Obsession mit "Realität"
November 1, 2025•1,099 words
Make-Believe - Gedankenspiele - sind nicht Real. Meist mit dem Satz "Das ist zwar ganz nett, aber" bedacht und damit scheinbar ad absurdum geführt, fristen Table Top Role Playing-Spiele wie Dungeons and Dragons (D&D) bei konservativen ein Schunddasein. Man solle sich nicht in digitale oder Phantasiewelten flüchten und sich nichts vormachen - die echte Welt ist nunmal hart und grausam und muss ertragen werden. Gender-gerechte Sprache wäre ja auch nett, aber in der Realität unpraktisch. Das ist aber kein konservatives Phänomen, auch extreme(re) Humanist:innen wie es sie Zuhauf bei sozialdemokratischen, grünen und neoliberalen Parteien gibt, finden an dieser Argumentation etwas: Antikriegspositionen gehen "an der Realität vorbei" und antikoloniale Argumente sind in unserer Welt nicht mehr andwendbar - die Kolonialzeit ist ja in Wahrheit vorbei. Etwas weiter rechts, sind dann Trans-Frauen keine Frauen (von Trans-Männern wird ja kaum einmal gesprochen) und "ganz ehrlicherweise muss man" (wie die Nazis in den 30ern) Wölfe abschießen, weil Almweideschutz in der Praxis nicht umsetzbar ist.
Das Zusammenspiel aus Kapitalismus und Humanismus hat ein Weltbild hervorgebracht, das sich auf die Fahnen schreibt, objektiv, wissenschaftlich und real zu sein. Dass die gesamte Ideologie selbst nichts weiter als Make-Believe - ein Gedankenspiel - ist und nur so vor Widersprüchen ächzt, erkennen ihre Anhänger:innen leider nicht.
Realität
Manche sagen, dass es da oben einen Himmel
und unten eine Hölle gibt
Naja, wir können jede Geschichte erfinden,
die wir wollen, denn wir sind geschichtenerzählende Tiere.
- "Storytelling Animals" von Bukahara
Um die Realität wird immer trefflich gestritten - sie ist der Hammer der im rhetorischen Werkzeugkasten neben der Nazikeule hängt: Manchmal das richtige Werkzeug, aber viel zu oft in inkompetenten Händen, die sich dann auch noch selbst damit wehtun. Wenn etwas wirklich so ist, muss das ja so sein ... Meist ist die behauptete Realität aber lediglich unser eigenes Modell der Welt, mit dem wir den Alltag bestreiten. Und das ist voll von Geschichten, Interpretationen und Sichtweisen - aus gutem Grund: die rohe Realiät ist zu komplex um sie in ihrer Gesamtheit erfassen zu können.
Trotzdem beanspruchen vorallem Vertreter:innen des Humanismus die rohe Realität für sich. (Wer sich davon überzeugen möchte und die psychische Kraft hat, möge sich gerne das Dream Team bestehend aus Markus Lanz und Richard David Precht anschauen.) Real ist für Humanist:innen, was eine (viel zu oft nicht peer-reviewte) wissenschaftliche Studie herausgefunden hat. Real ist die Natur. Mann und Frau - und nur die - sind "physisch" Real. Der Nationalstaat, die Demokratie und der globale Finanzmarkt sind real, schließlich begegnet man ihnen überall und kann mit ihnen interagieren. Unsere Arbeit ist etwas reales - aber die Handarbeit ohne Computer ist trotzdem realer als andere; wer kennt sie nicht, die relative Realität. Beim Klimawandel beginnen sich die Geister der Humanist:innen dann schon zu scheiden - Klimawissenschaft ist ja keine Wissenschaft, weil es die wissenschaftliche Experimentallogik scheinbar durchbricht.
Was real ist, muss in weiterer Folge natürlich auch der Natur entspringen - die hat uns ja hervorgebracht. Die Sichtweise was real ist verändert damit den Blick auf das was natürlich ist. Denn was in dieser, neu interpretierten, Natur nicht vorgefunden werden kann, ist nicht natürlich und demnach auch nicht real. Ein physisches nichtbinäres Geschlecht ist dann all zu oft nur ein Hirngespinst - etwas Soziales, etwas, das man selbst so sieht und so haben möchte, anstatt ausdruck einer viel komplexeren biologischen Situation, die das eigene Weltbild sprengen würde. Wenn die komplexität der Forschung die eigene Realität übersteigt, zieht man sich schnell in die selbstgeschaffene sokratische Höle zurück. Wie sinnvoll ist die Realität vor diesem Hintergrund also noch, wenn sie selbst zu einer interpretierten Geschichte geworden ist?
Geschichten
Gute, immersive Geschichten - selbst erzählt wie bei D&D oder aufgeschnappt wie aus Büchern, Filmen, Hörspielen etc. - sind oft nur schwer von Erlebnissen "in der echten Welt" abgrenzbar. Jene Abenteuer, die einer meiner Charaktere in einer D&D Campagne erlebt hat, zu dem ich eine starke emotionale Bindung aufgebaut habe, und dessen soziales Umfeld mir durch hunderte Spielstunden unglaublich vertraut ist; diese Abenteuer erlebe ich nicht physisch; sie stehen physischen Erlebnissen, den emotionalen Gehalt betreffend aber in keiner Weise nach. Gutes Storytelling bewirkt, dass ich mich fürchte, mich erschrecke, hochgefühle erlebe... Im Nachhinein kann ich sogar die Hitze und die Strapazen eines epischen Kampfes nachspühren. Diese Erinnerungen machen es so real wie es nur sein könnte - natürlich weiss ich, dass es eine Geschichte war, aber der Adrenalinrausch an den ich mich von der letzten Klettertour erinnerne, ist nicht anders als der einer gut erlebten Geschichte.
Das Wissen darum, wie wir uns an Dinge erinnern und sie verarbeiten hilft dabei, die humanistische Realität neu einzuordnen. Das kann natürlich im Absurdismus, Nihilismus oder in einer Psychose enden - ist also so oder so ein erstrebenswertes Ziel. Viel wichtiger ist aber, dass man dadurch erfährt, dass die Realität ohne eine intakte Geschichte nutzlos ist. (Wer jetzt beginnt zu denken, dass vorallem das Ego eine solche Geschichte ist, ist etwas sehr heissem auf der Spur - Stichwort Psychose).
Realität ist also nur sinnvoll, wenn wir ihr auch eine Geschichte geben.
Jeder Regentropfen, der von einer Baumkrone fällt,
aus einem Himmel voll von Erinnerungen,
kann Wasser auf die dunkle Seite bringen
und seltsame Blumen erblühen lassen.
Und jeder Schatten der aus einem Fenster
in einen Kopf voller Theorien fällt
kann gefählich für Alle rund um dich sein,
also erzähl eine Geschichte die wahr ist.
- "Storytelling Animals" von Bukahara
Wahrheit ist ein Konzept, mit dem ich mich hier nicht befassen möchte. Aber Bukahara hat insofern recht, dass die Geschichte die man sich erzählt - die Realität die man für sich und andere konstruiert - eine gute sein sollte. Realität ist für mich demnach nicht, dass das Leben hart, kalt und schwer ist. Realität ist nicht, dass ich alles tun muss um so lange wie möglich zu überleben weil das mein "Urinstinkt" ist. In meiner Realität sind nicht alle anderen dumm und nichtsnutzig.
Der Humanismus ist auch nur eine weitere Geschichte - und ehrlicherweise gibt es wesentlich bessere, die ich lieber höre und lebe. Geschichten, die die Einzigartigkeit von Menschen und anderen Lebewesen, anstatt das eigene Ego feiern. Geschichten, in denen es möglich ist, dass wir alles umkrempeln um den Planeten zu retten. Geschichten, in denen "Normalität" der Vergangenheit angehört...
Viele Geschichten sind realer als das lächerliche Bild der Welt, das uns in der Schule beigebracht wird. Wer kreativ genug ist kann den Humanismus und seine "Realität" also heute an Allerseelen, am Friedhof der Philosophie gemeinsam mit Richard David Prechts Büchern verbrennen - auch Zen-Klöster werden so auch ihre Altlasten los und heizen gleichzeitig in der kalten Jahreszeit ihre Räumlichkeiten. ;)