er alles begriffen hatte. So schrieb er: »Es waren nicht so sehr Worte, die dafür sorgten, dass ich all das Beschriebene verstand, ich hatte selbst ähnliche Erfahrungen gemacht, die mir erlaubten, die Bedeutung der Worte gleich zu begreifen.«
Genau das meint Epiktet, wenn er vom Studium der Philosophie spricht. Studiere, ja, aber sieh zu, dass du auch sonst dein Leben lebst. Nur so wirst du wirklich verstehen, was das alles zu bedeuten hat. Denn: Nur an deinen Taten und Entscheidungen wirst du mit der Zeit erkennen können, ob du dir irgendwelche Lehren zu Herzen genommen hast.
Mache dir das heute bewusst, wenn du zur Arbeit gehst, einer Verabredung nachkommst, wählen gehst, abends deine Eltern anrufst, dem Nachbar zuwinkst, dem Boten ein Trinkgeld gibst oder einem geliebten Menschen Gute Nacht sagst. All das ist Philosophie. All das ist eine Erfahrung, die den Worten Bedeutung verleiht.
25. März - Wohlstand und Freiheit kosten nichts
»... Freiheit sicherst du dir nicht, indem du dir Herzenswünsche erfüllst, sondern indem du auf deine Wünsche verzichtest.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.1.175
Es gibt zwei Wege zum Wohlstand: Alles zu bekommen, was man sich wünscht, oder sich alles zu wünschen, was du hast. Was genau ist hier und jetzt leichter zu erreichen? Dasselbe gilt für die Freiheit. Wenn du dich aufreibst, kämpfst und haderst, um mehr zu erreichen, wirst du nie frei sein. Doch wenn du die Nischen der Freiheit, die du bereits hast, finden und dich auf diese konzentrieren würdest? Dann wärest du genau in diesem Moment, im Hier und Jetzt, ganz frei.
26. März - Was bestimmt Dein Leitprinzip?
»Wie organisiert sich dein Leitprinzip? Darin liegt der Schlüssel zu allem. Was auch immer darüber hinausgeht, sei es im Bereich deiner Entscheidungsgewalt oder nicht, ist nichts als Rauch und ein Leichnam.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 12.33
Der römische Satiriker Juvenal wurde durch diese Frage berühmt: Quis custodiet ipsos custodes? (Wer bewacht die Wächter?) In gewisser Weise mag sich das auch Marc Aurel gefragt haben – und die Frage könntest du dir ebenfalls täglich stellen. Was beeinflusst das Leitprinzip, das dich durch dein Leben führt?
Das bedeutet, sich mit Themen aus der Evolutionsbiologie, Psychologie, Neurologie bis hin zum Unterbewusstsein zu beschäftigen. Denn tiefere Kräfte formen selbst den diszipliniertesten und rationalsten Verstand. Du kannst der geduldigste Mensch der Welt sein, aber wenn die Wissenschaft doch nachweist, dass wir mit einem leeren Magen die falschen Entscheidungen treffen – was nutzt dir all deine Geduld?
Deswegen bleibe nicht beim Stoizismus stehen, sondern untersuche die Kräfte, die den Stoizismus antreiben und möglich machen. Lerne, was die Philosophie, die du studierst, untermauert, was Körper und Geist antreibt. Versuche, nicht nur das Leitprinzip – die Wächter – zu verstehen, sondern auch, von wem und von was es bestimmt wird.
27. März - Zahle, was die Dinge wert sind
»Diogenes von Sinope hat einmal gesagt, dass wir Dinge von großem Wert für Dinge von geringem Wert verkaufen, und umgekehrt.«
-- Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 6.2.35b
Für knapp 200 000 Dollar kannst du ein diamantenbesetztes Sofa von Plume Blanche kaufen. Es ist auch möglich, eine Person anzuheuern, die für 500 Dollar jemanden umbringt. Denke beim nächsten Mal daran, wenn jemand herumfaselt, dass der Markt bestimmt, was die Dinge wert sind. Der Markt mag rational sein – aber die Menschen, die ihn betreiben, sind es nicht.
Diogenes, der die Schule des Kynismus begründete, hob stets den wahren Wert (axia) der Dinge hervor. Dieser Gedanke wurde im Stoizismus aufgegriffen und sowohl von Epiktet als auch Marc Aurel behandelt. Man verliert leicht den Überblick. Wenn Menschen um dich herum ein Vermögen für Schmuck verschleudern, den sie nicht mitnehmen können, wenn sie sterben, mag dir auch das als eine gute Investition erscheinen.
Obwohl es das natürlich nicht ist. Die guten Dinge im Leben kosten, was sie kosten. Die unnötigen Dinge sind nichts wert, egal, was sie kosten. Die Kunst besteht darin, den Unterschied zu erkennen.
28. März - Habe einen Plan
»Ein Leben ohne Plan ist unberechenbar. Sobald du an einem Ort bist, brauchst du Prinzipien. Ich glaube, du wirst zugeben, dass nichts beschämender ist, als unsicheres und wankelmütiges Verhalten und ein feiger Rückzug. Dies wird uns in allen Angelegenheiten widerfahren, wenn wir nicht die Fehlerquellen ausfindig machen, die unsere Seele beeinflussen. Wir müssen verhindern, dass die Fehler dominieren, und uns deshalb stets redlich bemühen.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 95.46
Das gegnerische Team startet furios, geht früh in Führung und es bleibt dir keine Zeit mehr, dich davon zu erholen. Du gehst zu einem Geschäftstreffen, wirst auf dem falschen Fuß erwischt und das Ganze entwickelt sich zu deinen Ungunsten. Ein heikles Gespräch eskaliert zu einem lautstarken Streit. Du wechselst die Hauptfächer, nachdem du das Studium schon halbwegs geschafft hast, musst deinen Studienplan neu gestalten und machst deinen Abschluss erst spät. Kommt dir das bekannt vor?
Das ist das Chaos, das sich einstellt, wenn kein Plan vorhanden ist. Nicht, weil Pläne grundsätzlich perfekt sind, sondern weil Menschen ohne Plan – wie eine Reihe Infanteristen ohne Führer – wahrscheinlich viel leichter überwältigt werden und aufgeben. Bill Walsh, ein Trainer, dessen Team den Super Bowl gewonnen hat, versuchte, dieses Risiko zu vermeiden, indem er den Beginn seiner Spiele akribisch aufzeichnete. »Wenn ihr die Nacht vor dem Spiel schlafen wollt«, sagte er in einem Vortrag zum Erstellen von Spielplänen, »dann müsst ihr die ersten 25 Spielzüge schon einen Abend vorher in eurem Kopf haben. Ihr könnt dann ins Stadion einlaufen und das Spiel ganz ohne Stress beginnen.« Zudem kannst du so ein paar früh erzielte Punkte oder eine Überraschung des Gegners ignorieren – das ist für dich nicht wichtig, denn du hast bereits deinen Marschbefehl.
Versuche nicht, zu improvisieren. Habe einen Plan.
29. März - Warum willst Du diese Leute wieder beeindrucken?
»Solltest du jemals deinen Willen auf etwas richten, das nicht in deiner Macht steht, um jemand anderen zu beeindrucken, dann sei versichert, dass du damit den Sinn deines Lebens zunichtemachst. Sei also zufrieden damit, in allem, was du tust, ein Philosoph zu sein, und wenn du auch als ein solcher angesehen werden möchtest, dann beweise erst dir selbst, dass du einer bist, und du wirst erfolgreich sein.«
-- Epiktet, Enchiridion, 23
Gibt es irgendetwas Beschämenderes als unsere verzweifelten Versuche, andere zu beeindrucken? Was wir alles unternehmen, um die Anerkennung von jemandem zu bekommen, erscheint uns im Rückblick wie ein zeitweiliger Anflug von Wahnsinn. Plötzlich tragen wir unbequeme, lächerlich aussehende Kleidung, ändern unsere Essgewohnheiten und Gesprächsthemen, warten ungeduldig auf einen Anruf oder eine Nachricht. Wenn wir all das täten, weil es uns gefällt, wäre das etwas anderes. Aber dem ist ja nicht so. Es ist nur ein Mittel zum Zweck, um von jemandem Anerkennung zu erhalten.
Wie Marc Aurel wiederholt betont hat, liegt die Ironie darin, dass die Menschen, auf deren positive Beurteilung wir aus sind, selbst auch gar nicht so großartig sind. Auch sie haben Fehler und lassen sich von allen möglichen lächerlichen Dingen ablenken und begeistern. Wir wissen das und wollen doch nicht darüber nachdenken. Um noch einmal Fight Club zu zitieren: »Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen.«
Klingt das nicht ganz schön albern? Aber was entscheidender ist: Bringt dich das nicht völlig ab von der Gelassenheit und Sicherheit, die dir die Philosophie bietet?
30. März - Alles folgt einem Leitprinzip
»Greife stets auf dein eigenes Leitprinzip zurück, auf das des Universums und deines Nachbarn. Dein eigenes wird dir helfen, gerecht zu werden, das des Universums wird dir helfen zu erkennen, wohin du gehörst, und das deines Nachbarn zeigt dir, ob er töricht oder klug ist – und du wirst erkennen, dass sein Leitprinzip deinem gleicht.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 9.22
Wenn unser Leben nicht von Vernunft bestimmt wird, wovon dann? Von Impulsen? Launen? Nachahmungen? Unbedachten Gewohnheiten? Wenn wir unsere vergangenen Verhaltensweisen betrachten, ist es betrüblich, wie oft wir nicht bewusst oder freiwillig gehandelt haben, sondern dass wir von Kräften bestimmt wurden, denen wir keine große Beachtung schenkten. Meist sind es auch genau diese Ereignisse, die wir bereuen.
31. März - Du bist das Produkt Deiner Ausbildung
»Unmöglichem hinterherzujagen ist Wahnsinn. Aber der einfältige Mensch ist nicht imstande, etwas anderes zu tun.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5.17
Ein Hund, dem erlaubt wird, Autos zu jagen, wird Autos jagen. Ein Kind, dem keine Grenzen aufgezeigt werden, wird verzogen. Ein Investor ohne Selbstdisziplin ist kein Investor, sondern ein Spieler. Ein Verstand, der sich nicht beherrschen kann und nicht imstande ist, die Macht der Selbstregulierung zu begreifen, wird von äußeren Umständen und plötzlichen Impulsen an der Nase herumgeführt.
Du wirst nicht wollen, dass deine Zukunft so wird. Du musst dir dessen gewahr werden. Du musst deine Ausbildung und Gepflogenheiten einsetzen, um deine Unwissenheit und mangelnde Disziplin zu überwinden. Erst dann wirst du anfangen, dich anders zu verhalten und auch anders zu handeln. Erst dann wirst du aufhören, das Unmögliche, Kurzsichtige und Unnötige zu suchen.
April - Denken ohne Vorurteile
1. April - Die Farbe deiner Gedanken
»Dein Verstand formt sich je nachdem, was deine Gedanken regelmäßig beschäftigt. Die menschliche Seele färbt sich nach diesen Vorstellungen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5.16
Wenn dein Körper über lange Zeit tagtäglich eine Sitzhaltung einnimmt, wird sich deine Wirbelsäule verkrümmen. Ein Arzt kann anhand einer Röntgenaufnahme (oder Autopsie) feststellen, ob jemand sein Leben lang am Schreibtisch gearbeitet hat. Wenn du deine Füße jeden Tag in kleine, enge Schuhe zwängst, werden sich deine Füße dementsprechend verformen.
Dasselbe gilt für unseren Verstand. Wenn du ständig alles negativ betrachtest, wird dir bald alles, was dir begegnet, negativ erscheinen. Wenn du deinen Verstand einschränkst, wirst du engstirnig. Färbe ihn mit falschen Gedanken und dein Leben wird sich dieser Färbung anpassen.
2. April - Gib acht, worauf Du dich einlässt
»Drama, Krieg, Terror, Gefühllosigkeit und Unterwürfigkeit ruinieren täglich deine heiligen Prinzipien, wenn du sie nicht mit deinem Verstand hinterfragst, sondern dich einfach auf all das einlässt.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 10.9
Wie schwer ist es doch, das Richtige zu tun, wenn man von Menschen umgeben ist mit niedrigem Standard? Wie schwer ist es, positiv und mitfühlend zu sein, wenn wir fortwährend dem negativen Geschwätz in den Medien ausgesetzt sind? Wie schwer ist es, sich auf die eigenen Angelegenheiten zu konzentrieren, wenn man von den Dramen und Konflikten anderer Leute abgelenkt wird?
Wir sind unausweichlich immer mal wieder solchen Einflüssen ausgesetzt, ganz gleich, wie sehr wir uns bemühen, dies zu vermeiden. Aber das heißt nicht, dass wir diese Einflüsse in unseren Kopf lassen müssen. Wir haben die Fähigkeit, uns zu schützen und selbst zu entscheiden, was wir tatsächlich zulassen. Ungebetene Gäste mögen dich mal zuhause besuchen, aber du musst sie nicht auch noch zum Essen einladen. Du solltest dich nicht zu sehr auf sie einlassen.
3. April - Selbsttäuschung und Zwiespalt
»Die Umstände sind es, die uns täuschen. Du musst ihnen mit Scharfsinn begegnen. Das Böse ist verlockender als das Gute. Wir sehnen uns nach dem Gegenteil dessen, was wir uns einmal gewünscht haben. Unsere Gebete stehen mit unseren Gebeten so auf Kriegsfuß wie unsere Pläne mit unseren Plänen.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 45.6
Eine Frau erzählt, dass sie einen netten Mann kennenlernen möchte und heiraten will, doch sie verbringt ihre Zeit mit Idioten. Ein Mann erzählt, wie gerne er einen tollen Job hätte, aber tatsächlich hat er sich überhaupt nicht die Mühe gemacht, danach zu suchen. Manager versuchen, zwei unterschiedliche Strategien gleichzeitig zu verfolgen, sie machen einen Spagat und sind frustriert, wenn keine von beiden funktioniert.
All diese Menschen, und das gilt genauso oft für uns, erliegen der Selbsttäuschung und leben im Zwiespalt. Als ob die eine Hand nicht wüsste, was die andere tut. Martin Luther King Jr. beschrieb es einmal so: > »Es herrscht eine Art Bürgerkrieg in unser aller Leben«, ein Krieg in jeder Seele zwischen ihren guten und schlechten Seiten.
Die Stoiker sagen, dass dieser Krieg gewöhnlich das Ergebnis unserer widersprüchlichen Wünsche ist, unserer fehlerhaften Urteile und Voreingenommenheit. Wir halten nicht inne und fragen: Was will ich eigentlich wirklich? Was ist hier eigentlich mein Ziel? Wenn wir das täten, würden wir bemerken, was für gegensätzliche und unbeständige Wünsche wir verfolgen. Dann könnten wir aufhören, gegen uns selbst zu arbeiten.
4. April - Lass Dir das nicht zu Kopf steigen
»Achte darauf, dass man dich nicht zum ›Kaiser‹ macht, vermeide den imperialen Makel. Das kann auch dir passieren. Bleibe ein einfacher, guter, ehrlicher, frommer und schlichter Mensch, ein Freund von Gerechtigkeit, gottesfürchtig, gütig, liebevoll und ernsthaft in der dir angemessenen Arbeit. Kämpfe darum, der Mensch zu bleiben, den die Philosophie in dir vorsieht. Fürchte die Götter und kümmere dich um deine Mitmenschen. Das Leben ist kurz, und die Früchte des Lebens sind ein guter Charakter und deine Taten für das Gemeinwohl.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.30
Es ist schwer, sich auszumalen, wie das Leben für Marc Aurel gewesen sein muss. Er wurde nicht als Kaiser geboren und hat diese Stellung auch nicht freiwillig erlangt. Sie wurde ihm einfach auferlegt. Gleichwohl war er mit einem Mal der reichste Mann der Welt und Anführer der mächtigsten Armee. Er regierte über das größte Reich in der Geschichte und wurde wie ein Gott verehrt.
Kein Wunder, dass er kleine Notizen wie die hier zitierte verfasste, um sich in Erinnerung zu rufen, bodenständig zu bleiben. Ohne sie hätte er womöglich das Gefühl dafür verloren, was wichtig war – und wäre den Lügen all derjenigen zum Opfer gefallen, die etwas von ihm wollten. Und auch wir sind, egal, was wir gerade tun, dem Risiko ausgeliefert, abzuheben.
Wenn wir Erfolg haben, müssen wir darauf achten, dass er uns nicht verändert – dass wir unseren Charakter weiter pflegen, sei die Versuchung auch noch so groß. Die reine Vernunft muss uns immer anleiten, ganz gleich, welche Glückssträhne wir gerade erleben.
5. April - Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
»Lass dich nicht von der Kraft des ersten Eindrucks hinreißen. Sage dir: ›Warte mal, lass mich sehen, wer du bist und woher du kommst. Lass mich dich auf die Probe stellen‹ ...«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.18.24
Eines der Wunder deines Verstandes ist die Schnelligkeit, mit der er Dinge begreifen und einordnen kann. In seinem Buch Blink erklärt Malcolm Gladwell, dass wir ständig in Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen, die auf Erfahrung und Wissen beruhen. Dieselbe Fähigkeit nutzen wir aber, um Vorurteile, Klischees und Vermutungen zu bestärken. Offensichtlich ist die erste Variante ein Quell der Stärke, während letztere zu großer Schwäche führt.
Es kostet uns nicht viel, kurz innezuhalten, um unsere Gedanken abzuwägen. Ist das wirklich so schlecht? Was weiß ich wirklich über diesen Menschen? Warum reagiere ich hier so emotional? Ist Ängstlichkeit in dieser Situation angebracht? Was ist so besonders an ...?
Wenn wir uns diese Fragen stellen und unsere Eindrücke überprüfen, wie Epiktet es vorschlägt, lassen wir uns nicht mehr so schnell hinreißen oder unternehmen Schritte aus falschen Annahmen oder Voreingenommenheit. Uns steht es immer frei, unserem Instinkt zu folgen, aber wir sollten auch das russische Sprichwort beherzigen: > »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«
6. April - Bereite Dich auf das Negative vor
»Als erstes solltest du dir am frühen Morgen sagen: Ich werde auf Wichtigtuer, Undankbare, Egomanen, Lügner, Eifersüchtige und Spinner treffen. Sie sind diesen Leiden unterworfen, weil sie gut nicht von böse unterscheiden können. Ich habe jedoch die Schönheit des Guten und die Hässlichkeit des Bösen erkannt. Ich weiß, dass die Menschen, die falsch handeln, mir dennoch verwandt sind – und niemand von ihnen mir schaden oder mich in das Hässliche verstricken kann, noch bin ich auf meine Verwandten wütend oder hasse sie. Denn wir sind für die gemeinschaftliche Zusammenarbeit geschaffen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 2.1
Du kannst dir sicher sein, dass du es irgendwann heute mit jemandem zu tun bekommen wirst, der sich wie ein Idiot benimmt (haben wir alle schon mal). Die Frage ist: Bist du gut darauf vorbereitet?
Diese Übung erinnert an eine Empfehlung von Nicolas Chamfort, einem humoristischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, der einmal bemerkte: »Wenn du jeden Morgen eine Kröte schluckst, bist du gegen alles Abscheuliche gewappnet, das dir den Tag über passieren kann.« Wäre es nicht besser, dir gleich morgens – sobald du wach wirst – klarzumachen, dass andere Menschen sich oft egoistisch und ungehobelt verhalten (die Kröten), anstatt den ganzen Tag lang über andere zu grübeln?
Aber der Gedanke lässt sich fortsetzen, so wie auch Marc Aurel dies tat: > »Niemand kann mich in das Hässliche verstricken, noch kann ich auf meine Verwandten wütend sein oder sie hassen.« Der springende Punkt dieser Einstellung ist, dass nicht jeder schon im Vorfeld abgelehnt wird. Wenn du gut vorbereitet bist, ist es dir vielleicht möglich, mit Geduld, Vergebung und Verständnis zu reagieren.
7. April - Du musst Deine Meinungen ändern können
»Es gibt zwei Dinge, die man Menschen austreiben muss: Hochmut und Misstrauen. Hochmut lässt nichts anderes zu als die eigene Meinung, Misstrauen geht von der Annahme aus, dass es unter der Flut der äußeren Umstände kein Glück geben kann.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.14.8
Wie oft beginnen wir irgendein Projekt mit der Überzeugung, genau zu wissen, wie es laufen wird? Wie oft treffen wir Leute und denken, wir wüssten genau, wer und was sie sind? Und wie oft haben sich diese Annahmen als vollkommen falsch erwiesen?
Deswegen müssen wir unsere Vorurteile und vorgefassten Meinungen bekämpfen: Denn sie sind eine Belastung. Frage dich selbst: Was habe ich nicht in Betracht gezogen? Warum ist die Sache so, wie sie ist? Bin ich hier ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung? Könnte ich hier falsch liegen? Gib ganz besonders auf das Acht, was du nicht weißt, und stelle es dem gegenüber, was du tatsächlich weißt.
Denke daran: Wenn es einen zentralen Lehrsatz dieser Philosophie gibt, ist es, dass wir nicht so klug und weise sind, wie wir annehmen. Wenn wir jemals weise werden wollen, müssen wir lernen, Dinge infrage zu stellen und demütig zu sein. Gewissheit, Misstrauen und Überheblichkeit helfen nicht, auch wenn viele das meinen.
8. April - Was es kostet, Fälschungen zu akzeptieren
»Wenn es um Geld geht, das für uns von großem Belang ist, haben wir eine regelrechte Kunstform kreiert, bei der Geldtester mit verschiedenen Mitteln dessen Wert bestimmen ... Ebenso beurteilen wir solche Dinge mit großer Sorgfalt, die uns in die Irre leiten könnten. Aber wenn es um unser eigenes Leitprinzip geht, dann werden wir müde und unkonzentriert, akzeptieren alles, das vor uns aufblitzt, ohne die Kosten zu bedenken.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 1.20.8; 11
Als Münzen noch recht primitiv waren, mussten die Menschen viel Zeit darauf verwenden, die Zahlungsmittel, die sie erhielten, auf ihre Echtheit zu überprüfen. Das griechische Wort dokimazein bedeutet »probieren« oder die Qualität eines Mineralerzes zu überprüfen. Kaufleute waren oft so versiert, dass sie die Münzen testeten, indem sie diese auf harten Untergrund warfen und auf deren Klang hörten. Selbst heute noch reibt man einen Hundertdollarschein zwischen den Fingern oder hält ihn gegen das Licht, um zu prüfen, ob er gefälscht ist.
Wir machen das für eine imaginäre Währung, eine Erfindung der Gesellschaft. Diese Metapher soll aufzeigen, wie viele Umstände wir uns machen, um sicherzugehen, dass Geld echt ist, während wir potentiell lebensverändernde Gedanken oder Annahmen akzeptieren, ohne sie groß zu hinterfragen. Eine ironische Annahme in diesem Zusammenhang ist: Viel Geld zu besitzen bedeutet, wohlhabend zu sein. Oder weil viele Leute etwas Bestimmtes glauben, muss es wahr sein.
Tatsächlich sollten wir Annahmen ebenso aufmerksam prüfen wie ein Geldwechsler. Denn schon Epiktet erinnert uns daran: > »Es ist die erste und größte Aufgabe des Philosophen, den äußeren Schein zu prüfen und zu unterscheiden, und niemals zu handeln, bevor etwas geprüft wurde.«
9. April - Überprüfe Deine Eindrücke
»Mache es dir von Anbeginn zur Gewohnheit, dir bei jedem ersten groben Eindruck zu sagen: ›Das ist nur ein Eindruck und überhaupt nicht, was es zu sein scheint.‹ Als nächstes untersuche und prüfe ihn anhand der Regeln, die dir zur Verfügung stehen. Die erste und wichtigste dabei ist, ob der Eindruck Dinge betrifft, über die du die Kontrolle hast oder nicht, und falls letzteres zutrifft, sei bereit zu antworten: ›Es bedeutet mir nichts.‹«
-- Epiktet, Enchiridion, 1.5
In einer Welt mit übermäßig vielen Regelwerken reagieren manche, indem sie genau das Gegenteil tun. Starke Staatsführer wollen > »ihrem Bauchgefühl vertrauen«. Ein Guru behauptet, dass es wichtig sei, »sich von seinem Körper leiten zu lassen«. Ein Freund, der versucht, dich bei einer schwierigen Entscheidung zu unterstützen, fragt: »Was fühlt sich für dich richtig an?«
Diese Herangehensweisen an Entscheidungen stehen im Gegensatz zu umfangreichen Studien, bei denen das instinktive Verhalten von Menschen direkt zu Problemen geführt hat. Unsere Sinneseindrücke sind konstant falsch! Wir sind Kreaturen, die den langsamen Kräften der Evolution unterworfen sind und haben deshalb alle möglichen einfachen Entscheidungsmechanismen, Voreingenommenheiten und emotionalen Reaktionen entwickelt, die in der Steppe gut funktioniert haben mögen, aber in der heutigen Welt kontraproduktiv sind.
Zum Stoizismus gehört es, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, innezuhalten und seine eigenen Sinne zu analysieren, ihre Wahrnehmungen in Frage zu stellen und nur mit den positiven und konstruktiven fortzufahren. Sicher ist es verführerisch, Disziplin und Ordnung in den Wind zu schlagen und sich ganz auf die Gefühle zu verlassen – aber die Reue, die viele Handlungen unserer Jugend im Nachhinein auslösen, zeigt, dass das, was sich damals richtig anfühlte, die Zeit nicht immer überdauert. Man darf seinen Sinnen nicht trauen. Noch einmal: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
10. April - Urteile führen zu Verwirrungen
»Es sind nicht die Ereignisse, die Menschen beunruhigen, sondern deren Beurteilungen.«
-- Epiktet, Enchiridion, 5
Der Samurai Musashi, einer der berühmtesten Schwertkämpfer, machte einen Unterschied zwischen dem »wahrnehmenden Auge« und dem > »beobachtenden Auge«. Das beobachtende Auge sieht, wie die Dinge sind. Das wahrnehmende Auge sieht, was die Dinge vermutlich bedeuten. Welches, denkst du, bereitet uns den meisten Kummer?
Ein Ereignis hat kein Eigenleben. Es ist unbefangen. Es ist, was es ist. So sieht es das beobachtende Auge.
Das wird mich ruinieren. Wie konnte das nur passieren? Ach herrje! Das ist schuld an ... So stellt es sich das wahrnehmende Auge vor. Es führt zur Verwirrung und gibt dem Ereignis die Schuld.
11. April - Wenn Du lernen möchtest, sei demütig
»Werfe deine eingebildeten Ansichten über Bord, denn es ist für einen Menschen unmöglich, etwas zu lernen, von dem er meint, dass er es schon weiß.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.17.1
Von allen Stoikern kommt Epiktet einem wahren Lehrer am nächsten. Er hatte eine Schule. Er unterrichtete Klassen. Tatsächlich ist seine Weisheit durch einen Schüler überliefert worden, der die Vorlesungen genau aufzeichnete. Was Epiktet an Philosophieschülern frustrierte – und Universitätsprofessoren wahrscheinlich seit jeher frustriert – ist, dass Schüler behaupten, unterrichtet werden zu wollen, aber insgeheim glauben, sie wüssten bereits alles.
Die Wahrheit ist, dass wir tatsächlich alle so denken, und wir mehr lernen könnten, wenn wir auf diese Einstellung verzichteten. So belesen und erfolgreich wir auch sein mögen, es gibt immer jemanden, der belesener, erfolgreicher und klüger ist. Ralph Waldo Emerson brachte es gut zum Ausdruck: »Ein jeder ist dir auf einem bestimmten Gebiet überlegen, und von jedem kannst du etwas lernen.«
Wenn du lernen willst, wenn du dich im Leben verbessern willst, sind Lehrer, Philosophen und gute Bücher ein geeigneter Anfang. Aber dieser Ansatz wird nur Erfolg haben, wenn du demütig bleibst und bereit bist, vorgefertigte Ansichten aufzugeben.
12. April - Weise verlockende Geschenke zurück
»Atreus: Wer würde solch eine Flut von Geschenken des Schicksals zurückweisen? Thyestes: Jeder, der erlebt hat, wie schnell sie abebbt.«
-- Seneca, Thyestes, 536
Thyestes ist eines der düstersten und verstörendsten Theaterstücke von Seneca. Noch nach 2000 Jahren gilt es als Klassiker unter den Dramen, die dem Thema Rache gewidmet sind. Ohne allzu viel vorwegzunehmen, stammt das Zitat aus der Szene, in der Atreus versucht, seinen verhassten Bruder in eine böse Falle zu locken, indem er ihm verführerische und großzügige Geschenke anbietet. Zunächst lehnt Thyestes sie jedoch ab – zur völligen Verblüffung seines Feindes.
Wir sind natürlich überrascht, wenn jemand ein teures Geschenk oder eine ehrenvolle Stellung oder Würdigung seines Erfolgs ablehnt. General William T. Sherman lehnte das Angebot, sich als Präsident der Vereinigten Staaten zu bewerben, energisch ab und sagte dazu: »Ich werde eine Nominierung nicht annehmen und nicht dienen, wenn ich gewählt werde.« Wenn sein Freund Ulysses S. Grant ein solches »Sherman Statement« (wie eine solche Ablehnung genannt wird) abgegeben hätte, hätte er sein eigenes Vermächtnis vor dem schrecklichen Verlauf der Ereignisse bewahren können.
Trotz seiner anfänglichen Bedenken lässt sich Thyestes schließlich verführen und davon überzeugen, die »Geschenke des Schicksals« anzunehmen – hinter denen sich ein hinterlistiger Trick verbirgt, der zu einer verheerenden Tragödie führt. Nicht jede Gelegenheit ist voller Gefahren, aber das Theaterstück will uns daran erinnern, dass die Verlockungen durch aufregend Neues folgenreiche Probleme haben können.
13. April - Weniger ist mehr
»Du sollst nicht widerwillig und selbstsüchtig handeln, nicht ohne gründliche Gewissenhaftigkeit oder als Querdenker. Überfrachte deine Gedanken nicht mit spitzfindigen Formulierungen. Sei nicht ein Mann der vielen Worte und Taten ... Sei heiter und gelassen, ohne auf Hilfe oder Unterstützung von außen angewiesen zu sein. Sei jemand, der aufrecht stehen kann, ohne aufgerichtet werden zu müssen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 3.5
In den meisten Situationen des Lebens trifft die Redewendung »Weniger ist mehr« zu. Zum Beispiel sind die Schriftsteller, die wir bewundern, wahre Meister der Ökonomie und Knappheit. Was sie auslassen ist ebenso wichtig – manchmal noch wichtiger – als das, was sie im Text belassen. Es gibt ein Gedicht von Philip Levine mit dem Titel »He Would Never Use One Word Where None Would Do« (Er würde nie ein Wort benutzen, wenn keines auch genügen würde). Und in Hamlet, dem hervorragendsten aller Dramen, erwidert Königin Gertrude nach einer langen Rede von Polonius kurz und knapp: »More matter with less art« (Mehr Inhalt, weniger Kunst). Komm endlich zur Sache!
Stell dir vor, dass der römische Kaiser, der ein höchst aufmerksames Publikum hat und über unbegrenzte Macht verfügt, sich selbst auffordert, nicht »ein Mann der vielen Worte und Taten« zu sein. Daran solltest du dich das nächste Mal erinnern, wenn du etwas zu selbstzufrieden bist oder das Gefühl hast, andere Leute beeindrucken zu müssen.
14. April - Werde Experte für das Wesentliche
»Glaube mir, es ist besser eine Bilanz für dein eigenes Leben zu erstellen als für den Getreidemarkt.«
-- Seneca, Über die Kürze des Lebens, 18.3b
In was für Bereichen manche Menschen es zum Experten schaffen: Fantasiesportarten, Prominentenklatsch, Derivate und Rohstoffmärkte, Hygienegewohnheiten von Geistlichen im 13. Jahrhundert.
Wir können sehr gut in irgendetwas sein, wenn wir dafür bezahlt werden, oder sehr geschickt in unserem Hobby, für das wir uns gerne bezahlen lassen würden. Doch unser eigenes Leben, unsere Angewohnheiten und Neigungen sind uns manchmal ein Rätsel.
Seneca schrieb diese bedeutsame Notiz an seinen Schwiegervater, der tatsächlich eine Zeit lang für den Getreidespeicher Roms verantwortlich war. Doch dann wurde ihm die Stellung aus politischen Gründen entzogen. Was soll’s, schien Seneca sagen zu wollen, jetzt kannst du deine ganze Energie deinen eigenen Belangen widmen.
Welche Sachkenntnisse sind am Ende deines irdischen Daseins wertvoller? Dein Verständnis der Dinge von Leben und Tod oder der Saisonverlauf der Chicago Bears im Jahr 1987? Was wird deinen Kindern eher helfen? Deine Antwort auf die Frage, wie man glücklich wird und was wirklich wichtig ist, oder dass du dreißig Jahre lang jeden Tag die Nachrichten verfolgt hast?
15. April - Zahle deine Steuern
»Nichts, was mir im Leben widerfahren wird, werde ich mit Trübsinn oder einer schlechten Einstellung begegnen. Ich werde meine Steuern klaglos zahlen. Alle Dinge, über die man klagt oder vor denen es einen graut, sind wie die Steuern des Lebens. Dinge, mein lieber Lucilius, von denen du nicht hoffen solltest, verschont zu werden oder ihnen zu entkommen.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 96.2
Wenn deine Einkommensteuer fällig wird, wirst du wohl wie viele andere Menschen reagieren und dich beschweren, wie viel du dem Staat bezahlen musst. Vierzig Prozent von allem, was ich verdiene, geht an diese Leute? Wofür denn?!
Erst einmal werden Steuern für viele Programme und Dienstleistungen verwendet, die du wahrscheinlich als selbstverständlich erachtest. Zweitens: Meinst du, du bist etwas Besonderes? Die Menschen klagen seit Tausenden von Jahren über ihre Steuern, und jetzt sind sie tot. Finde dich damit ab. Drittens: Betrachte es doch einmal positiv. Besser, Steuern zahlen zu müssen, als so wenig zu verdienen, dass überhaupt nichts übrig bleibt, was man dem Staat geben könnte, oder, besser als in Anarchie zu leben und für jeden einfachen Dienst im Kampf gegen die Natur bezahlen zu müssen.
Aber was noch wichtiger ist: Einkommensteuern sind nicht die einzigen Steuern, die du im Leben zahlen musst. Diese sind nur finanzieller Natur. Alles, was wir tun, verlangt eine Art von Steuern. Warten ist die Steuer fürs Reisen. Gerüchte und Klatsch sind die Steuer, wenn man eine Person des öffentlichen Lebens sein will. Uneinigkeit und gelegentlicher Frust sind die Steuer selbst für die glücklichsten Beziehungen. Diebstahl ist die Steuer für Nachlässigkeit und den Umstand, dass man Dinge besitzt, die andere haben wollen. Stress und Probleme sind die Tarife, die auf Erfolg erhoben werden. Und so weiter, und so fort.
Es gibt viele Formen der Steuer im Leben. Du kannst dich darüber ärgern, du kannst Mittel und Wege finden, sie zu vermeiden – letzten Endes ist das jedoch vergebens. Oder du kannst sie einfach bezahlen und dich an den Erträgen erfreuen, die du behältst.
16. April - Beobachte Ursache und Wirkung
»Achte bei Gesprächen ganz genau darauf, was gesagt wird und was die Folge jeglichen Handelns ist. Bei jeder Handlung schau sofort, was sie beabsichtigt, bei den Worten höre genau hin, welche Bedeutung sie haben.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7.4
Durch die Arbeiten des Psychologen Albert Ellis hat der Stoizismus Millionen Menschen mittels der sogenannten kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) erreicht. KVT ist eine Therapieform, die den Patienten hilft, zerstörerische Muster in ihren Gedanken und in ihrem Verhalten zu erkennen, sodass sie diese mit der Zeit in eine positive Richtung beeinflussen und lenken können.
Natürlich hat Marc Aurel keine formelle Ausbildung in Psychologie genossen. Aber seine Worte sind so bedeutsam wie die eines Doktors. Er fordert, dass du deine Gedanken genau beobachtest und ebenso die Handlungen, die aus den Gedanken folgen. Wo kommen die Gedanken her? Welche Unwägbarkeiten enthalten sie? Sind sie konstruktiv oder destruktiv? Führen sie dazu, dass du Fehler machst oder irgendetwas tust, was du später bereust? Schau dir die Muster an – finde heraus, wo die Ursache zur Wirkung wird.
Nur wenn du dies tust, können negative Verhaltensmuster aufgebrochen werden. Nur dann kann sich im Leben wirklich etwas verbessern.
17. April - Kein Schaden, kein Foul
»Denke nicht mehr: ›Mir wurde ein Schaden zugefügt‹ – dann wird der Schaden sofort gebannt sein. Hör auf, dir Schaden zufügen zu lassen, und der Schaden wird verschwinden.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 4.7
Ein Wort kann die unterschiedlichsten Bedeutungen haben. Es kann etwas Krudes bedeuten und zugleich etwas ganz Unschuldiges. Sprache ist nun mal oft zweideutig. Und auch die Intention des Sprechers ändert den Gehalt: Etwas, das sarkastisch gemeint ist, unterscheidet sich stark von gemeinen Spitzen.
Wie wir eine Bemerkung oder ein einzelnes Wort interpretieren, hat enormen Einfluss. Es macht den Unterschied zwischen Lachen und Kränkung. Den Unterschied, ob etwas in Streit ausartet oder zum gegenseitigen Verständnis von zwei Menschen führt.
Deswegen ist es so wichtig, auf die Vorurteile und Perspektiven zu achten, die wir bei unseren Interaktionen einbringen. Auf welche Interpretation springst du an, wenn du etwas hörst oder siehst? Wie reagierst du auf die Intention von jemandem?
Wenn es dir nicht so oft passieren soll, dass du verärgert oder verletzt bist, dann achte darauf, dass deine Interpretation dessen, was jemand sagt, zurückgenommen ist. Ziehe die richtigen Schlussfolgerungen aus den Handlungen von anderen oder aus äußeren Umständen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass deine Reaktion positiv ausfallen wird.
18. April - Meinungen sind wie ...
»Was ist Pech? Eine Ansichtssache. Was sind Kampf, Streit, Schuld, Anklage, Respektlosigkeit und Leichtfertigkeit? Sie alle sind Ansichtssache und liegen zudem außerhalb unserer Entscheidungsgewalt, sie werden uns als gut oder böse präsentiert. Sorge dafür, dass jemand sich nur über das eine Meinung bildet, was er selbst frei entscheiden kann, und ich garantiere, dass diese Person inneren Frieden finden wird, egal, was um sie herum geschieht.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.3.18b–19
Meinungen. Jeder hat seine eigene.
Denke mal über all die Meinungen nach, die du hast: darüber, ob dir das Wetter heute passt, was Liberale und Konservative denken, ob die Bemerkung von jemandem gemein war oder nicht, ob du erfolgreich bist (oder nicht) und so weiter. Wir beobachten ständig die Welt um uns herum und bilden uns unsere Meinung. Dabei ist unsere Meinung häufig von einem Dogma geprägt, sei es ein religiöses oder kulturelles, seien es Ansprüche, Erwartungen und gelegentlich auch Unkenntnis.
Kein Wunder, dass wir so oft verärgert oder wütend sind! Aber was wäre, wenn wir einfach auf diese Meinungen verzichteten? Lass uns versuchen, sie aus unserem Leben zu jäten (ekkoptein; schneiden oder etwas zunichtemachen), sodass Dinge sind, wie sie sind. Nicht gut oder schlecht, nicht durch Meinungen oder Urteile gefärbt. Ganz einfach.
19. April - Unsere Impulse
»Epiktet sagt, dass wir die verlorene Kunst der Zustimmung wiederfinden müssen und besonders auf unsere Impulse achten sollen – er sagt, sie haben dem Verzicht, dem Gemeinwohl zu unterliegen, und sie sollten im rechten Verhältnis zum wahren Wert stehen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 11.37
Hier haben wir den Kaiser, den mächtigsten Mann der Welt, der in seinem Tagebuch die weisen Worte eines ehemaligen Sklaven zitiert (und soweit wir wissen, muss Marc Aurel über Aufzeichnungen von Epiktets Vorträgen verfügt haben, die ein ehemaliger Schüler angefertigt hatte). Diese Weisheit handelt letzten Endes davon, dass wir uns unterwerfen und dem Wohle der Gemeinschaft dienen – sie handelt von den Grenzen unserer Macht und davon, wie wichtig es ist, unsere Impulse zu kontrollieren – etwas, das jeder Mensch, der Verantwortung trägt, sich zu Herzen nehmen sollte.
Macht und Machtlosigkeit scheinen selten dieselben Kreise zu ziehen, aber wenn sie es tun, dann kann es den Lauf der Welt verändern. Denke nur einmal an Präsident Abraham Lincoln – er begegnete einem weiteren ehemaligen Sklaven von ungemeiner Weisheit und Weitsicht, nämlich Frederick Douglass. Lincoln korrespondierte mit ihm und lernte sehr viel von ihm.
Alle diese Männer lebten nach dem oben vorgestellten Prinzip: Dass es in unserem Leben, egal ob wir über viel Macht verfügen oder völlig machtlos sind, wichtig ist, Raum zu lassen für das, was kommen mag, und dass wir stets das Gemeinwohl und die Verhältnismäßigkeit im Auge behalten. Vor allem aber sollen wir immer bereit und willens sein, von anderen zu lernen, egal, wo sie im Leben stehen.
20. April - Das wahre Gute ist einfach
»Hier eine Methode, wie man über das denken kann, was von den ›Massen‹ als gut erachtet wird. Konzentriere dich zunächst auf die Dinge, die zweifellos gut sind: Weisheit, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit, Tapferkeit. Mit dieser Einstellung wird es dir nicht mehr möglich sein, dem Volksmund einfach zu folgen, wenn behauptet wird, es gäbe zu viele gute Dinge, als dass man sie in nur einem Leben auskosten könne.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5.12
Ist es denn so strittig, wenn man behauptet, dass es Dinge gibt, die von Menschen wertgeschätzt werden (und du genötigt wirst, sie ebenfalls wertzuschätzen), und Dinge, die wahrhaft gut sind? Oder infrage zu stellen, ob Ruhm und Reichtum wirklich so unglaublich wichtig sind? Seneca kommentierte in einem seiner Theaterstücke:
»Wenn nur die Herzen der Reichen allen Menschen offen stünden!
Wie groß sind die Ängste, die Fortuna bei denen erregt, die hoch oben sind.«
Seit Jahrhunderten gehen die Menschen davon aus, dass Reichtum sie auf wunderbare Weise glücklich machen und Probleme lösen kann. Warum arbeiten sie sonst so hart? Aber wenn die Menschen tatsächlich viel Geld verdienen und den angestrebten Status erreichen, entdecken sie, dass sich ihre Hoffnungen doch nicht ganz erfüllt haben. Dasselbe gilt für viele Dinge, auf die wir versessen sind, ohne richtig darüber nachzudenken.
Auf der anderen Seite liegt das »Gute«, das die Stoiker propagieren; es ist einfach und unkompliziert: Weisheit, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit, Tapferkeit. Niemand, dem es gelungen ist, sich diese stillen Tugenden zu eigen zu machen, hat es hinterher bereut.
21. April - Verliere nicht Deine Aufmerksamkeit
»Wenn du deine Aufmerksamkeit für einen Moment verlierst, glaube nicht, dass du sie wieder in den Griff bekommst, wann immer du es willst. Denke lieber daran, dass der heutige Fehler zwangsläufig Schlechtes nach sich zieht ... Ist es aber möglich, ganz ohne Fehler zu sein? Auf keinen Fall. Es ist jedoch möglich, sich stets darum zu bemühen, Fehler zu vermeiden. Denn wir müssen damit zufrieden sein, zumindest ein paar Fehler zu vermeiden, indem wir unsere Aufmerksamkeit nicht verlieren.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.12.1; 19
Winifred Gallagher zitiert in ihrem Buch Rapt den Kognitionswissenschaftler David Meyer von der University of Michigan: »Einstein entwickelte seine Relativitätstheorie nicht, während er in einem Schweizer Patentbüro verschiedene Aufgaben gleichzeitig erledigte.« Er entwickelte sie später, als er wirklich Zeit hatte, sich darauf zu konzentrieren und sie zu erforschen. Aufmerksamkeit ist wichtig – und in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit von jeder neuen App und Webseite, jedem neuen Zeitungsartikel, Buch, Tweet und Post in Anspruch genommen wird, ist ihr Wert noch gestiegen.
Was Epiktet hier unter anderem sagen will, ist, dass Aufmerksamkeit eine Gewohnheit ist, und wenn wir sie vernachlässigen und unsere Gedanken schweifen lassen, wird dies zu einer schlechten Angewohnheit, die Fehler möglich macht.
Du wirst nie alle Aufgaben erledigen können, wenn du es zulässt, von jeder Kleinigkeit abgelenkt zu werden. Deine Aufmerksamkeit ist eine deiner wichtigsten Ressourcen. Verschwende sie nicht!
22. April - Die Merkmale eines vernünftigen Menschen
»Dies sind die Wesensmerkmale einer vernunftgesteuerten Seele: Selbstwahrnehmung, Selbstprüfung und selbstbestimmtes Handeln. Sie werden reiche Früchte tragen ... Und alle selbst gesteckten Ziele übertreffen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 11.1–2
Wenn wir heute Vernunft walten lassen wollen, müssen wir nur drei Dinge tun:
Zunächst in uns hineinschauen. Dann uns ganz genau prüfen. Schließlich unsere eigenen Entscheidungen treffen – unbefangen und unbeeinflusst von allgemeinen Auffassungen.
23. April - Dein Verstand gehört Dir
»Du bestehst aus drei Teilen: Körper, Atem und Verstand. Die ersten beiden gehören dir nur insofern, als dass du für sie verantwortlich bist. Nur der dritte gehört dir wirklich allein.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 12.3
Der Körper kann von Krankheit schwer gezeichnet oder bei einem Unfall schwer verletzt werden. Er kann eingekerkert und der Folter ausgeliefert werden. Der Atem kann plötzlich stillstehen, weil wir das Zeitliche segnen, oder weil wir des Atems beraubt werden. Das Atmen kann durch Anstrengungen und Krankheiten enorm erschwert werden. Aber der Verstand bleibt bis zum äußersten Ende ganz bei uns.
Es ist nicht so, dass die anderen Teile, die Marc Aurel erwähnt, unser Körper und unser Atem, nicht von Bedeutung wären. Sie sind nur weniger > »unser« als der Verstand. Du würdest auch nicht viel Zeit darauf verwenden, ein Haus zu reparieren, das du nur gemietet hast, oder? Unser Verstand gehört uns – frei und eindeutig. Deshalb sollten wir uns auch gut um ihn kümmern!
24. April - Die produktive Seite der Verachtung
»Wenn uns Fleisch oder auch andere Lebensmittel vorgesetzt werden, denken wir vielleicht, das ist ein Kadaver, ein toter Fisch, Vogel oder ein totes Schwein; dieser köstliche Wein ist auch nur der Saft aus einer Handvoll Trauben und dieses Purpurgewand ist auch nur in etwas Schneckenblut getränkte Schafswolle – oder, wenn wir an Sex denken: dies sind auch nur sich aneinander reibende Körperteile mit spasmischen Entladungen ... Wir betrachten die Dinge und Ereignisse auf ernüchternde Weise und sehen sie dann als das, was sie wirklich sind.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.13
Es gibt eine stoische Übung, die man gut als Ausdruck von Geringschätzung bezeichnen könnte. Stoiker verwenden eine fast zynische Sprache, mit der sie die schönsten und begehrenswertesten Sachen entzaubern. Was steckt hinter Marc Aurels spitzer Bemerkung über Sex? Nun, wenn du Sex unter diesem Blickwinkel betrachtest, wird dir in deinem Verlangen nach Sex nicht mehr so leicht etwas Beschämendes oder Peinliches passieren. Es ist das Gegengewicht zu unserer natürlichen Tendenz, Dinge, die sich wirklich gut anfühlen, haben zu wollen.
Wir können diese Haltung noch auf viele andere Dinge übertragen, die von Menschen hoch geschätzt werden. Man stelle sich ein Foto in den sozialen Medien vor, das einen vor Neid erblassen lässt – aber wie viel Mühe hat es gekostet, es so hinzubekommen? Was ist mit der Beförderung, die einem so wichtig ist? Schau dir das Leben der angeblich Erfolgreichen an. Übt es noch immer solch einen magischen Zauber auf dich aus? Geld, von dem wir immer mehr haben und es nicht mehr hergeben wollen – bedenke, wie viele Bakterien und Schmutz daran kleben. Und dieser gut aussehende, nahezu perfekte Mensch, den du von weitem bewunderst. Denke daran, wenn er oder sie Single ist, muss irgendjemand sie oder ihn sitzen gelassen haben. Ob er oder sie wirklich so begehrenswert ist?
Diese Methode wird dich nicht zum Zyniker machen, aber sie wird deinen dringend nötigen Sinn für Objektivität schärfen.
25. April - Falsch liegen muss nicht falsch sein
»Wenn mir jemand beweist, dass ich falsch denke und handele, werde ich mich glücklich schätzen, meine Meinung zu ändern, denn ich suche die Wahrheit, und die hat noch nie jemandem geschadet. Nur der nimmt Schaden, der in Täuschung und Unkenntnis verharrt.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.21
In einem Gespräch erhob einmal jemand einen Einwand gegen etwas, das Cicero gesagt oder geschrieben hatte. Dieser Mensch behauptete, dass Cicero nun etwas ganz anderes sage als früher. Ciceros Antwort: »Ich lebe von einem Tag auf den nächsten! Wenn mir etwas glaubhaft erscheint, dann sage ich es, und so bleibe ich, im Gegensatz zu jedem anderen, mein eigener Herr.«
Niemand sollte sich schämen, seine Ansichten zu ändern – dafür sind Ansichten da. »Dümmliche Beharrlichkeit ist der Kobold von Kleingeistern«, hat Ralph Wald Emerson einmal gesagt, »die von kleinen Politikern, Philosophen und Geistlichen vorgelebt wird.« Deswegen nehmen wir so viele Mühen in Kauf, zu lernen und uns mit Weisheit auseinanderzusetzen. Es wäre beschämend, würden wir am Ende nicht feststellen, ob wir in der Vergangenheit falsch gelegen haben.
Denke daran: Du bist dein eigener Herr. Wenn jemand dich auf eine Schwachstelle in deinen Überzeugungen oder Handlungen aufmerksam macht, wirst du nicht kritisiert, sondern dir wird eine bessere Alternative aufgezeigt. Akzeptiere das einfach!
26. April - Dinge passieren, während wir lernen
»Wenn dich dein Sparringspartner schubst oder dir einen Kopfstoß versetzt, mache kein Drama daraus und protestiere nicht, sei nicht misstrauisch oder unterstelle ihm feindliche Gesinnung. Doch behalte ihn im Auge, sei nicht feindselig, sondern bleibe auf gesunder Distanz. So solltest du in allen Lebenslagen handeln. Wir sollten unseren Trainingspartnern vieles durchgehen lassen. Wie ich schon sagte, es ist möglich, ohne Misstrauen und Feindseligkeit Dinge zu umgehen.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.20
Wenn man jeden Tag und jede Situation als eine Art Trainingseinheit betrachtet, liegt die Messlatte plötzlich viel niedriger. Mit einem Mal gehst du mit deinen eigenen Fehlern und denen anderer viel großzügiger um. Das ist sicher eine wesentlich gesündere Einstellung, als jede Begegnung so zu bemessen, als stünde eine Meisterschaft auf dem Spiel.
Wenn du dir einen Ellenbogencheck oder einen unfairen Haken einfängst, schüttele den Schmerz ab und sage dir: Ich lerne noch. Mein Sparringspartner lernt auch noch. Das ist Training für uns beide – sonst nichts. Ich weiß jetzt etwas mehr über mein Gegenüber, und aus meiner Reaktion wird er auch ein wenig mehr über mich lernen.
27. April - Kehre das Innere nach aussen
»Kehr das Innere nach außen und sieh es dir genau an: wie es wird, wenn es alt ist, krank, oder sich prostituieren muss. Wie kurzlebig sind der Lobende und das Gelobte, derjenige, der erinnert, und der, an den er sich erinnert. Er wird erinnert, aber nur in manchem Winkel dieser Gegend, und er wird auch nicht von jedem gleichermaßen erinnert, noch nicht einmal von dieser Person. Und die ganze Erde ist doch nur ein Staubkorn.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.21
Stoizismus beschäftigt sich damit, die Dinge aus jedem Blickwinkel zu betrachten – und bestimmte Situationen lassen sich leichter aus unterschiedlichen Perspektiven verstehen. In möglicherweise negativen Situationen könnte tatsächlich eine objektive, vielleicht sogar oberflächliche Betrachtung besser sein. Diese Sicht kann uns gegebenenfalls ein klareres Bild verschaffen, ohne zu sehr in die Tiefe zu gehen, ohne zu fragen, was etwas bedeuten könnte, oder nach den Ursachen zu forschen. In anderen Situationen, vor allem in solchen, wo es um etwas Beeindruckendes oder Lobenswertes geht, kann diese Herangehensweise hilfreich sein: Der Ausdruck von Geringschätzung. Indem ich Dinge von innen nach außen kehre, verhindere ich, dass sie mich zu stark beeindrucken, ich werde nicht so leicht von ihnen hingerissen.
Beschäftige dich eingehender mit deiner Angst vor Tod oder davor, vergessen zu werden – was wirst du entdecken? Hinterfrage genauso irgendeine wichtige Festveranstaltung – was wirst du entdecken?
28. April - Bedürfnisse machen Dich zum Knecht
»Tantalus: Die stärkste Macht ist –Thyestes: Keine Macht, wenn du nichts verlangst.«
-- Seneca, Thyestes, 440
In der modernen Welt gestaltet sich unsere Abhängigkeit von der Tyrannei ein wenig freiwilliger als in der Antike. Wir halten es mit einem herrischen Chef aus, obwohl wir vielleicht einen besseren Job haben könnten, wenn wir wollten. Wir ändern unseren Kleidungsstil oder sagen nicht frei heraus, was wir denken – weil wir einer bestimmten Gruppe angehören möchten. Wir setzen uns grausamen Kritikern oder Kunden aus? Wir wollen ihre Anerkennung. In diesen Fällen verfügen andere nur über Macht, weil wir etwas Bestimmtes von ihnen wollen. Ändere das und du bist frei.
Der verstorbene Modefotograf Bill Cunningham weigerte sich gelegentlich, den Magazinen seine Arbeit in Rechnung zu stellen. Als er von einem jungen Unternehmer gefragt wurde, warum er das tue, war Cunninghams sagenhafte Antwort: »Wenn du kein Geld nimmst, können sie dir auch nicht vorschreiben, was du tun sollst, Junge.«
Denke daran: Geld zu nehmen oder zu wollen – sprichwörtlich oder im eigentlichen Sinne – macht dich zum Knecht gegenüber den Leuten, die es haben. Ist es dir gleichgültig, so Seneca, dann verwandelt sich die stärkste Macht in Machtlosigkeit, zumindest, was dein Leben betrifft.
29. April - Reinige Dich vom Staub des Lebens
»Beobachte die Sterne in ihren Bahnen und stell dir vor, du läufst mit ihnen. Denke immer daran, wie sich die Elemente miteinander verwandeln, denn solche Gedanken reinigen dich vom Staub des irdischen Lebens.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7.47
Es ist nahezu unmöglich, in den Sternenhimmel zu schauen und dabei nichts zu empfinden. So ist etwa der Kosmologe Neil deGrasse Tyson der Ansicht, dass der Kosmos uns die komplexesten Gefühle vermittelt. Einerseits fühlen wir uns unsagbar winzig im Vergleich zum Universum und andererseits enorm mit dem großen Ganzen verbunden.
Da wir nun mal in unserem Körper stecken, ist es offensichtlich, dass wir dies für die wichtigste Sache der Welt halten. Wir steuern dieser Neigung entgegen, wenn wir auf die Natur schauen, auf Dinge, die viel größer sind als wir. Ein Satz von Seneca, der zu einer Redewendung geworden ist, bringt Marc Aurels Erkenntnis gut zum Ausdruck: Mundus ipse est ingens deorum omnium templum (Die Welt an sich ist ein riesiger Tempel der Götter).
Wenn man betrachtet, mit welcher Schönheit sich der Himmel ausbreitet, ist dies ein Gegengewicht zur quälenden Trivialität irdischer Belange. Und es ist gut und ernüchternd, wenn du dich in diesen Anblick verlierst, so oft du kannst.
30. April - Was entspricht Deinem Charakter?
»Was wir als vernünftig oder unvernünftig betrachten, ist für jeden Menschen unterschiedlich, so wie gut oder böse und sinnvoll oder sinnlos für jeden etwas anderes bedeutet. Deswegen brauchen wir Bildung, damit wir lernen, unsere Vorurteile gegenüber dem, was uns vernünftig und unvernünftig erscheint, im Gleichklang mit der Natur zu korrigieren. Wenn wir einordnen können, müssen wir uns nicht mehr bloß auf unsere Einschätzung dessen, was äußere Umstände bedeuten, verlassen, sondern wir wenden Regeln an, die dem eigenen Charakter entsprechen.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 1.2.5–7
Es ist leicht, sich in den eigenen Ansichten zu verfangen. Als klebten wir an einem unsichtbaren Drehbuch und würden Anweisungen und Verhaltensmustern folgen, die wir selbst nicht verstehen. Je mehr du das Drehbuch in Frage stellst und je mehr du es der strengen Prüfung deiner Bildung unterziehst, desto mehr wirst du zu deinem eigenen Kompass. Du wirst Überzeugungen und Gedanken haben, die nur dir und niemand anderem gehören.
Charakter ist eine mächtige Festung in einer Welt, die dich liebend gern verführen, kaufen, verlocken und verändern würde. Wenn du weißt, was du glaubst und warum, kannst du schädliche Beziehungen und Jobs ebenso vermeiden wie Schönwetterfreunde und jede Art von Missstand, die Menschen plagen, die über ihre größten Sorgen nicht richtig nachdenken.
Das vermag deine Bildung. Deswegen arbeitest du hier an dir.
Teil 2 - Die Kategorie des Handelns
Mai - Richtiges Handeln
1. Mai - Bekenne Dich vor allem zu Deinem Charakter
»Denn Philosophie besteht nicht aus der Darstellung, sondern darin, dem Beachtung zu schenken, was gebraucht wird, und sorgsam damit umzugehen.«
-- Musonius Rufus, Vorträge, 16.75.15–16
Der Mönch kleidet sich in seine Kutte. Ein Priester legt sein Gewand an. Ein Bankier trägt einen dunklen Anzug und hat einen Aktenkoffer bei sich. Ein Stoiker hat keine Uniform und erfüllt keine Stereotypen. Er ist nicht an seinem Aussehen zu erkennen.
Das Einzige, woran man ihn erkennt? An seinem Charakter.
2. Mai - SEI DER MENSCH, DER DU SEIN WILLST
»Zuerst sage dir, was für ein Mensch du sein willst, dann tue, was du dafür tun musst. Denn in fast jedem Bestreben verhält es sich so. Diejenigen, die nach etwas Sportlichem streben, wählen zuerst die Sportart. Dann geht es an die Arbeit.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.23.1–2a
Eine Bogenschützin wird höchstwahrscheinlich das Ziel nicht treffen, auf das sie auch nicht angelegt hat. Dasselbe gilt für dich, was immer dein Ziel sein mag. Sicher wirst du dein Ziel verfehlen, wenn du erst gar nicht den Bogen spannst und schießt. Unsere Wahrnehmungen und Prinzipien führen uns dahin, was wir uns wünschen, aber unser Handeln bestimmt schließlich, ob wir das erreichen oder nicht.
Du solltest also wirklich Zeit darauf verwenden – konsequent –, um dir klar zu machen, was wichtig für dich ist und was deine Prioritäten sind. Daran arbeite dann und gib alles andere auf. Wünschen und hoffen allein reicht nicht. Man muss handeln – und zwar richtig.
3. Mai - ZEIGE, WAS DU WEISST, ANSTATT DAVON ZU ERZÄHLEN
»Wer die reine Theorie nur schlucken soll, will sie gleich wieder ausspeien, so wie ein verstimmter Magen das Essen. Verdaue deine Theorien zuerst und du wirst dich nicht übergeben müssen. Sonst bleiben sie roh und sind nicht nahrhaft. Wenn du sie verdaut hast, zeige, wie dich deine durchdachten Entscheidungen verändert haben, so wie die Schultern von Turnern auf ihr Training schließen lassen, und die Arbeiten von Kunsthandwerkern auf das, was sie gelernt haben.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.21.1–3
Viele der stoischen Aphorismen kann man sich leicht merken, es sind kluge Zitate. Aber darum geht es bei der Philosophie nicht. Das Ziel ist es, die Worte in Taten umzusetzen. Wie Musonius Rufus betonte, rechtfertigt sich die Philosophie dann, wenn »man vernünftige Lehren mit vernünftigen Handlungsweisen verknüpft«.
Solltest du dich heute oder wann auch immer dabei ertappen, dass du herablassend dein Wissen zum Besten geben willst, halte inne und frage dich: Statt es in Worte zu fassen, wäre es nicht besser, mein Wissen anhand von Taten und Entscheidungen für sich sprechen zu lassen?
4. Mai - WAS WAHRLICH BEEINDRUCKT
»Ist es nicht viel besser, dass man dafür bekannt ist, Gutes zu tun, als für seinen extravaganten Lebensstil? Ist es nicht viel wertvoller, in Menschen zu investieren, statt in irgendwelche leblosen Dinge?«
-- Musonius Rufus, Vorträge, 19.91.26–28
Denke mal über all das nach, was du über das Leben der Reichen und Berühmten weißt. Wer sich für Abermillionen ein Haus gekauft hat. Wer mit seinem eigenen Friseur reist. Wer sich einen Tiger als Haustier hält oder einen Elefanten.
Diese Art von Klatsch und Tratsch war auch im Römischen Reich schon beliebt. Bestimmte Römer waren dafür bekannt, dass sie Tausende von Sesterzen für ihre Koi-Teiche ausgaben. Andere waren für ihre orgiastischen Partys und ausschweifenden Gelage berühmt. Die Werke von römischen Dichtern wie Juvenal und Martial sind reich an entsprechenden Anekdoten.
Auffallend Reiche kommen zu ihrem Ruf allein dadurch, weil sie verschwenderisch sind. Aber wie arm ist das! Ist es wirklich beeindruckend, ständig und immerfort nur Geld zu verprassen? Wer könnte das nicht, wenn er die Mittel hätte?
Marc Aurel verkaufte mutig kaiserliches Mobiliar, um seine Kriegsschulden zu begleichen. In jüngerer Zeit tat sich der ehemalige Präsident von Uruguay, José Mujica, hervor, der 90 Prozent seines Präsidentengehalts wohltätigen Zwecken zur Verfügung stellte und einen 25 Jahre alten Wagen fuhr. Wer schafft es, so zu handeln? Nicht jeder. Wer also ist beeindruckender?
5. Mai - DU BIST DAS PROJEKT
»Das Rohmaterial für die Arbeit eines guten und fähigen Menschen ist sein Leitprinzip, so wie der Körper für den Arzt und Sporttrainer und der Bauernhof für den Bauern.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.3.1
Kein Profi muss sich dafür rechtfertigen, dass er für seine Arbeit trainiert oder übt. Das ist schließlich seine Aufgabe und nur durch Übung kann er sich verbessern. Das Material ist je nach Karriere unterschiedlich, so wie sich auch Ort und Zeit je nach Person und Beruf unterscheiden. Aber was allen gleich ist, ist, dass an der Substanz gearbeitet werden muss, dass nur schrittweise die Leistung verbessert wird.
Den Stoikern zufolge ist der Verstand der Aktivposten, der die meiste Arbeit erfordert – und den wir am besten verstehen.
6. Mai - RECHTSCHAFFENHEIT IST SCHÖNHEIT
»Was macht die Schönheit eines Menschen aus? Ist es nicht seine Vortrefflichkeit? Junger Freund, wenn du schön sein willst, dann arbeite fleißig an deinen Qualitäten. Und die wären? Beobachte diejenigen, die du ohne Vorurteil loben kannst. Die Gerechten oder die Ungerechten? Die Gerechten. Die Ausgeglichenen oder die Disziplinlosen? Die Ausgeglichenen. Die Selbstbeherrschten oder die Unbeherrschten? Die Selbstbeherrschten. Wenn du danach trachtest, so zu werden wie sie, wirst du schön, aber je mehr du ihre Qualitäten ignorierst, desto hässlicher wirst du, selbst wenn du alle Regeln der Kunst anwendest, um äußerlich schön zu erscheinen.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.1.6b–9
Der heutige Schönheitsbegriff ist lächerlich. Unsere Standards bezüglich Attraktivität sind unglaublich un-stoisch, weil Dinge gelobt und hochgeschätzt werden, über die Menschen keine Macht haben: hohe Wangenknochen, Hautfarbe, Körpergröße, Augenform.
Ist es wirklich schön, in der genetischen Lotterie zu gewinnen? Oder sollte Schönheit nicht vielmehr resultieren aus Entscheidungen, Taten und den Eigenschaften, die wir entwickeln? Ausgeglichenheit, Gerechtigkeitssinn, Pflichtbewusstsein – das sind schöne Wesensmerkmale und sie sind bedeutender als das bloße Erscheinungsbild.
Heute kannst du dich entscheiden, vorurteilsfrei zu sein, gerecht zu handeln, ausgeglichen zu sein und dich selbst zu beherrschen, selbst wenn es dich Hingabe und Opfer kostet. Wenn das nicht wahre Schönheit ist, was dann?
7. Mai - WIE DEIN TAG GUT WIRD
»Gott legte dieses Gesetz fest, das besagt: Wenn du etwas Gutes haben möchtest, hole es aus dir heraus.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 1.29.4
So kannst du dir einen guten Tag garantieren: Tue Gutes. Jede andere Quelle der Freude steht außerhalb deiner Macht oder ist nicht erneuerbar. Aber gute Taten stehen ganz in deiner Macht, immer, unbegrenzt. Es ist die höchste Form der Eigenständigkeit.
8. Mai - GUT ODER BÖSE? DU HAST DIE WAHL
»Wo liegt das Gute? In unserer Entscheidungsgewalt. Wo liegt das Böse? In unserer Entscheidungsgewalt. Wo liegt das, was weder gut noch böse ist? In den Dingen außerhalb unserer Entscheidungsgewalt.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.16.1
Was heute auch passieren mag und wenn du dich wunderst, was das alles zu bedeuten hat – denke bei den Entscheidungen, die du in Erwägung ziehst, daran: Es ist immer deine Vernunft, die bestimmt, was richtig ist. Es geht nicht darum, ob etwas belohnt wird oder Erfolg verspricht, sondern ob es die richtige Entscheidung ist.
Epiktets Diktum hilft uns, dies ganz klar und zuversichtlich zu sehen: Ist etwas gut oder schlecht? Ist es richtig oder falsch?
Ignoriere alles andere. Konzentriere dich auf deine eigenen Entscheidungen.
9. Mai - CARPE DIEM
»Darum lasst uns von ganzem Herzen aufbrechen, die vielen Ablenkungen ignorieren und uns einem einzigen Ziel widmen. Sonst werden wir zu spät den schnellen und unaufhaltsamen Flug der Zeit erkennen und zurückgelassen. Heiße mit jedem Sonnenaufgang den neuen Tag willkommen, als wäre es der beste von allen und mach ihn dir ganz zu eigen. Wir müssen das Flüchtige ergreifen.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 108.27b–28a
Der heutige Tag bietet sich dir nur ein einziges Mal. Du hast 24 Stunden Zeit, ihn zu nutzen. Dann ist er vorbei und für immer vertan. Wirst du den heutigen Tag ausfüllen? Wirst du ausrufen: »Das ist mein Tag!« Und das Beste tun, so gut du kannst?
Was wirst du aus dem heutigen Tag machen, bevor er dir aus den Händen gleitet und der Vergangenheit angehört? Wenn dich jemand fragt, was du gestern gemacht hast, willst du doch nicht wirklich antworten: Nichts.
10. Mai - SEI NICHT INSPIRIERT, SEI INSPIRIEREND
»Lass uns selbst eine beherzte Tat unternehmen – und damit den Rang derjenigen erreichen, denen am häufigsten nachgeeifert wird.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 98.13b
In der griechischen und römischen Antike war es schon üblich, dass Politiker sich ihrem Publikum anbiederten. Sie stimmten überschwängliche Lobeshymnen auf das Volk an, auf ihr Land, auf hervorragende militärische Leistungen der Vergangenheit. Wie oft hast du einen politischen Kandidaten schon sagen hören: »Dies ist das großartigste Land in der Geschichte der Welt?« Bereits der Redner Demosthenes wies darauf hin, dass wir gerne stundenlang einem Sprecher vor einem berühmten Denkmal oder einem Heiligtum zuhören, der unsere »Vorfahren lobt, ihre Heldentaten beschreibt und ihre Siege aufzählt.«
Aber was erreicht man mit dieser Lobhudelei? Nichts. Eher das Gegenteil, denn die Bewunderung glänzender Auszeichnungen lenkt uns von dem Ziel ab, auf das sie gerichtet waren. Demosthenes erklärt auch, dass dies eigentlich ein Verrat an den Vorfahren ist, die uns inspirieren. Er schloss seine Rede an das Volk von Athen mit Worten, die sich auch bei Seneca wiederfinden und die noch Jahrhunderte später nachklingen: »Denkt daran, dass eure Vorfahren diese Siegeszeichen nicht aufstellten, damit ihr sie ehrerbietig anstarrt, sondern damit ihr den Tugenden dieser Männer, die sie aufgestellt haben, nacheifert.«
Dasselbe gilt für die Zitate in diesem Buch und für andere inspirierende Worte, die du aufnimmst. Bewundere sie nicht nur. Folge ihrem Beispiel, setze sie in Taten um.
11. Mai - SCHULD IST SCHLIMMER ALS GEFÄNGNIS
»Seelenfrieden bedeutet vor allem, nichts Falsches getan zu haben. Wer keine Selbstbeherrschung hat, lebt orientierungslos und voller innerer Unruhe.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 105.7
Stell dir einmal Flüchtige vor, die sich nach Jahren auf der Flucht bewusst selbst ausliefern. Warum tun sie das? Sie waren frei, dem Gesetz immer einen Schritt voraus, aber sie gaben auf! Die Schuld und der Stress des Überlebens auf der Flucht wurden schließlich schlimmer als die Aussicht, die Freiheit zu verlieren. Tatsächlich war diese (vermeintliche Freiheit) eine eigene Art von Gefängnis.
Aus demselben Grund hast du vielleicht als Kind eine Lüge gestanden und deine Eltern damit überrascht. Aus diesem Grund gesteht vielleicht ein Partner seine Untreue, obwohl der andere keinen Verdacht schöpfte. »Warum erzählst du mir das?!«, mag die oder der Betrogene schreien und aus dem Zimmer stürmen. »Weil es gerade so gut zwischen uns lief und ich es nicht mehr ausgehalten habe!«
Etwas Falsches zu tun hat einen immensen Preis, nicht nur für die Gesellschaft, auch für den Täter selbst. Schau dir das Leben der meisten Menschen an, die Moral und Disziplin ablehnen, und das Chaos und Elend, das daraus für sie folgt. Diese Strafe ist fast so schlimm oder noch schlimmer als die von einem Gericht verhängte. Deswegen gestehen oder ergeben sich auch viele Kriminelle. Denn in einem Moment großer Niedergeschlagenheit gestehen sie sich ein: Das ist keine Art zu leben. Sie wollen Seelenfrieden, und den erlangt man, wenn man richtig handelt. Das solltest du auch.
12. Mai - GÜTE IST IMMER DIE RICHTIGE ANTWORT
»Güte ist unbesiegbar, aber nur wenn sie aufrichtig, nicht geheuchelt oder vorgetäuscht ist. Was kann schon der gemeinste Mensch ausrichten, wenn du ihm mit Güte begegnest und ihn, wenn es dir möglich ist, sanft belehrst – genau in dem Moment, in dem er versucht, dir Schaden zuzufügen?«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 11.18.5.9a
Was wäre, falls du beim nächsten Mal, wenn jemand gemein zu dir ist, dich nicht nur zurückhältst und nicht gleich zurückschlägst, sondern wenn du mit absoluter Güte antwortest? Was wäre, wenn du »deine Feinde lieben und denen Gutes tun könntest, die dich hassen«? Wie würde sich das deiner Meinung nach auswirken?
In der Bibel steht: Wenn du einem verhassten Feind etwas Nettes und Liebevolles tun kannst, wäre dies als »sammelten sich glühende Kohlen auf seinem Haupt«. Die erwartete Reaktion auf Hass ist noch mehr Hass. Wenn heute jemand dir gegenüber eine spitze Bemerkung macht oder gemein zu dir ist, wird er als Antwort etwas Ähnliches erwarten, aber keine Freundlichkeit. Wenn seinen Erwartungen nicht entsprochen wird, dann macht ihn das verlegen. Es ist ein Schock in seinem System – aber er tut euch beiden gut.
Hinter Unhöflichkeit, Gemeinheit und Grausamkeit verbirgt sich häufig eine tiefsitzende Schwäche. In solchen Situationen mit Güte zu reagieren ist nur sehr gefestigten Menschen möglich. Diese Stärke besitzt du. Nutze sie.
13. Mai - ÖL INS FEUER DER GEWOHNHEIT SCHÜTTEN
»Jede Gewohnheit und Fähigkeit wird durch entsprechende Handlungen gestärkt und genährt: Wandern durch Wandern, Laufen durch Laufen ... Willst du daher etwas tun, mache eine Gewohnheit daraus. Wenn du etwas nicht tun möchtest, dann lass es. Mache dir etwas anderes zur Gewohnheit. Dasselbe Prinzip lässt sich auf unser Denkvermögen anwenden. Wenn du wütend wirst, hast du dieses Übel nicht nur erfahren, sondern auch eine schlechte Gewohnheit bestärkt und weiter Öl ins Feuer gegossen.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.18.1–5
Wir sind das, was wir wiederholt tun«, hat Aristoteles gesagt. »Vorzüglichkeit ist daher keine Handlung, sondern eine Gewohnheit.« Die Stoiker fügten hinzu, dass wir ein Produkt unserer Gedanken sind (»So wie du gewöhnlich denkst, wird sich auch der Charakter deines Geistes formen«, sagte Marc Aurel).
Denke über deine Aktivitäten der letzten Woche nach und darüber, was du für heute und nächste Woche geplant hast. Der Mensch, der du gerne wärst, oder der Mensch, als den du dich siehst – wie korrespondieren deine Taten mit dem Bild von dir? In welches Feuer gießt du Öl? Was für ein Mensch wirst du sein?
14. Mai - UNSER WOHLBEFINDEN LIEGT IN UNSEREN HANDLUNGEN
»Wer auf Ruhm aus ist, macht sein Wohlbefinden von der Beachtung durch andere abhängig; wer das Vergnügen liebt, verbindet es mit Gefühlen; doch nur der, der ein tieferes Verständnis der Dinge hat, sucht es in seinen eigenen Taten ... Denke über das Wesen der Menschen nach, denen du zu gefallen suchst, und über die Besitztümer, nach denen du strebst, und was du anstellst, um diese Ziele zu erreichen. Wie schnell die Zeit solche Dinge nichtig macht und wie viele noch ausgelöscht werden.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6:51, 59
Wenn dein Glück vom Erreichen bestimmter Ziele abhängig ist, was passiert, wenn das Schicksal dazwischenfunkt? Was, wenn du dir eine Abfuhr holst? Wenn äußere Umstände ein Hindernis bilden? Was ist, wenn du alles erreichst, aber feststellst, dass das niemanden beeindruckt? Das ist das Problem, wenn du dein Glück von Dingen abhängig machst, die du nicht beherrschen kannst. Es ist ein aberwitziges Risiko.
Wenn Schauspieler sich bei einem Projekt auf die Publikumsresonanz konzentrieren, darauf fixiert sind, ob es bei den Kritikern ankommt und ein Erfolg wird, werden sie ständig enttäuscht und gekränkt sein. Aber wenn sie ihre Schauspielkunst lieben und alles daran geben, das Bestmögliche aus sich herauszuholen, wird ihre Arbeit sie stets erfüllen. So wie sie sollten wir uns an unseren Handlungen erfreuen, und zwar mehr darüber, dass wir die richtigen Dinge tun, als über die Ergebnisse, die daraus folgen.
Wir sollten es uns nicht zum Ziel setzen zu gewinnen, sondern mit unserem höchsten Einsatz spielen. Wir sollten nicht den Vorsatz haben, dass man uns dankt oder anerkennt, sondern helfen und das tun, von dem wir überzeugt sind. Unser Fokus sollte nicht auf dem liegen, was uns geschieht, sondern wie wir reagieren. So werden wir immer Zufriedenheit und Stabilität finden.
15. Mai - SEI DANKBAR
»Beschäftige dich nicht mit Dingen, die du nicht besitzt, als gehörten sie dir, sondern sei dankbar für das, was du wirklich besitzt, und stell dir vor, wie sehr du dir diese Dinge wünschen würdest, würden sie dir nicht bereits gehören. Aber achte darauf, dass du diese Dinge nicht so sehr wertschätzt, dass es dir Kummer bereiten würde, solltest du sie verlieren.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7.27
Wir begehren oft, was andere Menschen besitzen. Verzweifelt versuchen wir, mit der Familie Schulze oder Meier mitzuhalten, während die Schulzes und Meiers kläglich versuchen, es uns gleichzutun.
Es wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre. Deswegen versuche heute einmal, nicht das haben zu wollen, was andere besitzen. Bekämpfe deinen Drang zum Sammeln und Horten. Das ist nicht der richtige Weg fürs Leben und Handeln. Genieße und nutze, was du bereits hast, und lasse dich in deinem Tun von dieser Einstellung leiten.
16. Mai - DIE KETTENMETHODE
»Wenn du kein Hitzkopf sein willst, dann nähre diese Angewohnheit nicht. Versuche als ersten Schritt, ruhig zu bleiben, und zähle die Tage, an denen du nicht wütend warst. Ich war früher jeden Tag wütend, dann jeden zweiten, jeden dritten oder vierten ... Wenn du es 30 Tage lang schaffst, danke Gott! Denn eine solche Angewohnheit wird zunächst erst schwächer und dann ausgemerzt. Wenn du dir sagen kannst ›Ich habe heute meine Beherrschung nicht verloren, oder am nächsten Tag, oder seit drei oder vier Monaten‹ wirst du wissen, dass du in besserer Verfassung bist.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.18.11b–14
Der Comedian Jerry Seinfeld gab einmal einem jungen Komiker namens Brad Isaac Ratschläge, wie er schreiben und neues Material produzieren könne. Führe einen Kalender, riet er ihm, und jeden Tag, an dem du Witze schreibst, mache ein Kreuz. Schon bald wirst du eine Kette aus Kreuzen gebildet haben und deine Aufgabe ist es jetzt, diese Kette einfach nicht zu unterbrechen. Erfolg ist eine Sache des Schwungs. Wenn du erst einmal in Schwung kommst, ist es leichter, am Ball zu bleiben.
Während Seinfeld die Kettenmethode anwendete, um eine gute Angewohnheit aufzubauen, war Epiktet der Ansicht, dass man sie auch einsetzen kann, um eine schlechte zu eliminieren. Das ist nicht viel anders als »einen Tag nach dem anderen« nüchtern zu bleiben. Beginne an einem Tag, womit auch immer: Sei es, dein Temperament zu zügeln, nicht in fremden Revieren zu wildern oder ständig Arbeit aufzuschieben. Dann wiederhole deine Bemühungen am nächsten Tag, und am Tag darauf. Bilde eine Kette und versuche dein Bestes, sie nicht zu unterbrechen. Lass nichts dazwischenkommen.
17. Mai - DER STOIKER IST STETS IM WERDEN BEGRIFFEN
»Zeige mir jemanden, der krank und glücklich ist, in Gefahr und glücklich, auf dem Sterbebett und glücklich, im Exil und glücklich, in Ungnade gefallen und glücklich. Zeige ihn mir! Bei Gott, wie gerne würde ich einen Stoiker sehen. Aber da du mir niemanden zeigen kannst, der so perfekt ist, zeige mir zumindest jemanden, der sich aktiv mit diesem Ziel formt und ausbildet ... Zeige ihn mir!«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.19.24–25a, 28
Statt Philosophie als Ziel zu betrachten, das man anstrebt, solltest du sie als etwas ansehen, das angewendet wird. Nicht gelegentlich, sondern im Verlauf eines Lebens – auf dessen Weg du stufenweise Fortschritte machst. Kontinuierliche Übungen, keine formlosen Erleuchtungen.
Epiktet liebte es, seine Schüler aus ihrer selbstgefälligen Zufriedenheit über ihre eigenen Fortschritte zu rütteln. Er wollte sie und somit auch dich daran erinnern, dass konstante Arbeit und ernsthaftes Training nötig sind, wenn wir uns jemals der perfekten Form annähern wollen.
Es ist wichtig, sich stets in Erinnerung zu rufen, dass wir auf unserem Weg zur Selbstvervollkommnung nie ankommen werden. Der Weise – der wahre Stoiker, der sich in jeder Situation richtig verhält – ist ein Ideal, nicht ein Ziel.
18. Mai - WIE DU ETWAS TUST, IST, WIE DU ALLES TUST
»Richte deine Aufmerksamkeit auf das, was vor dir liegt, auf das Prinzip, auf die Aufgabe und auf das, was geschildert wird.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.22
Es macht Spaß, über die Zukunft nachzudenken. Es ist leicht, über die Vergangenheit zu sinnieren. Viel schwerer ist es, diese Energie auf das zu richten, was genau in diesem Moment vor uns liegt, besonders wenn es etwas ist, das wir ungern tun. Wir denken: Dies ist nur ein Job, es ist nicht das, was ich bin. Das ist nicht so wichtig. Aber es ist sehr wohl wichtig. Wer weiß, vielleicht ist es das Letzte, das du jemals tun wirst. Hier ruht David, lebendig begraben unter einem Berg unerledigter Arbeiten.
Ein altes Sprichwort besagt: »Wie du etwas tust, ist, wie du alles tust.« Das stimmt. Wie du den heutigen Tag bewältigst, wirst du jeden Tag bewältigen. Wie du mit dieser Minute umgehst, wirst du mit jeder Minute umgehen.
19. Mai - LERNEN, ÜBEN, TRAINIEREN
»Die Philosophen mahnen uns, sich nicht bloß mit lernen zufrieden zu geben, sondern zusätzlich zu üben und dann zu trainieren. Denn mit der Zeit vergessen wir, was wir gelernt haben, tun am Ende das genaue Gegenteil und vertreten Meinungen, die im Gegensatz stehen zu dem, wofür wir einstehen sollten.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 2.9.13–14
Nur wenige Menschen können sich einen Lehrfilm anschauen oder etwas erklärt bekommen und haben anschließend alles begriffen. Die meisten von uns müssen etwas tatsächlich einige Male wiederholen, bevor sie es wirklich beherrschen. Ein wesentliches Merkmal von Kampfkunst, militärischer Ausbildung und Sporttraining nahezu jeglicher Art ist das monotone Üben, Stunde um Stunde. Ein Sportler auf Rekordniveau trainiert jahrelang, damit er Bewegungen ausführen kann, die manchmal nur ein paar Sekunden oder noch weniger dauern. Der zweiminütige Drill, wie man einem Würgegriff entkommt, der perfekte Sprung. Wissen allein genügt nicht. Es muss von den Muskeln und vom Körper verinnerlicht werden. Es muss ein Teil von uns werden. Sonst riskieren wir unter Stress oder Schwierigkeiten, binnen Sekunden zu verlieren.
Dasselbe gilt für philosophische Grundsätze. Du kannst dir nicht einmal etwas anhören und erwarten, dass du darauf zurückgreifen kannst, wenn die Welt um dich herum zusammenbricht. Denke daran: Marc Aurel schrieb seine Betrachtungen nicht für andere Menschen. Er dachte für sich selbst über alles nach. Selbst als erfolgreicher, kluger und erfahrener Mann übte und schulte er sich bis zu seinem Lebensende, um stets das Richtige zu tun. Wie ein Träger des schwarzen Gürtels besuchte er jeden Tag das Dojo, um sich abzurollen; wie ein professioneller Sportler erschien er jede Woche, um zu trainieren, auch wenn andere vielleicht dachten, dass das nicht nötig sei.
20. Mai - QUALITÄT STATT QUANTITÄT
»Was soll es bezwecken, zahllose Bücher zu besitzen, die man zu Lebzeiten kaum alle lesen kann? Dem Lernenden wird nichts beigebracht, das reine Ausmaß belastet ihn nur. Deshalb ist es besser, die Samen von ein paar Autoren zu pflanzen, als die von vielen zu zerstreuen.«
-- Seneca, Von der Ruhe des Gemüts, 9.4
Es gibt keinen Preis dafür, die meisten Bücher gelesen zu haben, bevor man stirbt. Selbst wenn du der passionierteste Leser der Welt wärst, ein Buch pro Tag lesen würdest, wäre deine Sammlung dennoch kaum größer als eine kleine Bibliotheksabteilung. Du wirst niemals mithalten können mit dem, was auf den Servern von Google Books liegt, oder mit den Hunderttausenden neuer Buchtitel, die jährlich auf Amazon angeboten werden.
Was wäre, wenn du die Qualität der Quantität vorzögest, was dein Lesen und Lernen betrifft? Was wäre, wenn du ein paar großartige Bücher intensiv lesen würdest anstatt flüchtig durch alle Neuerscheinungen zu blättern? Deine Bücherregale wären vielleicht leerer, aber dein Geist und dein Leben wären reicher.
21. Mai - WAS FÜR EIN BOXER BIST DU?
»Aber was ist Philosophie? Bedeutet sie nicht, uns auf alles, was kommt, vorzubereiten? Verstehst du nicht, dass es eigentlich darauf hinausläuft, dass du dir sagst, ich bin vorbereitet, alles auszuhalten, was auch geschehen mag? Ansonsten wäre man wie ein Boxer, der aus dem Ring steigt, weil er ein paar Schläge abbekommen hat. Natürlich kannst du den Boxring ohne Konsequenzen verlassen, aber welchen Vorteil hätte es, das Streben nach Weisheit aufzugeben? Was sollte sich also jeder im Angesicht einer Prüfung sagen? Dafür habe ich trainiert, denn das ist meine Disziplin!«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 3.10.6–7
Die Stoiker liebten Metaphern, die sich auf Boxen und Ringen bezogen, so wie wir heute Analogien benutzen, die sich auf Baseball oder Fußball beziehen. Das liegt vielleicht daran, dass die Sportart Pankration – wörtlich »alle Stärken«, eine reinere Form als die heutigen gemischten Kampfkünste – in Griechenland und Rom fester Bestandteil für Jugendliche und Erwachsene war. (Tatsächlich haben jüngste Untersuchungen an griechischen Statuen Fälle von »Blumenkohlohren« festgestellt, eine gängige Verletzung beim Ringen.) Die Stoiker beziehen sich auf die Kampfkunst, weil sie sich damit auskannten.
Seneca schreibt, dass Wohlergehen ohne Verletzungen eine Schwäche und im Ring leicht zu besiegen sei, aber »ein Mann, der im ständigen Streit mit den Missgeschicken liegt, wird von all den Leiden eine zähe Haut bekommen«. So ein Mann, so Seneca, kämpft bis zum Ende und gibt niemals auf.
Genau das meint auch Epiktet. Was für ein Boxer bist du, wenn du aufgibst, bloß weil du getroffen wurdest? Das ist schließlich das Wesen des Sports! Kann dich das davon abhalten, weiterzumachen?
22. Mai - HEUTE IST DER TAG
»Du bekommst, was du verdienst. Statt heute ein guter Mensch zu sein, hast du dich entschieden, morgen einer zu werden.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.22
»Ich beklage mich nicht über den Mangel an Zeit ... Die wenige Zeit, die ich habe, wird schon reichen. Heute, an diesem Tag, wird mir gelingen, worüber morgen niemand schweigen kann. Ich werde die Götter belagern und die Welt wachrütteln.«
-- Seneca, Medea, 423–425
Wir wissen fast immer, was richtig ist. Wir wissen, dass wir uns nicht aufregen sollen, dass wir etwas nicht zu persönlich nehmen sollen, dass wir in den Bioladen gehen sollten, statt das Fast-Food-Restaurant anzusteuern, dass wir uns hinsetzen und uns eine Stunde lang konzentrieren müssen. Der schwierige Teil ist, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt dazu durchzuringen.
Was hält uns davon ab? Der Schriftsteller Steven Pressfield bezeichnet dieses Phänomen als Widerstand. So schreibt er in The War of Art: »Wir sagen uns nicht: ›Ich werde meine Symphonie nie(mals) schreiben.‹ Stattdessen sagen wir: ›Ich werde meine Symphonie schreiben, schon morgen werde ich damit beginnen.‹«
Heute, nicht morgen, ist der Tag, an dem wir anfangen sollten, gut zu sein.
23. Mai - ZEIGE MIR, WIE MAN LEBT
»Beweise mir, dass ein gutes Leben nicht bedeutet, dass es lang ist, sondern wie es genutzt wird. Denn es ist möglich und kommt sogar häufiger vor, dass ein Mensch trotz eines langen Lebens viel zu kurz gelebt hat.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 49.10b
Es ist nicht nötig, Seneca etwas zu beweisen. Beweise es dir selbst. Ganz gleich, wie viele Jahre dir letztendlich gegeben sind, kann dein Leben aufrichtig als lang und erfüllt bezeichnet werden. Wir kennen alle einen Menschen, jemanden, den wir zu früh verloren haben, aber über den wir denken: Wenn ich nur die Hälfte von dem machen könnte, was er oder sie getan hat, würde ich mein Leben als erfüllt betrachten.
Der beste Weg, dies zu erlangen, ist, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, auf die Aufgabe, die in diesem Moment vor uns liegt, sei sie groß oder klein. Wie Seneca sagt: Indem wir uns ganz bewusst der Gegenwart widmen, wird »der überstürzte Flug der Zeit etwas sanfter«.
24. Mai - BESTIMME SELBST DIE GUNST DES SCHICKSALS
»Du sagst, ein günstiges Schicksal sei dir an jeder Ecke begegnet. Aber ein vom Schicksal begünstigter Mensch ist jemand, der sein günstiges Schicksal selbst bestimmt. Ein günstiges Schicksal besteht aus einer ausgeglichenen Seele, den richtigen Impulsen und guten Taten.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5.36
Was ist die gewinnbringendste Vorstellung von Glück? Jene von vollkommen zufälligen Faktoren, die nicht in unserer Macht stehen, oder die, die von Wahrscheinlichkeit bestimmt wird, die auf den richtigen Entscheidungen und der richtigen Vorbereitung beruht – auch wenn es keine Garantie gibt? Offensichtlich letztere. Deswegen tendieren erfolgreiche Menschen, die unerklärlicherweise stets Glück zu haben scheinen, zu dieser Vorstellung.
Laut der wunderbaren Webseite Quote Investigator lässt sich diese Idee mindestens bis zu einem Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert zurückverfolgen: »Fleiß ist die Mutter des Glücks.« In den 1920er-Jahren klang dies bei Coleman Cox schon etwas moderner, als er sagte: »Ich bin ein großer Anhänger des Glücks. Je härter ich arbeite, desto mehr Glück scheine ich zu haben.« (Dieses Zitat wurde fälschlicherweise Thomas Jefferson zugeschrieben.) Heute sagen wir: »Glück ist, wenn harte Arbeit und günstige Gelegenheiten zusammentreffen.« Oder klingt das absurd?
Heute kannst du dich mit der Hoffnung tragen, dass dir ein günstiges Schicksal und viel Glück wie durch Zauber begegnen werden. Oder du kannst dich darauf vorbereiten, Glück zu haben, indem du dich darauf konzentrierst, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun – und kurioserweise wird Glück auf diesem Weg meist nicht mehr so nötig sein.
25. Mai - WO WIR FREUDE FINDEN
»Die Freude eines Menschen besteht darin, einer angemessenen Arbeit nachzugehen. Und angemessene Arbeit bedeutet, dass man anderen gegenüber gütig ist, dass man den sinnlichen Begierden keine Beachtung schenkt, dass man die Eindrücke erkennt, die vertrauenswürdig sind, die natürliche Ordnung der Dinge achtet und alles, was mit ihr im Einklang steht.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.26
Wenn Hundetrainer herangezogen werden, um mit einem ungehorsamen oder unglücklichen Hund zu arbeiten, fragen sie gewöhnlich gleich zu Anfang: »Gehen Sie mit dem Hund auch raus?« Sie fragen, weil Hunde gezüchtet wurden, um bestimmte Aufgaben zu erledigen, um zu arbeiten. Werden sie aber ihres natürlichen Triebs beraubt, leiden sie und benehmen sich daneben, ganz gleich, wie sehr sie verwöhnt werden und wie gut sie es haben.
Dasselbe gilt für Menschen. Wenn du hörst, dass die Stoiker bestimmte Gefühle und materiellen Luxus ablehnen, liegt das nicht daran, dass sie keine Freude an diesen Dingen haben. Es liegt nicht daran, dass das Leben eines Stoikers jeglicher Freude und jeglichen Spaßes beraubt ist. Die Stoiker wollen einfach helfen, dass wir unseren Sinn finden, dass wir erleben, welche Freude man erfährt, wenn man seine angemessene Arbeit verrichtet.
26. Mai - KÜMMERE DICH NICHT LÄNGER DARUM, WAS ANDERE DENKEN
»Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr wir uns selbst lieben, aber viel mehr Wert auf die Meinungen anderer statt auf unsere eigenen legen ... Wie viel mehr Glauben schenken wir den Meinungen, die andere über uns haben, und wie wenig unseren eigenen!«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 12.4
Wie schnell vernachlässigen wir unsere Gefühle und übernehmen die von irgendjemand anderem. Im Geschäft dachten wir, das Hemd steht uns gut, aber wir betrachten es mit Scham und Geringschätzung, sobald der Ehepartner oder ein Kollege eine flapsige Bemerkung darüber macht. Wir können mit unserem Leben enorm zufrieden sein – bis wir herausfinden, dass es jemand anderem, den wir noch nicht einmal mögen, besser geht. Oder, was noch schlimmer und viel gefährlicher ist: Wir sind unzufrieden mit unseren Leistungen und Begabungen, bis ein anderer sie wertschätzt.
Wie die meisten stoischen Übungen zielt auch diese darauf ab, uns zu lehren, dass, obwohl wir unsere eigenen Ansichten beherrschen, wir keine Macht über die Ansichten von anderen haben – am allerwenigsten über die, die uns betreffen. Aus diesem Grund ist es ein gefährliches Unterfangen, sich von den Meinungen anderer abhängig zu machen und zu versuchen, von anderen anerkannt zu werden.
Verschwende nicht zu viel Zeit darauf, was andere über dich denken. Denke darüber nach, was du denkst. Denke lieber über die Folgen nach, darüber, ob du das Richtige tust.
27. Mai - KLEINIGKEITEN MACHEN VIEL AUS
»Wohlbefinden wird durch kleine Schritte erreicht, ist aber wahrlich keine kleine Sache.«
-- Zenon, zitiert in Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 7.1.26
Der berühmte Biograf Diogenes Laertius schreibt dieses Zitat Zenon zu, aber räumt ein, dass es auch Sokrates gesagt haben kann, dass es also das Zitat eines Zitats sein könnte. Aber spielt das wirklich eine Rolle? Die Wahrheit bleibt die Wahrheit.
In diesem Fall eine Wahrheit, die wir gut kennen: Kleine Dinge rechnen sich. Ein Mensch ist nicht gut, weil er behauptet, gut zu sein, sondern weil er entsprechend handelt. Keinem gelingt etwas wie von selbst – es ist ein Weg mit vielen individuellen Entscheidungen. Man muss dafür zur rechten Zeit aufstehen, zu einfache Lösungen vermeiden, in sich selbst investieren und seinen Job machen. Und zweifele nicht daran: Die einzelne Handlung mag unbedeutend erscheinen, aber die Wirkung von allen zusammen ist es nicht.
Denke über die kleinen Entscheidungen nach, die sich heute vor dir auftun. Weißt du, welche die richtigen sind und bei welchen du es dir leicht machst? Entscheide dich für die richtigen und beobachte, wie all die kleinen Dinge sich rechnen und dich verändern.
28. Mai - ZWEI DINGE BEVOR DU HANDELST
»Erstens: Lasse dich nicht aus der Ruhe bringen. Alles geschieht gemäß dem natürlichen Lauf der Dinge und in kurzer Zeit bist du nichts und nichtig, wie es selbst große Imperatoren wie Hadrian und Augustus nun sind. Zweitens: Überlege dir genau, was die vor dir liegende Aufgabe ist, und denke daran, dein Ziel ist, ein guter Mensch zu sein. Handle gleich so, wie es die Natur erfordert, und sprich so, wie es dir gerecht und gebührend erscheint, mit Güte, Bescheidenheit und Aufrichtigkeit.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.5
Stell dir mal kurz vor, wie das Leben von Marc Aurel als Kaiser gewesen sein muss. Er führte den Vorsitz im Senat. Er führte die Truppen in die Schlacht, lenkte als oberster Kommandant die Strategie der Armee. Er hörte sich auch Gesuche an: von Bürgern, von Rechtsgelehrten und von fremden Regierungen. In anderen Worten: Er musste wie die meisten Menschen in Führungspositionen Entscheidungen treffen – den ganzen Tag lang, jeden Tag, eine Entscheidung nach der anderen.
Sein Schema, um Entscheidungen zu treffen, ist eine erprobte Methode: das Richtige zu tun und richtig zu handeln. Deswegen sollten auch wir versuchen, so zu handeln.
Zunächst einmal: Rege dich nicht auf, denn das färbt deine Entscheidung negativ und macht sie schwerer, als nötig.
Zweitens: Denke an die Ziele und Prinzipien, die dir am wertvollsten sind. Wenn du diese als Filter nutzt, wirst du schlechte Entscheidungen ausschließen können und die Aufmerksamkeit auf die richtigen lenken.
Rege dich nicht auf.
Tu das Richtige.
Das ist alles.
29. Mai - ARBEIT IST THERAPIE
»Arbeit nährt edle Gemüter.«
-- Seneca, Moralische Briefe, 31.5
Kennst du das Gefühl, wenn du ein paar Tage keinen Sport getrieben hast? Ein wenig träge. Gereizt. Schwer. Unsicher. Andere beschleicht ein ähnliches Gefühl, wenn sie zu lange im Urlaub waren oder gleich nachdem sie in Rente gegangen sind. Geist und Körper wollen in Anspruch genommen werden, sie richten sich gegen sich selbst, wenn sie nicht in irgendeiner Form nutzbringend gefordert werden.
Es ist traurig, wenn man sich überlegt, dass diese Frustration für viele Menschen alltägliche Realität ist. Sie lassen so viel von ihrem Potenzial unausgeschöpft, weil sie Jobs haben, bei denen sie nicht wirklich viel machen müssen, oder weil ihnen zu viel Zeit zur Verfügung steht. Noch schlimmer ist es, wenn wir versuchen, diese Gefühle zu verdrängen, indem wir Dinge kaufen, ausgehen, streiten, Dramen inszenieren – den leeren Kalorien der Existenz nachhängen anstatt wahre Nahrung zu suchen.
Die Lösung ist einfach und dankenswerterweise immer in Reichweite. Mach dich auf und arbeite.
30. Mai - HART ODER KAUM ARBEITEN?
»Ich kann einen Menschen nicht als schweren Arbeiter bezeichnen, nur weil ich höre, dass er liest und schreibt, selbst wenn er die ganze Nacht durcharbeitet. Bis ich weiß, wofür er arbeitet, kann ich ihn nicht als fleißig erachten ... Das kann ich, wenn das Ziel, woran er arbeitet, sein eigenes Leitprinzip ist und dies sich in stetem Einklang mit der Natur befindet.«
-- Epiktet, Lehrgespräche, 4.4.41; 43
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die fleißigste Person, die du kennst, auch die produktivste ist? Wir neigen dazu, Fleiß mit Tugend gleichzusetzen, und glauben, wenn man viele Stunden der Arbeit widmet, dass dies auch belohnt wird.
Stattdessen beurteile, was du tust, warum du es tust und was genau du damit erreichen willst. Wenn du keine gute Antwort findest, hör auf damit.
31. Mai - WIR HABEN NUR EINE PFLICHT
»Was ist deine Berufung? Ein guter Mensch zu sein.«
-- Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 11.5
Die Stoiker waren vor allem davon überzeugt, dass unsere Aufgabe auf Erden darin besteht, ein guter Mensch zu sein. Es ist eine grundsätzliche Pflicht, doch wir sind Experten darin, Entschuldigungen zu finden, es nicht zu sein.
Um noch einmal den Trainer Belichick zu zitieren: »Mach deinen Job.«