Mittwoch, 29. Okt. 2025 at 14:06
October 29, 2025•364 words
4.2 Gerechtigkeit & sozialer Zusammenhalt – Der Auftrag des Ausgleichs
4.2.0 Einleitung – Die Mitte des Rechts
Der Verlust der politischen Mitte ist mehr als ein kulturelles Phänomen.
Er markiert den Punkt, an dem sich Politik zunehmend von den Grundlagen entfernt hat, die sie tragen:
von der Verfassung, vom Recht, von den gemeinsam vereinbarten Normen, die staatliches Handeln binden und begrenzen.
Die Mitte einer Demokratie ruht nicht auf Meinungen, sondern auf Rechtsprinzipien.
Gerechtigkeit ist kein Stimmungswert, sondern eine verbindliche Verpflichtung, die aus Grundgesetz und europäischen Verträgen erwächst.
Sie verlangt Ausgleich – nicht, weil er opportun erscheint, sondern weil er verfassungsrechtlich geboten ist.
In den vergangenen Jahren aber hat sich das Verhältnis von Recht, Politik und Meinung verschoben.
Wo einst die Rechtsbindung den politischen Spielraum definierte, bestimmen heute Stimmungen und Interessen den Umgang mit Grundrechten, sozialer Sicherheit, Eigentum, Migration oder öffentlicher Daseinsvorsorge.
Das Recht verliert seine Geltungskraft nicht durch Aufhebung, sondern durch Auslegung nach Zweck.
Damit beginnt der Erosionsprozess, der das Vertrauen in den Rechtsstaat schwächt.
Soziale Gerechtigkeit – verstanden als Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung – ist kein Ideal, sondern eine Aufgabe, die in der Verfassung verankert ist.
Artikel 1 bis 20 des Grundgesetzes formulieren nicht nur Rechte, sondern Pflichten:
Schutz der Menschenwürde,
Gleichheit vor dem Gesetz,
Recht auf Eigentum und seine Sozialbindung,
Sicherung von Arbeit, Bildung und sozialer Teilhabe,
Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land.
Diese Ordnung gilt national wie europäisch.
Die EU-Verträge verpflichten zur wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Kohäsion.
Doch die Realität weicht davon zunehmend ab:
Haushaltspolitik ersetzt soziale Gerechtigkeit, Wettbewerbsrecht verdrängt Solidarität.
So entsteht der Eindruck, Politik könne den Ausgleich nicht mehr leisten – obwohl sie rechtlich dazu verpflichtet ist.
Dort, wo Politik diesen Ausgleich nicht mehr glaubwürdig vermittelt, entsteht ein gefährliches Vakuum.
In dieses Vakuum treten dann Meinung, Stimmung, Empörung – oder die kalte Logik der Märkte.
Es ist das Vakuum, das den inneren Zusammenhalt Europas ebenso gefährdet wie das Vertrauen der Bürger in ihre Institutionen.
Die Aufgabe besteht also nicht darin, den Ausgleich neu zu erfinden,
sondern das Recht wieder zur Grundlage politischen Handelns zu machen.
Nicht die Meinung, sondern die Norm entscheidet über den Bestand der Mitte.