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November 25, 2025•1,136 words
Der neue „Friedensplan“ von Donald Trump zeigt, wie brüchig Europas sicherheitspolitische Position geworden ist.
Doch diese Schwäche ist nicht von gestern.
Sie entstand über 15 Jahre – zwischen 1999 und 2014.
Eine tektonische Verschiebung Europas, die bis heute wirkt und unsere Handlungsfähigkeit bestimmt.
Hier der gesamte Kontext:
4.1.0a – Die tektonische Verschiebung Europas (1999–2014)
Eine Rekonstruktion der stillen, übersehenen Verschiebungen, die den Verlust der europäischen Mitte vorbereiteten.
4.1.0a.1 – Die doppelte Erweiterung
Zwischen 1999 und 2007 veränderte sich Europa so tiefgreifend wie nie zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges.
Die EU erweiterte sich nach Mittel- und Osteuropa, die NATO folgte nahezu parallel.
Was im Westen als „Vollendung der Einheit“ verstanden wurde, erlebte Russland als schwindenden Einflussraum.
Die Euphorie über Integration überdeckte dabei, dass EU und NATO in den Augen vieler Staaten nicht zwei,
sondern ein zusammenhängendes Projekt bildeten.
Russland wiederum befand sich in einer Phase innerer Konsolidierung.
Putin übernahm 2000 ein Land im wirtschaftlichen und sozialen Zerfall.
Seine frühe Annäherung an Europa, damals ernst gemeint,
blieb ohne strukturelle Antwort aus Brüssel oder Washington.
Das westliche Selbstverständnis lautete: Die Geschichte sei entschieden,
Europa erweitere sich „natürlich“ nach Osten,
und Russland werde früher oder später folgen.
Diese Logik übersah die Realität:
Russland verstand sich nicht als Kandidat, sondern als Pol.
Damit begannen die tektonischen Spannungen,
die später unbeherrschbar werden sollten.
4.1.0a.2 – Putins Warnung (2007)
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 formulierte Putin,
was in Russland seit Jahren wuchs:
den Eindruck, dass der Westen seine Sicherheitsinteressen missachte.
Entscheidend war nicht die Rhetorik, sondern die Diagnose:
Die NATO expandiere an Grenzen heran,
die zuvor strategische Pufferzonen gewesen waren.
Helmut Schmidt sah denselben Bruch:
Er sprach von einer „Unfähigkeit des Westens, seine eigenen Grenzen
der Zumutung zu erkennen“ und warnte davor, Russland zu isolieren.
Doch im Westen überwog Selbstgewissheit;
die Warnung Putins wurde als aggressiver Tonfall gedeutet,
nicht als Ausdruck geostrategischer Furcht.
4.1.0a.3 – Der Bruch von Bukarest (2008)
Der NATO-Gipfel in Bukarest 2008 war ein Wendepunkt –
eine stille, aber reale strategische Zäsur.
Deutschland und Frankreich warnten vor einer Einladung an Ukraine und Georgien:
Sie würden damit Versprechen machen, die sie nicht einlösen können.
Die USA drängten dennoch auf die Perspektive „Membership Action Plan“.
Das Ergebnis war ein Kompromiss, der keiner war:
• kein Beitritt,
• aber das öffentliche Versprechen eines zukünftigen Beitritts.
Egon Bahr nannte den Kompromiss später „den verantwortungslosesten Satz der Allianz seit 1949“.
Denn der Satz hatte eine doppelte Wirkung:
• In der Ukraine entstand die Erwartung, sich nach Westen orientieren zu können – ohne Schutzgarantie.
• In Russland entstand die Gewissheit, dass die NATO die letzte rote Linie überschreiten wolle.
Noch im selben Jahr eskalierte der Georgien-Konflikt.
In Moskau wurde er als Auftakt westlicher Einmischung gelesen,
im Westen als Beweis russischer Aggression.
Beide Seiten interpretierten dasselbe Ereignis spiegelverkehrt.
Das war der eigentliche Bruch.
4.1.0a.4 – Die Jahre der Strategien (2009–2013)
Die Realität war:
• Die EU trieb mit der Östlichen Partnerschaft (2009)
die institutionelle und wirtschaftliche Integration der Ukraine, Moldaus und Georgiens voran.
• Russland sah darin eine indirekte NATO-Erweiterung,
denn wirtschaftliche Angleichung erzeugt politische und sicherheitspolitische Bindung.
• Die USA unterstützten diese Prozesse – Washington konnte es sich leisten,
weil amerikanische Risiken nicht territorial waren.
Parallel formierte sich in Mittel- und Osteuropa ein neues politisches Selbstbild:
ökonomisch wachsend, sicherheitspolitisch besonders loyal gegenüber den USA
und kulturell konservativer als der Westen.
Polen wurde unter Donald Tusk (bis 2014)
zum Zentrum dieser neuen europäischen Identität.
Gemeinsam mit den baltischen Staaten und Rumänien
drängte Warschau auf eine härtere Haltung gegenüber Russland –
und fand in Washington zunehmend Gehör.
In dieser Phase entstanden zwei Verständnisse von Europa:
1. Das westliche – Kooperation als politisches Bindemittel.
2. Das östliche – Integration als Schutzwall gegen Russland.
Diese Spannung blieb unausgetragen.
Sie prägte jedoch implizit die gesamte Russlandpolitik –
und später auch ihre Eskalation.
Parallel testete Russland die Reaktionen Europas:
Cyberangriffe, politische Einflussnahme, Desinformationen.
Nicht als offensiver Masterplan,
sondern als Ausdruck wechselseitigen Misstrauens und politischer Versuchsfelder.
Die KSZE/OSZE, eigentlich gegründet, um genau solche Spannungen zu moderieren,
war längst marginalisiert.
Ihr Prinzip gemeinsamer Sicherheit
war durch exklusive Bündnisse ersetzt worden.
Peter Brandt sagte 2023 rückblickend:
„Die OSZE wäre der einzige Raum gewesen,
in dem die europäische Sicherheitsordnung mit Russland hätte erneuert werden können.“
Doch niemand nutzte ihn.
4.1.0a.5 – Das Assoziierungsabkommen (2013)
Das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine
war formal wirtschaftlich, strukturell politisch
und real sicherheitspolitisch.
Es verlangte regulatorische Anpassungen,
institutionelle Bindungen
und eine Distanzierung von russischen Wirtschaftsstrukturen.
Die Ukraine stand vor der Wahl zwischen zwei Integrationsräumen
und zwei Zukunftsmodellen –
und hatte keine Kraft für diesen Konflikt.
Als Janukowytsch die Unterzeichnung im November 2013
unter russischem Druck verschob,
begann der Maidan.
.
Russland sah die EU-Politik als westliche Einflussnahme,
die USA sahen die Proteste als Chance,
Europa sah die Ukraine als Werteprojekt.
Victoria Nulands Satz – „Fuck the EU“ –
war kein Ausrutscher,
sondern ein Indikator für die Divergenz westlicher Strategien.
Europa war Umfeld, nicht Akteur.
4.1.0a.6 – Der Maidan, die Krim und der Donbass (2014)
Die Eskalation vom Maidan bis zur Krim vollzog sich
in weniger als zwei Monaten.
Es war kein linearer Prozess,
sondern eine politische Implosion mit regionalen Überlagerungen.
Maidan: Eine gesellschaftliche Revolte gegen Klientelismus und Korruption,
aber zugleich ein Machtvakuum,
das verschiedene Akteure unterschiedlich interpretierten.
Moskau sah einen Regimewechsel mit westlicher Unterstützung.
Brüssel sah einen demokratischen Aufbruch.
Wir sehen heute:
Beides war unvollständig – und beides war richtig.
Die Krim-Annexion war keine spontane Expansion,
sondern eine schnelle sicherheitspolitische Reaktion
auf ein instabiles, unüberschaubares Umfeld.
Kurz darauf entfalteten sich die Unruhen im Donbass:
zunächst sozial, dann politisch, schließlich militärisch.
Ein lokaler Konflikt wurde zum Stellvertreterkrieg.
Die OSZE – einziger Ort für Verhandlungen –
war politisch zu schwach, um zu wirken.
4.1.0a.7 – Die tektonische Linie
Die Ereignisse von 2014 zeigten,
dass Europa keinen funktionierenden Sicherheitsrahmen mehr besaß.
Für Russland war die Ukraine
• kulturell nah,
• historisch bedeutend,
• geostrategisch unverzichtbar.
Für den Westen war sie
• Prüfstein europäischer Werte,
• Symbol für Demokratisierung,
• Brücke oder Bollwerk – je nach Perspektive.
Zwischen beiden wurde die Ukraine zerrieben.
Russlands Handeln war eine Mischung aus Selbstbehauptung,
historischer Verankerung und strategischem Denken.
Der Westen reagierte mit Sanktionen,
ohne zuvor die eigenen Fehler, Versäumnisse und Illusionen zu prüfen.
Europa verlor damit genau das,
was es seit 1990 ausgezeichnet hatte:
eine politische Mitte,
die Ausgleich suchte statt Frontlinien.
4.1.0a.8 – Das leise Ende der Mitte
Mit 2014 endete die Illusion,
Europa könne sich ohne strategische Selbstprüfung erweitern.
Es endete auch die Vorstellung,
man könne Sicherheit ohne Russland gestalten
und zugleich Frieden mit Russland erwarten.
Die tektonische Verschiebung,
die 1999 begann und 2014 sichtbar wurde,
führte zu einem Europa,
das politisch gespalten,
strategisch unsicher
und institutionell erschöpft war.
Es war das Ende der alten Mitte –
und der Beginn der Krise,
die Europa bis heute prägt.