Samstag, 13. Dez. 2025 at 08:44
December 13, 2025•568 words
4.1.0e.6 Konsum, Kompensation und Sinnentleerung – die stille Erschöpfung der Gesellschaft
Der Verlust der politischen Mitte vollzieht sich nicht nur entlang ökonomischer Kennzahlen,
institutioneller Versäumnisse oder geopolitischer Konflikte. Er zeigt sich ebenso in einer
tiefgreifenden Erschöpfung gesellschaftlicher Sinnzusammenhänge – einer Entwicklung, die
lange als unpolitisch galt, inzwischen aber direkte politische Folgen hat.
Seit den 1990er Jahren wurde in Europa – und besonders in den wohlhabenderen Mitgliedstaaten –
ein stilles Versprechen etabliert:
Wohlstand, Konsum und individuelle Wahlfreiheit sollten gesellschaftliche Stabilität sichern,
auch dort, wo politische Gestaltungskraft nachließ. Wo gemeinsame Zukunftsbilder fehlten, trat
private Kompensation.
Konsum übernahm dabei eine doppelte Funktion:
- als ökonomischer Motor eines wachstumsbasierten Systems,
- und als psychosoziale Ersatzhandlung für politische Orientierung, soziale Sicherheit und kollektiven Sinn.
Diese Logik wurde selten offen formuliert, aber systematisch befördert.
Konsum als politisches Substitut
In dem Maße, in dem politische Gestaltung an Tiefe verlor, wuchs der Anspruch an den Markt,
Stabilität zu erzeugen. Wachstum, Verfügbarkeit und Preisvorteile galten als Beweis
funktionierender Ordnung. Die Frage nach dem Zweck trat hinter die Frage nach dem Zugang
zurück.
Diese Entwicklung hatte mehrere Folgen:
- Öffentliche Infrastruktur wurde vernachlässigt, während private Konsumoptionen ausgebaut wurden.
- Soziale Sicherheit wurde individualisiert („Vorsorge“, „Eigenverantwortung“).
- Politische Konflikte wurden nicht gelöst, sondern überspielt.
Der Markt sollte liefern, was Politik nicht mehr gestaltete.
Die innere Leere des Überflusses
Gleichzeitig wuchs eine paradoxe Erfahrung:
Trotz steigender Warenverfügbarkeit, wachsender Auswahl und permanenter Stimulation nahm das
Gefühl von Sinn, Zugehörigkeit und Zukunftsfähigkeit ab.
Viele Menschen erleben heute:
- einen permanenten Anpassungsdruck,
- eine Beschleunigung ohne Richtung,
- Konsum als Pflicht, nicht als Lust,
- und das Gefühl, trotz materieller Teilhabe politisch machtlos zu sein.
Konsum wird dabei nicht mehr als Ausdruck von Freiheit erlebt, sondern als notwendige
Selbstberuhigung in einem System, dessen Zweck unklar geworden ist.
Ressourcenverbrauch ohne Zukunftslogik
Diese Entwicklung ist nicht nur sozial, sondern auch ökologisch relevant. Der europäische
Lebensstil basiert weiterhin auf:
- hohem Ressourcenverbrauch,
- externalisierten Umweltkosten,
- globalen Lieferketten,
- und der stillschweigenden Annahme unbegrenzter Verfügbarkeit.
Damit entsteht ein fundamentaler Widerspruch:
Während die politischen Systeme den Klimawandel als existentielle Bedrohung benennen, bleibt
der alltägliche Lebensmodus weitgehend unangetastet. Die Verantwortung wird individualisiert,
strukturelle Steuerung vermieden.
Das Ergebnis ist nicht Transformation, sondern kognitive Dissonanz.
Erschöpfung als politischer Zustand
Diese Gemengelage erzeugt keine offene Revolte, sondern etwas Gefährlicheres:
Resignation, Zynismus und Rückzug.
Menschen verlieren nicht nur Vertrauen in Institutionen, sondern in die Sinnhaftigkeit politischer
Beteiligung selbst. Demokratie wird als Ritual erlebt, nicht als gestaltbarer Raum. Politik erscheint
als Management des Bestehenden, nicht als Öffnung von Möglichkeiten.
In diesem Zustand wird die politische Mitte nicht durch radikale Alternativen verdrängt, sondern
durch innere Entleerung.
Der Zusammenhang mit dem Verlust der Mitte
Der Verlust der politischen Mitte ist damit auch ein kulturell-ökonomischer Prozess:
- Wer keine positive Zukunftserzählung mehr erfährt,
- wer nur noch als Konsument adressiert wird,
- und wer Verantwortung ohne Wirksamkeit tragen soll, zieht sich zurück oder wendet sich einfachen Erklärungen zu.
Konsum ersetzt keine politische Orientierung.
Er überdeckt Konflikte, löst sie aber nicht.
Ausblick
Die stille Erschöpfung der Gesellschaft markiert einen Punkt, an dem politische Ordnung nicht
mehr allein durch ökonomische Stabilität aufrechterhalten werden kann. Ohne eine erneuerte
Vorstellung von Zweck, Maß und Verantwortung droht die politische Mitte weiter auszuhöhlen –
unabhängig von Wahlbeteiligung oder formaler Zustimmung.
Damit wird deutlich:
Der Verlust der Mitte ist nicht nur ein Ergebnis falscher Entscheidungen, sondern auch einer
unterlassenen Sinnklärung.