Gemeinsamkeiten zwischen Humanist:innen und Schnecken
November 23, 2025•3,573 words
Rückzug, brüllt die Weinbergschnecke und verzieht sich langsam in ihr Haus.
Triggerwarnung: Enthält Trigger
Gedanken zu Consent, Triggerwarnings, Mikroaggressionen und SafeR Spaces
In den liberalen Teilen der westlichen Gesellschaft erleben wir eine zunehmende Aufmerksamkeit [engl. awareness/wokeness (in der originalen Konnotation)] bezüglich der "Machtdynamik" zwischen Individuen. "Weiße mit Dreadslocks" von antirassistischen Demos zu verbannen oder Triggerwarnungen auf Bücher aufzudrucken, sind nur zwei Resultate dieser Aufmerksamkeit - sie sind der Versuch, "Mikroaggressionen" und "Mikro(re)traumatisierungen" zu vermeiden. Besonders auffallend ist das aber in der Sex-Positive-Szene: Expliziter Konsens zu jeder Zeit an jedem Ort im SafeR Space, in dem alle Trigger vermieden werden sollen. Consent - sexuell oder nicht - bewegt sich hier im Spekturm zwischen Maximalaufmerksamkeit und Mikroaggressionsvermeidung.
Wem das alles noch wenig sagt: Erklärungen folgen später... Es sei aber an dieser Stelle schon erwähnt: es geht hier nicht darum zu sagen "Hab dich mal nicht so". Menschen zu Handlungen zu nötigen ist meistens moralisch verwerflich (natürlich gilt das aber nicht für Arbeitgeber, Polizisten oder den Staat; für diese Institutionen werden selbst die hartgesottensten Humanist:innen gerne devot ;). Hier geht es um eine fundamentalere Kritik daran, dass der kapitalistisch geprägte Humanismus versucht, die Auswirkungen des Kapitalismus (soziale Ungleichheit, Rassismus, Sexismus, uvm.) mit komplett inadequaten Mitteln zu begrenzen. "Der Humanist" hat gebrochene Knochen, innere Blutungen und ein Schädel-Hirn-Trauma - gegengesteuert wird aber mit Pflastern und Bepanthen. Die Geschichte die wir uns erzählen besagt, dass, nur wenn wir nur genügend aufmerksam sind und alles vermeiden das problematisch sein könnte; nur dann können wir gesunde und gute Interaktionen haben. Aber stimmt das wirklich? Ist diese liberale Doktrin der Weisheit letzter Schluss oder nur der neuste Schuss in den Ofen?
Down the Rabbithole - ein paar Begriffserklärungen.
"Sex Positivity" ist eine Philosophie, die sexuelle Kontakte und Praktiken als ein Thema wie jedes andere behandelt. Man spricht also über Wünsche oder Erlebtes und diskutiert Praktiken. In "Sex Positive Spaces" (Parties, etc.) ist diese Sichtweise auf sexuelle Themen Konsens. Zusätzlich ist es in diesen Räumen oft möglich Sex außerhalb der eigenen vier Wände zu haben. Bei Parties gilt meist ein sehr kleidungs-vermeidender Dresscode und die Regel, dass alles ohne Zwang erlaubt ist, außer Sex direkt an der Bar - Oralverkehr auf der Tanzfläche wäre also erlaubt und okay.
Definition von Safe(R) Spaces von hausgemacht.org: Ein „safe space“ ist ein sozialer Raum, in dem sich betroffene Gruppen, welche sich marginalisiert und diskriminiert fühlen, frei bewegen können und nicht eben dieser Ausgrenzung ausgesetzt sind. Dabei handelt es sich um ein theoretisches Konstrukt, indem sämtliche Trigger ausgeschlossen werden und alle Beteiligten ihre Individualität, ohne die Einschränkung durch andere und ohne andere einzuschränken, ausleben können. Die Etablierung dieses Idealzustands ist leider aufgrund vieler komplexer Faktoren kaum umzusetzen, weshalb wir also bewusst den Namen „SafeR Space“ nutzen, um darauf hinzuweisen, dass an der Erfüllung des Idealzustands gearbeitet wird, dies jedoch nie garantiert, sondern nur möglichst nahe daran verwirklicht werden kann.
Ein "Trigger" kann alles mögliche sein - Objekte, Themen, Bilder, etc. Gemeinhin werden damit aber Dinge bezeichnet, die in einer Person (meist negativ behaftete) Gefühle oder (Mikro-)(Re-)Traumatisierungen auslösen.
"Spielen" SexPo-lingo: Sex haben/rumspielen/sich an sexuellen Handlungen beteiligen. Es handelt sich dabei nicht um eine Vermeidung des Wortes "Sex". Das Wort wird als Synonym verwendet, um die Normalität des Themas zu unterstreichen. Der Begriff klingt auch sofort freudlicher und weniger ernst, das soll der Mentalität Nachdruck verleihen.
Consent (deu. Konsens) bezeichnet in diesem Kontext (und gemeinhin in der Sex-Positive-Szene) die gegenseitige Zustimmung zu interpersonellen Handlungen jedweder Art. (Ja, ich finde das Wort "interpersonell" einfach toll - man kann auch zwischenmenschlich sagen )
"Cruising" ist eine, aus der Schwulenszene kommende Praxis, im öffentlichen Raum verfügbare Sexualpartner zu finden (und meist auch mit diesen sexuelle Handlungen durchzuführen). Diese "Crusing Spots" - die "Orte der Begegnung" - sind sehr unterschiedlich und eher in Großstadträumen verbreitet. Parks zu bestimmten Uhrzeiten, Wälder, Orte auf der Donauinsel. Die Anzahl an wirklich öffentlichen Orte nehmen meines Wissens nach (auch wegen stärkerer Frequentierung durch unbeteiligte und mehr Überwachung) ab. Es gibt solche "Cruising Spots" aber auch in dedizierten Etablissements. Gay Saunas oder Kinos seinen hier erwähnt. Ähnlich wie bei Sex Positive Spaces kann man sich hier frei bewegen und den eigenen Gelüsten nachgehen. Der wohl größte Unterschied zu Sex Positive Spaces ist hier das Consent Konzept, das nicht auf verbaler Kommunikation, sondern fast ausschließlich auf Körpersprache beruht.
Consent - Eine persönliche (sex positive) Erzählung in drei Teilen
Wer lieber noch kindisch ist und sexuelle Themen auf das eigene Bett (und die gelegentlich daran teilnehmende, zweite Person) verbannen will, möge hier weiterlesen.
Szene 1: Fragen über Fragen
New York, 2025. Eine private Sex Positive Party in einem großen Apartment.
Ich: zum ersten mal auf so einer Feier. Ich unterhalte mich mit den Leuten, spiele bei Wahrheit oder Pflicht mit, genieße die sehr ungezwungene Atmosphäre. Im Laufe des Abends verlagert sich das Geschehen in einen großen Raum mit riesigen Betten, BDSM Möbeln, adäquat dunkler Beleuchtung und gutem Techno. Hier drei Menschen, die auf einem der Betten Sex haben, dort zwei, die eine Performance für Voyeure bieten, in einem anderen Bett ist es kaum möglich zu sehen, welcher Fuß zu welchem Kopf gehört.
Ich selbst: ziemlich passiv; ich hätte ja schon Lust auf Sex - aber wie geht man das hier an? Was ist das "Protokoll"? But then again - who cares? Ich stehe also auf. Ein extrem gut aussehender Typ bleibt vor mir stehen, sieht mich von oben nach unten an: "Oh wow, how are you still dressed?". "Well, nobody took care of it yet...", kann meinen verspielten Blick kaum von ihm lösen. Er tritt an mich heran, hält mich mit beiden Armen, an den O-Ringen meines Pride-Kilts. Zieht mich heran - wir sind gleich groß - gibt seine Stirn an meine. Ich spühre den heißen Atem von jemandem, der gerade noch vor 10 Sekunden mit jemandem gespielt hat. Sein Kopf hebt sich leicht, nimmt meinen mit; Lippen berühren sich; wir küssen uns - aktiv, beide.
Ich: hin und weg; plötzlich hört er auf. "Oh I am soo sorry. I should have asked whether this was OK before.", blanke Angst in seinen Augen. Ich könnte verwirrter nicht sein. "No, it's OK, seriously." "No it is not. I should have asked. Sorry. Do you wanna be kissed?" 1
Szene 2: Trigger
Wien, 2022. Eine von "Hausgemacht" organisierte Sex Positive Party im Loft.
Ich: habe schon einige Feiern besucht. Hab mir natürlich im Vorhinein alle Infos und die Awareness Guidelines etc. durchgelesen. Ich stelle mich in der Schlange an. Schließlich komme ich zu einem jungen Organisationsmitglied von Hausgemacht - jemandem vom Awarenessteam. Sie stellen hier jeder und jedem einzelnen Fragen über die Guidelines, die Philosophie der Organisation und über Consent, etc. "Hi. Du warst schonmal bei uns?" "Ja." "Alles klar, dann muss ich eh nicht alles erklären." Ein paar kurze, offensichtliche Erklärungen, zwei Fragen, die ich richtig beantworte. "Gut, eine Frage noch: Wie verhältst du dich, damit sich alle wohlfühlen?" "Ich belästige niemanden, ich mache keinen Stress, wenn ich etwas problematisches beobachte, frage ich nach, ob alles OK ist oder melde es dem Awareness Team." "Ok, weiter?" "Ich ... starre niemanden an, wenn ich jemandes Aufmkerskamkeit möchte, spreche ich die Person an, ohne sie zu berühren." "Was ist wenn sich Leute in deiner Umgebung unwohl fühlen?" "Dann frage ich nach ob alles OK ist oder melde es dem Awareness Team. Ich bin hier um eine gute Zeit zu haben, das möchte ich ja für die Anderen auch." "Aber was ist, wenn sich jemand wegen dir unwohl fühlt?" "Ich verhalte mich so, dass das nicht passieren sollte, aber wenn, gehe ich halt weg."
Organisationsmitglied: "Die Situation an die ich denke ist die: ", sieht mich von oben bis unten an (Dreads, und BDSM-Look), "Was wenn sich jemand von dir getriggert fühlt?" "Wie meinst du das, ich tue ja mein möglichstes das zu vermeiden, ansonsten gehe ich halt wo anders hin, aber dazu kann ich ja nachfragen".
Nun etwas genervt, weil ich nicht weiß worauf er hinaus will: "Ich schätze dich als straight, cis Mann ein. Dein Look und dein Auftreten allein kann Leute triggern, die dann nicht darauf angesprochen werden wollen, weil sie das noch mehr triggert. In dem Fall gibst du uns also Bescheid, und wir werden dann auf Konsensbasis mit den Leuten und dir ausmachen, ob du gehen musst oder nicht." "... O..K..., also ich bin weder straight, noch cis, noch ein Mann, aber lassen wir das mal. Wenn mir alle sagen, ich solle gehen, weils' sich sonst unwohl fühlen, gehe ich natürlich. Aber man soll ja mit Leuten kommunizieren." "Achso, ja, tut mir leid. Anyway, ja, aber das machen dann wir. Ist das Okay für dich?" 2
Szene 3: Im Nebel
Wien, 2025, Das Dampfbad in der Römersauna - einer kleinen Gay-Sauna.
Seltsam, im Nebel zu sitzen!
Alleine sitzt jeder Hunk und Twink,
Kein Bär erkennt den anderen,
Jeder ist am schwitzen.
Voll von Freuden ist mir die Welt,
weil ich hier gerade alleine sein kann.
Doch nun, da sich ein süßer Typ dicht neben mich setzt,
Werde ich nervös - die Hände klamm.
Wahrlich, ich will nicht,
will einfach nur sitzen.
Doch zartes Streicheln, und ein Lächeln
bringen mich dann doch noch zum schwitzen.
Seltsam, im Nebel zu küssen!
Leben ist Spontanität.
Kenne hier keinen der Anderen,
doch Niemand spielt allein.
Wer eine Schwulen-Dampfbad-Cruising Gedichtsinterpretation von Hermann Hesses "Im Nebel" auf der Blog-Bingokarte, darf das jetzt streichen. Das einzige Gedicht, das ich seit Kindheitstagen auswendig kann, hat endlich einen Zweck erfüllt - keine Entschuldigung dafür ;)
Besser verständlich, aber weitaus weniger lyrisch: Ich sitze da und will eigentlich nur entspannen. Einer der wenigen hübschen Typen die sich an dem Abend in der Sauna tummeln setzt sich neben mich und wirft einen Blick zu mir. Ich habe keine Lust zu spielen, sitze da, mache die Augen zu, genieße nur die schwüle Hitze. Er setzt sich etwas näher. Ich will mich nicht aktiv umsetzen bleibe wo ich bin, schaue wieder die Wand an. Er streichelt mich mit einem Finger leicht an der Außenseite meines Oberschenkels. Ich könnte mich einen Zentimeter nach rechts setzen; damit wäre alles klar, will aber nicht. Leichte Wut keimt auf - normalerweise reicht das Wegschauen, um alleine gelassen zu werden. Nochmal dieselbe, eine kleine Berührung. Ich spühre, dass ich trotz allem Lust bekomme. Die Wut schlägt kurzerhand in ein "Playing hard to get" um. Noch zwei mal; seine Hand wandert in Richtung meines Hinterns. Ich bewege den Kopf noch so leicht und schaue kurz in seine Richtung; wieder eine Berührung. Genug "hard to get", ich schaue ihn an, er strahlt über das ganze Gesicht, kommt mit dem Kopf leicht näher. Ich beginne ihn zu küssen.
Den Dreiteiler kurz zusammengefasst
- Explizite, verbale Kommunikation im Vorhinein scheint wichtiger, als nonverbale Kommunikation lesen zu können.
- Meine bloße Existenz und Anwesenheit hat anscheinend das Potential Menschen in Schockzustände zu versetzen und das ist anscheinend auch meine Schuld.
- Die Grenze zwischen "Mikroaggression" und Consent sind überraschend vernebelt.
Warum sind diese Geschichten wichtig? Sie sollen zeigen, wie ich Consent in der Sex Positive (erste zwei) und der homosexuellen (Cruising)-Szene wahrnehme; wie das Konzept fernab von Regelbüchern gelebt wird. In der zweiten Situation, habe ich mich nach der Konversation derartig Fehl am Platz gefühlt, dass der Abend nicht so (ent)spannend war wie erhofft. Ich bin einfach bei der Techno Stage geblieben und wollte auch mit niemandem sprechen, geschweige denn spielen. Im Gegensatz zu dem Menschen am Eingang, war ich mir aber bewusst, dass diese Angst und Unentspanntheit aus mir selbst kommt. Die Worte des Awarenessteammitglieds waren der Auslöser, aber die Reaktion darauf war meine eigene - damit konnte ich aber auch gut leben.
Humanismus hinterfragt - Wer hat woran Schuld?
Der real gelebte Humanismus bezieht sich in zahllosen Fragen immer stark auf das eigene Ego/die eigene Person. Wenn aber die Schuldfrage gestellt wird, liegt die Schuld (sehr unchristlicherweise) nicht dort. Andere Menschen, Worte, das Wetter oder genereller: äußere Umstände sind die Schuldquelle. Man ist gekränkt, weil jemand etwas Gemeines gesagt hat. Man ist glücklich, weil heute Alles geklappt hat. Man leidet, weil man von jemandem hintergangen wurde. Und all das lassen wir die Menschen um uns herum unmissverständlich spühren.
Das ist ein klassischer Fall von Täter-Opfer Umkehr. Wie ich letztens geschrieben habe:
Bei Vipassana [einer Meditationsart] geht es darum alle Empfindungen des Körpers, selbst die kleinsten (wie das Gefühl des feinsten Windhauches), zu beobachten, und diese zu akzeptieren, ohne sie zu bewerten oder ihnen nachzugehen. Dabei kommt es unweigerlich dazu, dass sich der leichte Juckreiz zum schlimmsten Kratzen entwickelt, oder die beiläufigste Bemerkung des Arbeitskollegen von gestern den größten Hass auslöst. Im Vipassana lernt man, zu akzeptieren, dass auf Empfindungen Emotionen folgen, und lernt, die Reaktion auf diese Emotionen zu kontrollieren, indem man sie erkennt.
Wer Vipassana (oder andere Einsichtsphilosophie/-meditation) praktiziert wird erkennen, dass "man wird von jemandem hintergangen (A) -> man leidet (B)" zwar einer temporalen Logik, nicht aber einer kausalen folgt. Zwischen A und B liegen zahlreiche Schritte, an denen der Prozess unterbrochen und damit das Resultat verändert werden kann.
Meine bloße Anwesenheit ist ein auslösendes Ereignis - ein Trigger - aber was daraus entsteht, liegt nicht in meiner Hand. Das gilt selbst für Schmerz. Schmerz selbst ist kein körperliches Empfinden, es ist die psychische Reaktion auf ein, als gefährlich oder problematisch eingestuftes Empfindungsmuster.
Vermeidung
Die kapitalistisch humanistische Lösung zu diesem Problem, ist aber leider nicht Meditation und Stärkung der geistigen Fähigkeiten; hier ist die Lösung das Kennzeichnen, Vermeiden und Entfernen aller möglichen Trigger. Unangenehme Empfindungen werden als negativ und schlecht für die psychische Entwicklung angesehen. Jetzt zieren Triggerwarnungen Bücher, unangenehme Momente, die nicht weiter erforscht werden gelten als (Mikro-)Aggressionen und jegliche Unsicherheit muss über explizite verbale Kommunikation ausgeräumt werden.
Der kapitalistisch geprägte Humanismus fördert mit seinem ego-zentrischen Weltbild den Fokus und den Rückzug in das eigene Selbst. Diese Individualisierung ist weit verbreitet. Wir verspühren einen Drang dazu, immer irgendwo besonders oder ein Spezialfall sein. Selbst kleine Probleme werden zu existentiellen Krisen, weil uns die Fähigkeit abhandenkommt alle diese individualisierten Probleme mit denen von Anderen zu vergleichen. Auch unsere eigene Identität - wer genau wir sind - wird mit dem Ego-Fokus immer wichtiger. Alles außerhalb des Egos verkommt zu etwas das nur in Relation dazu eine Existenzberechtigung hat.
Vermeidung von Stresssituationen ist aber keine Persönlichkeitsbildungsstrategie. Natürlich ist es wichtig, sich in einem sicheren Raum ausprobieren zu können. Wenn wir beim Fahrradfahren die ersten Male gehalten werden, hilft das beim Erlernen der Fähigkeit. Früher oder später wird man aber hinfallen und etwas über den Vorgang gelernt haben. Dasselbe trifft auf soziale Situationen zu: Irgendwann wird jede:r in unangenehme, stressige oder verletzende Situationen kommen. Wichtiger, als deren Vermeidung ist daher Unterstützung dabei, diese verarbeiten und einzuordnen zu können.
Mit Kontrolle bzw. Ohnmacht verhält es sich analog, auch wenn der Kern der Abneigung ein anderer ist. Wie letztens in meinem Eintrag über Death Metal beschrieben, haben Humanist:innen Angst vor den eigenen innersten Bewegungen. Es wird daher zu einem Bedürfnis, Situationen kontrollieren zu können. Diese dürfen dabei sogar teilweise unangenehm sein - das muss aber bekannt und kontrollierbar sein. Vollkommener Kontrollverlust ist für hartgesottene Humanist:innen ein Horror, weil diese zu komplett unvorhergesehenen, verborgenen oder gar bewusst versteckten Reaktionen des eigenen Egos/der eigenen Psyche führen können.
Mikrotraumata
Wer den Blog verfolgt wird vielleicht schadenfreudig darauf hinweisen, dass mir Mikrotraumata und Mikroaggressionen ja bestens bekannt sein müssten. Die Texte in denen kleinste "Trigger" zu extrem unangenehmen Geisteszuständen führen; Texte in denen ein ego-zentrischer Fokus auf Identiät gelegt wird, ...
Zuerst: toll, wenn jemand wirklich soviele meiner Texte liest .
Von außen interpretiert mögen das Mikro- was auch immer sein. Für mich sind es einfach Bausteine meines täglichen Lebens. Es gibt unterschiedlichste Emotionen und alle haben ihren Platz. Aus jeder dieser Situationen habe ich etwas darüber mitgenommen, wie mein Kopf funktioniert; habe eine Einsicht gewonnen, wie ich auf bestimmte Dinge re-agiere und wo ich die Re-Aktion stoppen und durch Aktion ersetzen kann. Natürlich fühle immer noch oft einen Stich, wenn jemand "er/ihm" verwendet um auf mich zu verweisen, aber da hilft kein Rückzug und kein Vermeiden - das wird wieder passieren. Es hilft nur die Flucht nach vorne und im weitesten Sinne Aktivismus - ein Aktiv werden, in dem Moment oder zumindest nachgelagert. Das wandelt die Erfahrungen in Energie um, die man für Veränderungen an sich selbst, oder für gesellschaftliche Veränderung verwenden kann. Passiver Rückzug oder Verstecken dagegen frisst Energie auf, weil sich der Kopf dann ständig mit diesen Situationen weiterbeschäftigt und sie verstärkt.
Post-humanistischer Consent?
Wie könnte also ein moderneres Konzept von "Consent, Triggerwarnings, Mikroaggressionen und SafeR Spaces" aussehen?
Der Humanismus fördert mit zeinem ego-zentrischen Weltbild den Fokus und den Rückzug in das eigene Selbst.
Matt Hayler liefert in seinem Vortrag "Posthumanism for the Wounded, the Unknowing, and the Dependent" eine Lösung zu dieser Frage. Im Posthumanismus, so argumentiert er, existiert "der Mensch" nicht mehr "pro se"/an und für sich selbst. Jeder Mensch existiert nur mit und durch die eigene Umwelt. Wir stehen durchgehend in Abhängigkeitsbeziehungen zu "externen" Akteuren und Dingen - Menschen, Infrastruktur, Technik, Natur, etc. Im Posthumanismus wissen wir auch, dass wir weder über diese "externe" Welt, noch über uns vollkommene Information (und Kontrolle) besitzen können, und wir akzeptieren, dass Verletzungen aller Art Teil der Welt, des Ökosystems und unseres Lebens sind.
Das bedeutet, dass wir nicht stark sein und nicht dem Druck, ständig glücklich sein zu müssen, ausgesetzt sind; die Freiheit haben, abhängig, verletzt, wütend, traurig oder unglücklich zu sein - wohl wissend, dass alles nur temporär ist und sich ändern lässt; wohl wissend, dass wir damit nicht allein sind, und dass wir nur gemeinsam in Kooperation eine gute, soziale Gesellschaft zum funktionieren bringen können. Das mag beim ersten Lesen furchtbar klingen - es braucht Zeit das zu akzeptieren. Einfach mal darüber nachdenken und wirken lassen.
Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, keine Angst vor Schmerzen und unangenehmen Situationen haben zu müssen, weil wir uns selbst als Menschen akzeptieren können. Wir müssen uns weniger davor fürchten, unsere Gefühle einzugestehen und zu sagen "das passt mir nicht"/"ich will oder kann das so nicht". Die andere Seite muss sich automatisch weniger fürchten, etwas falsch zu machen. Sie akzeptiert Grenzen und fragt bei unverständlichen Signalen nach, wird aktiv korrigiert aus dem Wissen heraus, dass Kommunikation immer missverständlich sein kann.
Bezüglich Sexualkontakten sollten wir uns nämlich nicht vormachen, dass explizitere/vorsichtigere Consent Regeln wirklich Übergriffe verhindern. Beim Freezing beispielsweise ist Kommunikation nicht möglich - obwohl eine Schockstarre ein ziemlich klares körperliches Zeichen ist dass etwas nicht stimmt. Wenn es dann in dieser Situation zu einem Übergriff kommt, sind wir schon beim Ausnutzen einer ungleichen Machtsituation, in der Consent für eine Partei ganz klar keine Relevanz hat - und damit im Strafrecht. Dasselbe gilt für Fälle, in denen sich das Opfer wegen der Machtdynamik gezwungen fühlt "ja" zu sagen.
Hier helfen nur Sozialarbeit, (Selbst-)Bewusstseinsbildung und der Abbau dieser toxischen Machtstrukturen - im großen Stil, für Alle. Grundsätzlich ist das "Nur ein Ja ist ein Ja" ein gutes Signal - noch besser sogar wenn es sich in mehr Glaubhaftigkeit gegenüber Opfern äußert. Aber es ist und bleibt ein Signal.
Wenn wir anstatt Bildung und Sozialarbeit krampfhaft versuchen, jeglicher unangenehmen Situation aus dem Weg zu gehen - jegliche Trigger, Schmerzen, "negative" Emotionen, etc. zu vermeiden - kapseln wir uns nur maximal von unserer Umwelt und unseren Mitmenschen ab. Die Kommunikation zwischen Menschen beruht auf gesprochener und aus Körpersprache - mit einem starken Fokus auf letzterem. Vorallem digitale Medien nehmen nehmen uns diese wichtige Dimension in immer mehr Alltagssituationen weg. Wir entfremden uns von unseren Sozialkontakten, haben Angst vor dem Umgang mit anderen Menschen, sind (zumindest in Österreich) abgeneigt, mit "Fremden" zu sprechen. Im kapitalistisch geprägten Humanismus ist es zwar ein logischer Schritt, Consentkonzepte in diese Richtung auszubauen - es ist aber auch ein dummer Schritt. Um der Entfremdung entgegenzuwirken brauchen wir wieder natürlichere Sozialkontakte. Und die beinhalten neben gesprochener Sprache auch Emotionen und Körpersprache, nicht noch mehr Distanz und Protokoll.
Wer lernen will, wie solche Konzepte funktionieren (können) ist herzlich eingeladen, Cruising-Spaces aufzusuchen. Auch BDSM-Praktiken - hier insbesondere sadistische, masochistische und Dominanz-Praktiken - sind ein guter Weg das zu erleben. Schmerzen sind dabei nicht unbedingt notwendig: Zu erleben wie man sich in (gespielter) Hilflosigkeit fühlt, ermöglicht Gefühle, Gedankenstrudel und Empfindungen in einem kontrollierten Setting wahrzunehmen und zu reflektieren. (Ich kann aber nicht genug betonen wie toll Schmerzen und Kälte sein können wenn man sich darauf einlässt ;)
Ein befreundeter Stoiker hat das kürzlich sehr treffend zusammengefasst: Thy task is action, not control. Anstatt sich in etwas hineinzusteigern, können wir aktiv kommunizieren oder eine Aktion setzen. Wir müssen uns sozial näher kommen, wieder lernen uns in Andere hineinzuversetzen und zulassen, von Empfindungen überrascht und von Gefühlen überrant zu werden - egal von welchen. Humanist:innen ziehen sich zu gerne ins Schneckenhaus zurück und bewundern die mathematische Eleganz der Windungen. Von einer Posthumanistischen Sicht aus sollten wir uns darüber freuen, überhaupt Dinge und Situationen erleben zu können und diese erforschen, statt immer dieselben Windungen zu studieren.
Lassen wir Schnecken Schnecken sein. An Humanist:innen überall: Verlasst euer Haus und werdet Psychonaut:innen!
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Um den Cliffhanger aufzulösen - es gibt hier keine Spoiler tags: Ja, wir haben uns danach noch trefflich vergnügt, nach und nach waren wir dann zu fünft. ↩
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Die Debatte darum, dass Konsens in Sex-Positive- und identitätspolitischen Kreisen inzwischen ein rhetorisches Allzweckheilmittel ist erspare ich mir hier fürs Erste. Es gibt noch genug Möglichkeiten Kritik an Liberalen zu üben - sie machen es einem ja nicht gerade schwer. ↩