Dienstag, 25. Nov. 2025 at 09:20

4.1.0c.3 – Die Krise der Solidarität (2015–2023)

Wie Europa überfordert wurde – und sich selbst überforderte
Die Jahre nach 2015 markieren einen Wendepunkt. Das Jahr, das zu einem Symbol der
„Flüchtlingskrise“ wurde, war in Wahrheit der Moment, in dem eine seit Jahrzehnten unterschätzte
strukturelle Realität sichtbar wurde: Europa besaß keine gemeinsame Migrationspolitik, keine
abgestimmte Asylpraxis, keine wirksamen Grenzmechanismen, keine solidarische Lastenteilung –
und keine politische Erzählung, die diese Realität tragen konnte.

Die Krise bestand deshalb nicht in der Zahl der Ankommenden, sondern in der Diskrepanz
zwischen Problemlage und politischer Reaktionsfähigkeit
. Sie war weniger eine Krise der
Migration als eine Krise europäischer Solidarität.


1. Der Zusammenbruch der gemeinsamen Verantwortung

Die Dublin-Regeln hatten die strukturelle Asymmetrie in Europa zementiert:
Die Außengrenzstaaten (Griechenland, Italien, später Spanien) trugen die Hauptlast, während
Mittel- und Nordeuropa von einer geographischen Schutzwirkung profitierte.

2015 zerbrach dieses stillschweigende Arrangement.
Erstmals wurde sichtbar, dass es kein europäisches „Wir“ in Migrationsfragen gab.
• Deutschland öffnete temporär die Grenzen aus humanitären und organisatorischen Gründen.
• Ungarn und andere mittelosteuropäische Staaten lehnten eine Umverteilung kategorisch ab.
• Italien versuchte, mit Seenotrettung und später Abriegelungsstrategien zu überleben.
• Griechenland kollabierte administrativ.
• Frankreich, Spanien, die Niederlande, Dänemark wählten Mischstrategien.
Statt eine gemeinsame Lösung zu entwickeln, bildeten sich regionale Lager, die nicht
verhandelten, sondern sich gegenseitig blockierten.


2. Die Moralisierung des Politischen

Weil Europa kein gemeinsames Regelsystem hatte, wurde die Differenz nicht politisch, sondern
moralisch diskutiert.

In Westeuropa herrschte die Tendenz, restriktive Positionen als unsolidarisch oder
geschichtsvergessen zu brandmarken.
In Osteuropa wurden offene Positionen als naiv, gefährlich oder als Ausdruck westlicher
Dominanz gesehen.

Damit entstand eine doppelte Moralisierung, die politische Lösungen erschwerte:
• Humanitarismus wurde zu einem identitätsstiftenden Argument, nicht zu einem Politikprinzip.
• Souveränität wurde zur moralischen Gegenposition, nicht zur legitimen Interessenform.
• Kompromisse wurden als Verrat gedeutet – auf beiden Seiten.

Europa verlor hier seine Fähigkeit zur pragmatischen Vermittlung, die seine historische Stärke war.


3. Die Spaltung der Mitte

Die politische Mitte wurde gleich von zwei Seiten unter Druck gesetzt:

a) Durch migrationskritische Protestbewegungen
(Sachsen, Thüringen, Oberösterreich, Norditalien, Flandern, Dänemark).
Diese galten anfangs als Randphänomene, erwiesen sich aber als Ausdruck
tiefsitzender sozialer und kultureller Verunsicherung.

b) Durch moralische Polarisierung in den Eliten, die Kritik an Migrationspolitik
tendenziell delegitimierte, statt sie politisch zu integrieren.

Das Ergebnis war eine Entkopplung zwischen politischen Institutionen und gesellschaftlichen
Wahrnehmungen
:
• Sorgen der Mittelschichten wurden nicht argumentativ aufgegriffen.
• Soziale Verwerfungen blieben unterbelichtet.
• Kritik an Kontrollverlusten wurde als Gefahr statt als Information interpretiert.

Darauf reagierten neue politische Kräfte – teils konstruktiv, teils radikal – und gewannen in ganz
Europa an Bedeutung.


4. Die Erosion des Vertrauens in staatliche Kompetenz

2015–2023 war auch ein Jahrzehnt des administrativen Kontrollverlusts:
• schleppende Asylverfahren,
• chaotische Zuständigkeitslage,
• Überforderung kommunaler Systeme,
• fehlende Datenbasis zu Migration und Rückführungen,
• überlastete Integrationsstrukturen,
• fragmentierte IT-Systeme,
• eine teils widersprüchliche Rechtsprechung.

Gleichzeitig stieg die Anzahl jener, die seit Jahren im Land leben, arbeiten oder Deutsch sprechen –
aber durch Behördenstrukturen schlechter behandelt werden als erwartet.
Diese Gruppe – eigentlich eine Erfolgsgeschichte – entwickelte ein neues, stilles Misstrauen
gegenüber staatlicher Verwaltung:
ein Verlust an Zugehörigkeitsgefühl, der kaum diskutiert wird, aber langfristig besonders
gefährlich ist.


5. Das geopolitische Jahrzehnt (Syrien, Russland, Türkei, Sahel)

Die europäische Migrationskrise war nicht hausgemacht. Sie war das Ergebnis geopolitischer
Destabilisierung, an der europäische Mächte oft beteiligt waren:
• Syrienkrieg (mit direkter oder indirekter Beteiligung von USA, Russland, Iran, Türkei, Frankreich, Großbritannien).
• Zerfall Libyens durch westliche Interventionen 2011.
• Russische Aktivitäten im Nahen Osten.
• Der strategische Einsatz von Migration als politischem Druckmittel (Belarus 2021, Türkei 2015–2020).
• Klimabedingte Verschlechterungen im Sahel, für die Europa historisch Mitverantwortung trägt.

Damit wurde Migration unweigerlich zu einem Friedens- und Sicherheitsproblem, nicht im Sinne
von „Bedrohung“, sondern im Sinne eines multiplen globalen Störsignals:

Wo Kriege nicht politisch gelöst werden, wandert die Instabilität.


6. Der Verlust der europäischen Erzählung

Europa hat es in den Jahren 2015–2023 nicht geschafft, eine gemeinsame Erzählung zu entwickeln:
• nicht die des Schutzes,
• nicht die der Humanität,
• nicht die der Ordnung,
• nicht die der Verantwortung,
• nicht die der Reform.

Stattdessen wurde Migration zum Projektionsfeld für alles, was Europa spaltet:
Klima, Krieg, Globalisierung, Identität, soziale Ungleichheit, Medienmisstrauen, Demokratiekrise.

Die eigentliche Folge:
Die politische Mitte verlor ihren verbindenden Charakter.


7. Fazit: Die Solidaritätskrise als Kern des europäischen Kontrollverlusts

Die Krise der Solidarität ist keine moralische, sondern eine strukturelle:
• Europa hat kein gemeinsames Migrationssystem.
• Kein gemeinsames Grenzregime.
• Keine gemeinsame Integrationspolitik.
• Keine gemeinsame geopolitische Strategie.
• Keine gemeinsame Erzählung.

Es gibt deshalb auch keine Mitte, in der sich Europa versammeln kann.
Damit wird Migration – zusammen mit geopolitischer Verschiebung und sozialer Erosion – zu
einem zentralen Faktor des Verlusts der politischen Mitte, der Europa bis heute prägt.

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