Dienstag, 25. Nov. 2025 at 09:17

4.1.0c.2 - Die politische Fehlsteuerung (1990–2015)

Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubte Europa, Migration sei ein Randthema – eine Mischung
aus humanitärem Engagement, ökonomischem Bedarf und internationaler Verpflichtung. Doch
während sich die geopolitische Lage veränderte, blieb die Migrationspolitik erstaunlich statisch.
Daraus entstand eine politische Fehlsteuerung, die zwischen 1990 und 2015 schrittweise eskalierte.


1. Deutschland: Das jahrzehntelange „Wir sind kein Einwanderungsland“

In Deutschland bestimmte über Jahrzehnte eine Grundformel die Realität der Politik:
Migration ist ein Ausnahmefall, kein Strukturphänomen.

Konsequenzen:
• Einbürgerungsrecht veraltet bis 2000.
• Integration als freiwillige Handlung, nicht als staatlicher Auftrag.
• Ausländerbehörden mit ordnungspolizeilichem Selbstverständnis statt Servicecharakter.
• Keine nachhaltigen Konzepte für dauerhaft bleibende Menschen.
• Soziale Infrastruktur (Bildung, Wohnen, Verwaltung) nicht an reale Migration angepasst.

Das Ergebnis war ein paradoxer Zustand:
Deutschland lebte faktisch als Einwanderungsland,
regierte aber politisch wie ein Auswanderungsland.

Diese Diskrepanz trug erheblich zur späteren Polarisierung bei.


2. Frankreich, Großbritannien, Niederlande: Die unterschätzte Last des Kolonialerbes

Westeuropäische Staaten erlebten seit Jahrzehnten Migration aus ihren ehemaligen Kolonien –
eine strukturelle, stetige und kaum steuerbare Bewegung.

Politische Fehlannahmen:
• Integration funktioniere automatisch aufgrund gemeinsamer Geschichte.
• Republikanische Gleichheitsmodelle (Frankreich) seien ausreichend.
• Multikulturalismus (UK, NL) löse Konflikte von selbst.
• Segregation werde sich „natürlich verwachsen“.

Das Gegenteil trat ein:
• Parallelgesellschaften entstanden.
• Ökonomische Ungleichheit verhärtete sich.
• Kulturelle Konflikte wurden sichtbar.
• Politische Radikalisierung setzte ein (ab 2000 in NL, ab 2005 in FR).

Diese Entwicklungen wirkten weit in die europäische Debatte hinein –
doch sie wurden nie europäisch aufgearbeitet.


3. Südeuropa: Frontstaaten ohne Unterstützung

Spanien, Italien und Griechenland wurden ab den 1990ern zu Einfallstoren irregulärer Migration,
waren aber politisch und finanziell weitgehend allein gelassen.

Problematische Folgen:
• Frontex war kaum mehr als eine symbolische Agentur.
• Asylsysteme überlastet und uneinheitlich.
• Lokale Verwaltungen kollabierten phasenweise (Lampedusa, Lesbos).
• Die EU setzte auf Abschreckung statt Strukturpolitik.

Weder im Norden noch im Osten Europas gab es Bereitschaft, Verantwortung zu teilen.
Die Folgen explodierten 2015 – vorher waren sie ignoriert worden.


4. Mittel- und Osteuropa: Migration als Bedrohungsbegriff

In Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei entwickelte sich ein völlig anderes Migrationsverständnis:
• geringe Vor-Migration,
• starke ethnische Homogenität,
• traumatische Erfahrungen (Osmane, Sowjetunion),
• kultureller Schutzinstinkt.

Migration wurde schneller als Identitätsfrage, nicht als Sozial- oder Arbeitsmarktfrage diskutiert.

Diese Haltung kollidierte später frontal mit westeuropäischen Sichtweisen —
ein Konflikt, der bis heute ungelöst ist.


5. Die EU: Ein Raum ohne gemeinsame Definition

Das zentrale Problem der gesamten Periode:
Europa hatte keine gemeinsame Sprache für Migration –
und deshalb auch keine gemeinsame Politik.

Widersprüche:
• Wirtschaft: Migration notwendig
• Politik: Migration vermeiden
• Recht: Migration schützen
• Verwaltung: Migration kontrollieren
• Moral: Migration begrüßen
• Gesellschaft: Migration befürchten oder ablehnen

Diese Widersprüchlichkeit wurde nicht moderiert, sondern verwaltet –
und damit verstetigt.

Das Ergebnis war eine fragile, instabile politische Mitte:
zu schwach für konsequente Regulierung,
zu gespalten für gemeinsame Lösungen,
zu moralisch überladen für strategische Entscheidungen.


6. Die Vorboten der Krise (2011–2015)

Bereits vor 2015 gab es Warnsignale:
• Syrienkrieg (ab 2011) → erste Fluchtbewegungen
• Zerfall Libyens (2011) → Mittelmeer-Route
• Erstarken rechter Parteien in NL, FR, AT
• Spannungen zwischen Nord- und Südeuropa
• Scheitern der EU-Umverteilungssysteme
• wachsende administrative Überforderung

Doch politisch geschah fast nichts.

2015 war keine Überraschung –
sondern die Folge jahrzehntelanger Nicht-Politik.


7. Fazit: Europa steuerte Migration nicht – Europa steuerte um Migration herum.

Und genau deshalb wurde Migration zum Druckpunkt,
an dem die politische Mitte in Europa zu erodieren begann.

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