Dienstag, 25. Nov. 2025 at 09:12

4.1.0c Migration und Maß – Die verlorene Balance


4.1.0c.1 Ausgangspunkt: Was Europa unter „Migration“ versteht

Europa spricht seit Jahrzehnten über „Migration“, aber der Begriff selbst ist irreführend. Er bündelt
Phänomene, die historisch, politisch und sozial völlig unterschiedlich sind – und erzeugt gerade
dadurch eine dauerhafte Unschärfe.
Erst wenn diese Ebenen getrennt sichtbar werden, wird verständlich, warum Migration die
politische Mitte Europas derart aus der Balance gebracht hat.


1. Arbeitsmigration (1950er–1980er)

Die älteste Form europäischer Migration ist die Industrialisierungs- und Wiederaufbaumigration.
Deutschland: „Gastarbeiter“ aus Italien, Spanien, Griechenland, Türkei und Jugoslawien
Benelux-Staaten: umfangreiche Anwerbeprogramme
Frankreich: Arbeitsmigration aus Nordafrika (oft formal getrennt von kolonialer Migration)
Sie wurde politisch als temporär konzipiert – eine strukturelle Fehleinschätzung, deren Folgen bis
heute sichtbar sind.
Aus Arbeitsmigration wurde Faktische Einwanderung – ohne Einwanderungsrecht.


2. Postkoloniale Migration (seit 1945)

Sie ist in Westeuropa die prägendste und zugleich am wenigsten offen benannte Migrationsform.
Frankreich
Migration aus Algerien, Marokko, Tunesien, West- und Zentralafrika; dazu aus Überseegebieten.
Diese Gruppe prägt soziale Spannungen, Banlieue-Dynamiken, Debatten um Laizismus und
republikanische Identität.
Großbritannien
Einwanderung aus Indien, Pakistan, Bangladesch, der Karibik und Afrika.
Sie formte eine große Minderheitenlandschaft – und war Grundlage von Konflikten, aber auch
kultureller Dynamik.
Niederlande
Migration aus Indonesien, Surinam und den Antillen.
Sie führte bereits ab 2000 zu ersten gesellschaftlichen Polarisierungen (Fortuyn, van Gogh).
Portugal und Spanien
Zirkuläre Migration aus Angola, Mosambik, Kap Verde sowie aus Lateinamerika.
Diese Migrationsform ist strukturell, generationenübergreifend und kaum steuerbar – ein Erbe
kolonialer Verflechtungen.


3. EU-Binnenmigration nach 1989

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks öffnete sich ein neuer Migrationsraum.
• Polen, Rumänien, Bulgarien, Baltikum → Arbeitsmigration in den Westen
• Deutschland, UK, Irland, Niederlande → massive Aufnahme
Diese Migration ist rechtlich gewollt, wirtschaftlich notwendig und politisch oft unsichtbar –
obwohl sie ganze Branchen trägt (Pflege, Logistik, Fleischindustrie, Bau).


4. Fluchtmigration (2011–2023)

Die größte Verschiebung der politischen Wahrnehmung.
Zentrale Konfliktursachen:
• Syrienkrieg (mit direkter und indirekter Beteiligung von USA, Russland, Türkei und EU-Staaten)
• Irak, Afghanistan
• Libyen (Zerfall nach westlicher Intervention 2011)
• Ostafrika (Hunger, Konflikte)
2015 markierte den Moment, in dem die externen Krisen Europas zu innenpolitischen
Spannungen
wurden – bis in die Struktur des Parteiensystems hinein.


5. Klimamigration (Beginnend, aber unaufhaltsam)

Sie wird die nächsten Jahrzehnte dominieren – und ist heute politisch unterrepräsentiert.
Betroffene Regionen:
• Sahelzone → Desertifikation
• Horn von Afrika → Dürre
• Südasien → Überhitzung, Überschwemmungen
• Pazifikregionen → Küstenverlust

Diese Migration ist nicht kurzfristig, sondern epochal.
Sie verschiebt das Verständnis von humanitärer Verantwortung, ökonomischer Aufnahmefähigkeit
und globaler Gerechtigkeit.


6. Politische Bedeutung der Unterscheidung

Diese fünf Migrationsformen haben kaum etwas miteinander zu tun:
• unterschiedliche Gründe
• unterschiedliche Steuerbarkeit
• unterschiedliche Anforderungen an Integration
• unterschiedliche Auswirkungen auf Arbeitsmärkte und Sozialsysteme
• unterschiedliche historische Verantwortung

Europa aber spricht politisch, medial und administrativ häufig über alles unter einem Begriff.
Genau daraus entsteht der Verlust der Mitte:
• weil Erwartungen und Realitäten kollidieren,
• weil politische Versprechen nicht erfüllbar sind,
• weil Verwaltungsstrukturen überfordert wurden,
• und weil moralische, rechtliche und ökonomische Logiken durcheinandergeraten.

Die Krise der Mitte beginnt nicht mit Migration –
sie beginnt damit, dass Europa nicht mehr wusste, welche Migration es eigentlich meint.

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