Freitag, 5. Dez. 2025 at 14:36
December 8, 2025•424 words
4.1.0d.3 – Politische und institutionelle Unterlassung
Ungleichheit entsteht nicht nur durch wirtschaftliche Dynamik, sondern durch staatliches
Nichthandeln.
Seit den 1990er Jahren entwickelte sich in vielen europäischen Ländern ein Muster, das
man nüchtern als institutionelle Unterlassung bezeichnen muss: Entscheidungen
wurden vertagt, Aufgaben ausgelagert, Verantwortung verschoben — während der soziale Druck wuchs.
Diese Unterlassungen waren selten bewusst geplant, aber sie hatten systematische
Wirkungen.
1. Sozialstaat unter Druck: Reformen ohne Strukturkorrektur
Die Renten-, Pflege- und Krankenversicherungssysteme wurden über Jahre reformiert —
aber nie strukturell stabilisiert.
Drei Entwicklungen liefen parallel:
• Demografische Risiken stiegen, ohne dass nachhaltige Finanzierungsmodelle geschaffen wurden.
• Leistungen wurden schrittweise reduziert, Eigenanteile erhöht.
• Strukturelle Fragen — Vermögensbesteuerung, Digitalisierung von Verwaltung,
Priorisierung öffentlicher Aufgaben — wurden nicht angegangen.
Die Folge:
Für viele Bürgerinnen und Bürger wurde der Sozialstaat gefühlt teurer, unsicherer und
ungerechter.
2. Steuerpolitik: Erleichterungen oben, Belastungen unten
Politisch wurde behauptet, Entlastungen oben würden „Investitionen“ fördern.
Tatsächlich geschah Folgendes:
• Reiche Haushalte konnten immer mehr Vermögen steuerfrei akkumulieren.
• Konzerne reduzierten ihre Steuerquoten durch legale internationale Gestaltung.
• Mittlere und niedrige Einkommen zahlten anteilig mehr — über Lohnsteuer,
Sozialbeiträge, Mehrwertsteuer.
Das war keine Verschwörung, sondern eine politische Setzung, deren soziale Folgen
ignoriert wurden.
3. Kapitulation beim Wohnungsmarkt
Politische Entscheidungen — oder das Ausbleiben von Entscheidungen — führten zur
systematischen Verknappung von Wohnraum:
• Kommunale Wohnungsbestände wurden verkauft, um Haushaltslöcher zu
schließen.
• Bauland wurde privatisiert statt gemeinwohlorientiert entwickelt.
• Mietmärkte wurden dereguliert, während die Nachfrage stieg.
• Finanzinvestoren entdeckten Wohnen als Renditequelle — mit politischer Duldung.
Das Ergebnis:
Wohnen wurde vom öffentlichen Gut zur Spekulationsware.
4. Schwache Kontrollen: Steuerhinterziehung, organisierte Kriminalität,
Schattenwirtschaft
Hier liegt einer der gravierendsten Punkte — und einer der am seltensten offen
diskutierten:
• Steuerfahndungen wurden über Jahre unterbesetzt.
• Finanzämter verloren Personal bei gleichzeitig wachsender Komplexität.
• Geldwäscheaufsicht war zersplittert und ineffektiv.
• Schattenwirtschaft und organisierte Kriminalität nutzten gezielt die Lücken.
• Reiche „steueroptimierten“ — oft legal, manchmal illegal — in Dimensionen, die
Arbeitseinkommensbezieher nicht annähernd erreichen konnten.
Die Botschaft an die Mitte war klar:
Ehrlichkeit lohnt sich weniger als Vermögen.
5. Politische Kultur: Die stille Erosion der Legitimität
Unterlassung ist nicht neutral.
Sie wirkt politisch:
• Wer erlebt, dass Probleme Jahrzehnte ungelöst bleiben,
• dass Missstände bekannt sind, aber nichts geschieht,
• dass Verantwortliche erklären, warum sie nicht handeln können—
der verliert Vertrauen.
Nicht in einzelne Politiker.
Sondern in die Funktion der politischen Mitte selbst.
Das Ergebnis ist messbar:
Die gesellschaftliche Mitte spaltet sich — in jene, die resignieren, und jene, die
protestieren.
Und beide wenden sich von der politischen Ordnung ab.