Sonntag, 12. Okt. 2025 at 09:15

⚔️ 4.2 Konflikte, Sicherheit & digitale Macht

4.2.0.2 Europa zwischen Erinnerung und Verantwortung

2021 neu denken: Framing, Machtverschiebung, Verantwortung

1) Einführung – Gegenwart, nicht Rückschau

2025 steht Europa an einem Scheideweg: Nicht weil Vergangenheit vergessen wäre, sondern weil die Deutungen der Vergangenheit über die Handlungsmöglichkeiten der Gegenwart entscheiden. Der Streit um Merkels Rückblick auf den Juni-2021-EU-Gipfel ist mehr als eine Erinnerung – er ist ein Symbol, welcher Narrativ künftig die europäische Russlandpolitik bestimmen wird: Der der vorsichtigen Isolation oder der der strategischen Verantwortung.

2) Kontext: Wichtige Entwicklungen vor 2021 (kompakt)

  • 2013:Janukowitsch lehnt das EU-Assoziierungsabkommen ab und schließt stattdessen ein 15-Milliarden-Dollar-Kreditabkommen mit Russland. Dieses Abkommen enthielt u. a. Pläne für militärische und technische Kooperationen mit EU-Institutionen – ein Wendepunkt für die ukrainische Innenpolitik und im Verhältnis des Westens zu Moskau.

  • 2014: Maidan, Annexion der Krim, Entfaltung des Konflikts in der Ostukraine.

  • 2015–2019: Verhandlungen über und Missachtung der Minsker Vereinbarungen; fortwährende Waffenstillstandsverletzungen.

  • 2020–2021: Eskalierende Spannungen, blockierte diplomatische Prozesse und fast eingefrorene Gesprächskanäle.

Diese Abfolge markiert den Rahmen, in dem 2021 Entscheidungen fielen, deren Interpretation bis heute wirkt.

3) Kernfall Juni 2021 – was geschah?

  • Auf dem EU-Gipfel Ende Juni 2021 warben Deutschland und Frankreich (Merkel + Macron) für ein neues Dialogformat / Gipfeltreffen mit Putin.

  • Polen (Mateusz Morawiecki), Estland (Kaja Kallas), Lettland und Litauen lehnten das ab. Ihre Begründung: Russland müsse erst die Minsker Vereinbarungen erfüllen und die Krim-Annektion korrigieren; ein unbedingter Dialog ohne Vorbedingungen sendet falsche Signale.

  • Zeitgenössische Medienberichte belegen diese Positionen:

Reuters (25.06.2021): „France and Germany drop Russia summit plan after EU’s eastern members said Moscow must first stop its aggressive policies.“

ERR, Kaja Kallas: „Before any summit with Putin, there must be a change in Russia’s behaviour; we cannot reward aggression.“

LRT Litauen: „A meeting without preconditions would be perceived as weakness.“

Diese Stimmen zeigen: Die Ablehnung war nicht banal, sondern durchdacht – und sie spiegelte ein tiefes Sicherheitsverständnis.

4) Merkels Rückblick, Reaktionen und Deutungskonflikt

a) Merkels Darstellung

In einem Interview (Oktober 2025) erinnert Merkel daran, dass ihr Vorschlag von 2021 „am Widerstand“ osteuropäischer Staaten scheiterte. Sie spricht von einem politischen Ablauf, nicht von Schuldzuweisungen.

b) Reaktionen & Gegenpositionen

Politiker wie Kaja Kallas und Mateusz Morawiecki reagierten mit Empörung. Sie kritisieren, ihre Haltung werde rückblickend verzerrt dargestellt – als ob sie den Dialog per se verhindert hätten. Ihre Einwände zielen auf zwei Dimensionen: auf den Zeitpunkt (war 2021 unrealistisch) und auf die Interpretation (als stille Schuldzuweisung).

c) Wahrnehmung und Fehlinterpretation

Merkels nüchterne Schilderung war kein Angriff – doch in der öffentlichen Wahrnehmung wurde sie als solcher gelesen.
Warum? Weil in Osteuropa die Grenze zwischen Sicherheit und Risiko sehr eng gezogen wird. Dialog wird oft als Schwäche interpretiert.
So diente die Empörung nicht nur der Verteidigung eines politischen Status quo, sondern auch der Abwehr eines unangenehmen Eingeständnisses: Man verwechselt Rückblick mit Urteil, Erinnerung mit Anklage.

5) Machtverschiebung & Deutungshoheit

Ironischerweise gewann Osteuropa durch 2022 und danach an Deutungsgewicht: Sicherheitsrhetorik, Militärausgaben und moralische Legitimation stiegen in Bedeutung.
Hinzu kamen Dynamiken wie Nord Stream II: Hier kollidierten Wirtschaftsinteressen mit Sicherheitsbedenken – ein Katalysator für den Einfluss osteuropäischer Perspektiven in Europa.
Die Ukraine selbst entwickelte sich von einem „Problemfeld“ zu einem Akteur, der mit Diplomatie, moralischem Anspruch und staatlichem Handeln eine neue Rolle in der europäischen Außenpolitik beanspruchte.

6) Verantwortung im Dreiklang

Individuelle Verantwortung: politische Akteure müssen ihre Entscheidungen reflektieren lassen – auch rückblickend.

Staatlich-politische Verantwortung: In der EU müssen divergierende Sicherheitslogiken balanciert und in abstimmbare Prozesse integriert werden.

Strukturelle Verantwortung: Die EU braucht institutionelle Mechanismen, die Lernprozesse ermöglichen, Narrative reflektieren und eine faire Deutungshoheit sichern.

7) Ein europäisches Framing: Merkmale und Strategie

Ein zukunftsfähiges europäisches Framing müsste enthalten:

Ein Narrativ geteilter Verwundbarkeit, das Legitimität für divergente Erfahrungen anerkennt.

Dialog mit Bedingungen, nicht diskursfreie Offenheit.

Transparenz & Rechenschaft, damit Debatten nachvollzogen und korrigiert werden können.

Diversifizierung strategischer Optionen (Energie, Verteidigung, Netzwerke).

Eine institutionalisierte Reflexionsstruktur, um Narrative zu hinterfragen und Deutungshoheit nicht monopolisiert zu lassen.

8) Empfehlungen zur Umsetzung

  • Ein permanent aktualisiertes europäisches Dossier mit Ereignissen, Zitaten und Narrativen.

  • Ein EU-Reflexionsgremium, das osteuropäische, ukrainische und westeuropäische Perspektiven systematisch zusammenführt.

  • Kommunikationsprüfungen („Narrativ-Audit“) für außenpolitische Reden und Initiativen.

  • Bürger- und Bildungsformate, die Verantwortung, Erinnerung und Differenz öffentlich diskutieren.

Quellenhinweise

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