Freitag, 28. Nov. 2025 at 10:09
November 29, 2025•767 words
kdr1957 und ChatGPT in einer zweiten Austauschreihe
Sechster Beitrag
Das Primat der Politik
Warum Europa eine politische Vernunft zurückgewinnen muss – und welche Voraussetzungen
dafür fehlen
Die gegenwärtige geopolitische Krise in Europa offenbart einen Verlust, der tiefer reicht als
strategische Fehler, Fehleinschätzungen oder politische Unfähigkeit:
Es ist der Verlust des Primats der Politik – der Fähigkeit, Konflikte zu erkennen, Interessen
auszubalancieren, Eskalationen zu vermeiden und tragfähige Kompromisse zu schließen.
Dieses Primat ist nicht einfach eine Tugend, sondern ein normatives Fundament:
Es steht über Ideologie, Moral, medialen Impulsen und kurzfristigen Machtlogiken.
Es verlangt Verantwortlichkeit, Integrationskraft, Geduld und die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung.
Doch gerade diese Elemente sind in Europa – und besonders in Deutschland – zunehmend
geschwächt.
1. Der historische Rahmen: Hybris statt politischer Vernunft
Seit dem Ende des Kalten Kriegs ist die europäische Politik in eine moralische Hybris
hineingewachsen.
Der Westen entwickelte ein Sendungsbewusstsein: die Überzeugung, die Geschichte habe sich in
Richtung liberaler Demokratie entschieden und die Welt müsse diesem Modell folgen – notfalls durch
Einmischung.
Dieses Sendungsbewusstsein führte zu:
- der Entwertung klassischer Sicherheitspolitik
- der Missachtung historischer Erfahrungen anderer Staaten
- einer moralisch aufgeladenen Außenpolitik
- einer Ausweitung politischer Einflusszonen unter dem Deckmantel „europäischer Werte“
Was verloren ging, war genau das Herzstück des Politischen:
Konfliktlogik, Realismus, Selbstbegrenzung und Verständigungsbereitschaft.
Damit wurde das Fundament einer europäischen Friedensordnung unterspült.
2. Die normative Grundlage: Die Doppelbindung der UN
Das Primat der Politik ist nicht voraussetzungslos.
Es steht auf zwei Säulen:
- Staatensouveränität – keine Einmischung in innere Angelegenheiten.
- universelle Menschenrechte – die Grenze staatlicher Willkür.
Nur beide zusammen schaffen eine internationale Ordnung, die stabil und friedensfähig ist.
Doch seit 1990 haben westliche Staaten dieses Gleichgewicht verschoben:
Menschenrechte wurden zunehmend als Instrument zur politischen Einflussnahme genutzt,
Souveränität als veraltetes Konzept abgewertet.
Das Ergebnis war eine regelbasierte Ordnung, die selektiv angewendet wurde –
und deshalb das Vertrauen verlor.
Diese Verschiebung gehört zu den zentralen Ursachen für die heutigen Konflikte.
3. Europa und Russland: Eine gestörte Sicherheitsarchitektur
Seit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 war klar:
Russland akzeptiert eine weitere Ausdehnung westlicher Militär- und Einflussräume nicht.
Trotzdem öffnete der Westen 2008 die NATO-Perspektive für Ukraine und Georgien –
gegen die ausdrücklichen Einwände Deutschlands und Frankreichs.
Die EU setzte ihre politischen Integrationsprogramme fort.
Die NATO intensivierte die militärische Zusammenarbeit.
Die Ukraine wurde zunehmend in den westlichen Sicherheitsraum eingebunden.
Für Russland war dies ein Bruch der strategischen Balance.
Für den Westen war es ein legitimer Ausdruck staatlicher Selbstbestimmung.
Zwischen beiden Sichtweisen entstand ein Widerspruch, der von keiner Seite politisch
bearbeitet wurde.
Die Konflikteskalation zwischen 2013 und 2022 war die logische Folge
eines versäumten politischen Ausgleichs.
4. Was das Primat der Politik heute verlangt
Aus diesen Zusammenhängen folgt ein klares Prinzip:
Europa kann Frieden nur organisieren, wenn es realpolitisch handelt,
nicht moralistisch und nicht interventionistisch.
Das bedeutet konkret:
4.1. Verantwortlichkeit gegenüber dem Frieden
Politikerinnen und Politiker sind dem Frieden verpflichtet,
nicht moralischen Projektionen, geopolitischen Experimenten oder kurzfristigen Stimmungen.
4.2. Eine Friedensordnung ohne Russland ist unmöglich
Europa ist geografisch, historisch und sicherheitspolitisch mit Russland verflochten.
Eine europäische Sicherheitsarchitektur kann nicht gegen Russland gestaltet werden.
4.3. Kriegspolitik delegieren ist keine Politik
Europa finanziert heute maßgeblich den Krieg in der Ukraine,
behauptet aber gleichzeitig, die Ukraine entscheide allein.
Das ist politisch unredlich und moralisch bequem.
Es ist weder souverän noch verantwortungsvoll.
4.4. Die Ukraine ist ein Akteur – aber nicht neutral
Die Ukraine hat nachvollziehbare Interessen, aber auch interne Widersprüche,
politische Instabilitäten und Abhängigkeiten.
Blindes Vertrauen ersetzt keine politische Analyse.
Für Frieden braucht es:
Transparenz, Bedingungen, Verhandlungskorridore und Kontrolle.
4.5. Selbstreflexion statt moralischer Eskalation
Europa muss sich seiner eigenen Fehler bewusst werden – der Hybris, der Einmischung, der
politischen Selbstüberschätzung.
Nur aus Selbstreflexion entsteht politische Reife.
5. Das Primat der Politik – neu definiert
Das Primat der Politik bedeutet heute:
- Vorrang politischer Logik vor moralischem Sendungsbewusstsein
- Vorrang von Diplomatie vor militärischem Automatismus
- Vorrang von Sicherheit vor Ideologie
- Vorrang von Interessenausgleich vor Einflusszonen
- Vorrang von Verantwortung vor Selbstgerechtigkeit
- Vorrang von Stabilität vor symbolischer Politik
Nur mit diesem Verständnis kann Europa einen Weg vom Krieg zurück zum Frieden finden.
6. Die Perspektive: Anschluss an die Sustainable Development Goals
Am Ende der Neuen Erzählung stehen die SDGs –
sie bilden den globalen Orientierungsrahmen für nachhaltigen Frieden,
für souveräne Zusammenarbeit,
für internationale Gleichberechtigung
und für eine Weltordnung ohne moralische oder geopolitische Überheblichkeit.
Das Primat der Politik ist der notwendige konzeptionelle Schritt davor:
Es schafft die politischen Bedingungen,
unter denen die SDGs überhaupt realisierbar werden.
Ohne politisches Primat keine nachhaltige Entwicklung.
Ohne souveräne Kooperation keine Friedensordnung.
Ohne Selbstbegrenzung keine Menschlichkeit.