Freitag, 5. Dez. 2025 at 14:35

4.1.0d.2 – Die Mechanik der Ungleichheit

Die soziale Ungleichheit Europas ist kein Naturereignis und auch kein plötzlich auftretender
Schock.
Sie folgt einer politisch hergestellten, über Jahrzehnte verfestigten Mechanik, die im
Zusammenspiel von Steuerpolitik, Finanzmärkten, Arbeitsmarktregeln und staatlicher
Zurückhaltung entstanden ist.


1. Steuern und Kapitalmobilität – der stille Rückzug des Staates

Seit den 1990er Jahren verschoben sich die europäischen Steuersysteme:
• Unternehmenssteuern und Spitzensteuersätze wurden in vielen Ländern gesenkt.
• Kapital wurde international mobil und damit schwerer zu besteuern.
• Steuerwettbewerb innerhalb der EU untergrub nationale Gestaltungsspielräume.
• Vermögensbesteuerung wurde abgebaut oder abgeschafft.

Das Ergebnis:
Die Belastung verlagerte sich auf Arbeit, Konsum und die Mittelschicht.


2. Deregulierte Finanzmärkte – Gewinne privatisiert, Risiken vergesellschaftet

Die Finanzmarktliberalisierung führte zu:
• stark gestiegenen Vermögenseinkommen,
• spekulativen Kapitalgewinnen,
• Immobilien als globalem Anlagegut statt als sozialem Gut.

Die Finanzkrise 2008 zeigte den Widerspruch:
• Staaten trugen die Risiken,
• Vermögensbesitzer die Erträge,
• während breite Bevölkerungsteile stagnierende Löhne und steigende Lebenshaltungskosten
schultern mussten.


3. Arbeitsmärkte – Flexibilisierung ohne Absicherung

Mit Reformen wie den Hartz-Gesetzen in Deutschland entstanden:
• mehr Beschäftigung, aber oft schlecht abgesichert,
• atypische Arbeitsverhältnisse,
• ein wachsender Niedriglohnsektor,
• unsichere Beschäftigungsbiografien.

Das Prinzip lautete:
Mehr Markt, weniger Garantien.

Die Folge:
Die Einkommensspaltung nahm zu — vertikal zwischen oben und unten, aber auch horizontal
innerhalb der Mittelschicht.


4. Privatisierung, Kostendruck, politische Zurückhaltung

Parallel dazu wurden staatliche Daseinsvorsorge und soziale Sicherungssysteme:
• privatisiert,
• teilfinanziert statt vollfinanziert,
• an „Eigenverantwortung“ gekoppelt.
Dies traf vor allem jene, die keine Vermögenspolster besitzen.


5. Wahrnehmung: Die Mitte trägt mehr, bekommt weniger

Die politische Auswirkung dieser Mechanik ist entscheidend:
• Wer Löhne stagnieren sieht, aber Vermögen explodieren,
• wer steigende Mieten erlebt, aber sinkende Unternehmenssteuern,
• wer Sozialbeiträge zahlt, aber keinen Einfluss hat,
der erlebt sich zunehmend als Lastenträger eines Systems, das nach oben offen ist, aber nach
unten dicht
.

Das Vertrauen in Gerechtigkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit beginnt zu bröckeln —
und mit ihm das Vertrauen in die politische Mitte.

More from kdr1957 und ChatGPT: Die neue Erzählung
All posts