Dienstag, 28. Okt. 2025 at 17:38

4.1.a Merkel und das osteuropäische Europa – Über Macht, Empörung und Verantwortung

Angela Merkels Auftritt in Ungarn 2025 traf auf eine veränderte Europäische Union – ein Europa, das in seiner Osthälfte an Gewicht gewonnen hat und in seiner Westhälfte an Orientierung verlor.
Es war nicht nur eine Rückkehr auf die politische Bühne, sondern auch eine Rückkehr in den Raum, in dem die Machtachsen Europas neu vermessen wurden.

Die osteuropäischen Staaten – Polen, die baltischen Länder, Tschechien, Ungarn – hatten sich in den Jahren nach 2014 von der Peripherie zur treibenden Kraft europäischer Sicherheitspolitik entwickelt.
Ihr Blick war historisch geprägt, ihr Misstrauen gegenüber Russland tief verankert.
Als Merkel 2014 und 2015 im Minsker Format versuchte, einen diplomatischen Ausgleich zwischen Kiew und Moskau zu erreichen, galt ihr Pragmatismus dort als Schwäche, ihr Zögern als Verrat.
Doch ihr Ziel war kein Stillstand – es war die Wahrung von Handlungsspielräumen.
Minsk war, wie sie später sagte, ein Versuch, Zeit zu gewinnen – Zeit, um Gesprächsfähigkeit zu sichern und Eskalation zu vermeiden.

Nach ihrem Ausscheiden übernahmen andere die Deutungshoheit.
Osteuropäische Regierungen und Teile der EU-Kommission trieben eine Politik voran, die sich zunehmend an sicherheitspolitischen Leitplanken orientierte, während die USA ihre transatlantischen Bindungen über NATO-Logik und Energiepolitik festigten.
Die Union, die Merkel noch als Raum des Ausgleichs verstand, wurde zu einem System wechselseitiger Absicherungen – ein Europa, das Russland nicht mehr einbinden, sondern abwehren wollte.

In diesem Kontext war Merkels Rede in Ungarn mehr als eine persönliche Reflexion.
Sie war Erinnerung an eine andere Idee von Europa:
an die Fähigkeit zur Vermittlung, an die Notwendigkeit, geopolitische Interessen als Ganzes zu denken.
Doch die Reaktionen fielen heftig aus.
Ehemalige Weggefährt:innen reagierten mit offener Empörung, nannten ihre Worte „zynisch“, „geschichtsvergessen“ oder „politisch gefährlich“.
Sie übersahen dabei, dass Merkel nicht Revision, sondern Reflexion betrieb – dass sie die damaligen Entscheidungen im Lichte ihrer Grenzen beschrieb, nicht im Nachhinein rechtfertigte.

Ihre Mahnung traf auf eine Atmosphäre, in der Differenzierung verdächtig geworden war.
Wo einst Diplomatie das Werkzeug des Friedens war, gilt sie heute vielen als Schwäche.
Die neuen Machtzentren im Osten Europas bestimmen das sicherheitspolitische Narrativ, während die westeuropäischen Demokratien in Selbstzweifel und moralische Polarisierung verfallen.

Merkel erinnerte an etwas, das im Lärm der Gegenwart kaum noch zu hören ist:
Dass Politik, will sie handlungsfähig bleiben, den Ausgleich zwischen Legitimität und Loyalität neu bestimmen muss.
Und dass Verantwortung nicht nur bedeutet, Haltung zu zeigen, sondern Spannungen auszuhalten – auch gegenüber Partnern, die andere Erfahrungen, Ängste und Interessen haben.

Welche Absprachen tatsächlich zwischen den USA, den osteuropäischen Staaten und der Ukraine über sicherheitspolitische Strategien getroffen wurden, ist bis heute unklar.
Dass diese Konstellationen zur zunehmenden Konfrontation beitrugen, ist dagegen kaum zu bestreiten.
Helmut Schmidt hatte schon in den 2000er Jahren vor der Gefahr gewarnt, dass eine unreflektierte NATO-Osterweiterung die Balance in Europa zerstören könne.
Merkel versuchte, diese Balance zu wahren – und verlor am Ende die Mehrheit, die sie dafür gebraucht hätte.

Vielleicht war ihre Rede in Ungarn nicht nur Rückblick, sondern Vermächtnis:
der Versuch, noch einmal an die Möglichkeit einer Politik zu erinnern, die nicht in Machtblöcken, sondern in Verantwortung denkt.
Ein Gedanke, der in der Gegenwart unbequem wirkt – und gerade deshalb unverzichtbar bleibt.

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