Betriebsweihnachtsfeier
December 7, 2025•1,872 words
Die schwer erträgliche Zeit des Jahres ist wieder da. Die Zeit, in der die U-Bahnen wieder voll sind mit beschwipsten Leuten, die es als Vergnügen empfinden, drei Stunden in der nassen, windigen Kälte Wiens sündteuren Glühwein zu trinken, der nach 30 Sekunden kalt ist und sich dazu eine überteuerte und enttäuschend kleine Mahlzeit von einem der Weihnachtsmarktstände holen, die aus der Tortur hoffentlich wenigstens guten Profit schlagen - den Standlern gönne ich das ja noch.
Es werden kitschige Weihnachtspullover angezogen (oder von den ganz intellektuell kritischen ein Pullover der sich darüber lustig macht) und sich zwischen den Menschenmassen beschwert, dass zu viele Leute da sind. Der Alkohol macht das Ganze dann erträglich. Oft sieht man aber doch auch die gelangweilten Gesichter diverser Partner:innen die beim Offline-Etsy-Bummel durch die immergleichen "self-made" Standln halt doch keine Lust auf Kapitalismus haben. Neben diesen, gibt es aber auch die, deren Mäntel und Jacken links und rechts zwei gut sichtbare Beulen aufweisen: Die Outlaws, die es sich einmal trauen die urcoole Pfand-Tasse mitgehen zu lassen, um sie dann stolz bei der nächsten Party zuhause als die Beute eines zu respektierenden Verbrechens zu präsentieren.
Manche beschweren sich bei mir über diese zynische Haltung - schließlich nehme ich der einen Zeit im Jahr, bei der es um Gemeinschaftsgefühl, Zusammenhalt, Liebe für alle, yada, yada geht, den Zauber weg. Ich gebe zu, dass die Kritik an Weihnachtsmärkten bürgerliche Untertöne nicht vermeiden kann, aber ich hasse auch die, die sich über die Märkte beschweren und sich dann für etwas Besseres halten. Ich gebe zumindest zu, dass ich hier vollkommen inkonsistent bin. Deshalb versteht mich nicht falsch - ich liebe Glühwein, aber den kann man auch im inneren von Lokalen trinken. Und ich finde auch den Mittelalter Weihnachtsmarkt im Heeresgeschichtlichen Museum toll. Abgesehen davon dass der Ort furchtbar ist: Hier bieten die enttäuschenden Mahlzeiten, die beißende Kälte und der Matsch auf dem der Markt erbaut ist eine ideale und akkurate Mittelalter Cosplay-Bühne. Hier gibt es auch viele verkleidete Leute und, das tollste: man wird nicht (so) schräg für das eigene Outfit angeschaut, weil niemand weiß, dass man das sonst auch trägt.
Wie dem auch sei... Ich bin letztens mit einer dieser erwähnten, nach Glühwein, Baumkuchen und Kebap riechenden, U-Bahnen zur (ebenfalls zu dieser hyperkapitalistischen Zeit gehörenden) Weihnachtsfeier meines Betriebes gefahren. "Gut angebunden" durch einen einzigen Bus oder einen zwanzig Minuten Marsch, fand diese in einer der größeren Veranstaltungsräume Wiens statt. Mit tollen Präsentationen, viel Essen, gratis Getränken, Tischfußball, einer Carrera Bahn und einer Überraschung1 wurde für den Besuch geworben.
Ich bin mir sicher, ihr kennt die Szenerie von hunderten, ähnlichen betrieblichen Feiern. Eigentlich hat niemand Lust hinzugehen. Man geht aber aus Solidarität den Kolleg:innen gegenüber doch. Es gibt ein paar, die schon davor ankündigen, sich abzuschießen - bei anderen weiß man einfach dass es so sein wird. Das Buffet ist meistens ganz OK, man trinkt Sprizer und Bier, horcht halbherzig den Konzernpräsentationen zu, quatscht mit Menschen, die man schon ewig nicht gesehen hat, die einem dann aber trotzdem nichts Neues erzählen und ist zu Smalltalk mit anderen gezwungen, mit denen man entweder nichts gemein hat oder die man nicht ausstehen kann. Auch hier - nichts Weltbewegendes, aber dafür "Tradition".
Bevor ich euch aber durch mein lamentieren verliere, komme ich zu dem Part des Abends, den ich spannend gefunden habe - gerade in diesen Standardsituationen kann man sehr gut das eigene Verhalten reflektieren oder Amüsantes ausprobieren.
Die Entscheidung, ob ich auffallen wollen würde oder nicht war vor dem Fest tatsächlich sehr schnell geklärt. Ich habe keine Mühen gescheut und hab das queerste Outfit angelegt das ich finden konnte. Overknee Plateau Heels, kurzer Rock, Goth Corsage Top, ein Strumpfband an das ich mein Schweizer Messer gehängt hab, Halsband, Schminke, Super Kawaii Kopfhörer mit Ohren (und natürlich Arm-Warmer, aber die sind sowieso immer dabei). Es war klar, dass ich nicht nur overdressed, sondern komplett Fehl am Platz sein würde. Aber, da ich gerade sowieso versuche, in den Köpfen meiner Kolleg:innen präsent zu sein, sollte es doch mal zu einer Betriebsratsgründung kommen, ist das gerade recht. (Falls jemand von euch mitliest: es wäre längst an der Zeit.) In einem Umfeld, in dem man sich sonst nur im Chat begegnet, muss der Eindruck lange halten (auch wenn sich meine engeren Kolleg:innen wahrscheinlich jedes mal davor fürchten, wie ich wohl zu einem Teamevent auftauchen werde). Ich schweife aber schonwieder ab...
Das gute an dem Outfit ist: man kann das nur mit Selbstbewusstsein tragen, weil Verstecken ist nicht - und so verhaltet man sich dann auch. So war ich dann schon im Bus, in dem natürlich 80% Konzernmitarbeiter:innen waren, der meisten Blicke Konvergenzpunkt. Diese Aufmerksamkeit hat sich dann sehr schnell in Schock umgewandelt, als ich mit ihnen ausgestiegen und in dieselbe Veranstaltungshalle marschiert bin. Von da an ist es dann immer witziger geworden.
Einer der Geschaftsführer hat auf seinem Weg zur Bühne extra einen kleinen Umweg gemacht, um die queere Kolleg:in und ihren engeren Arbeitskollegen persönlich zu begrüßen, der Fotograf war innerhalb von Minuten da und wurde enttäuscht, weil mein, als männlicher, 40(?)-Jähriger [ich hoffe ich tue ihm mit dem Alter kein Unrecht], als IT-Arbeiter erkennbarer, Arbeitskollege nicht fotografiert werden wollte, obwohl wir zwei "soviel Farbe in den Raum bringen". Die Kellner waren überfreundlich, wenn sie nicht gerade "hinter meinem rücken" vor Unglaube auf mich gezeigt haben. Einem der entfernteren Arbeitskollegen blieb kurz das Wort im Hals stecken, als er erkannt hat, wer vor ihm steht. Eine (mir bis Dato unbekannte) Kollegin hat mir erklärt, wie toll sie das Outfit findet und, dass sie aus Berlin kommt und ich dort nur einer von hunderten wäre - was ich mit dieser Info anfange weiß ich bis jetzt noch nicht.
Alles in allem ein Erfolg. Das tolle an einem Raum mit 300 IT-Techniker:innen ist, dass sich wahrscheinlich jemand findet, mit dem man über Synthesizer und Tastatur-Layouts nerden kann, ohne, dass es jemandem komisch vorkommt. Trotzdem haben ich und mein Abteilungskollege es geschafft, in anderen technischen Diskussionen den Ruf der Haskell Abteilung als "abstrus, übergenau, komisch aber über alle Maßen kompetent" zu bestärken. Ich denke, ab jetzt wird die Beschreibung durch "queer" ergänzt. Das ist auch durchaus gut so - manchem verwirrten Blick nach zu urteilen, frage ich mich aber doch noch, ob ich eventuell eine "Bathroom" Debatte angestossen habe. Im Kopf eines der heikleren Geschäftsführer wohnen wir, seinen verwirrten Blicken nach zu urteilen, jetzt aufjedenfall mietfrei.
Am Heimweg mit der letzten U-Bahn, zu der mein Arbeitskollege und ich im Laufschritt vor dem alkoholinduzierten Niveaugefälle des Festes, geflohen sind, ist mir dann etwas eingefallen, an das ich schon lange nicht mehr gedacht habe: Trotz meines Wissens um die wenig diverse Belegschaft war ich etwas enttäuscht, niemanden gesehen zu haben wo visuell aus der Reihe getanzt ist. Ich hatte mit einem guten Freundy einmal eine Diskussion, in der wir beklagt haben, dass es so komisch und traurig ist, in unseren Umfeldern sowenige LGBTIQ+ Menschen zu kennen. (Wir besuchen beide keine dedizierten Stammtische, Events, etc.) Das Freundy hat dann einen sehr klugen Satz formuliert: Naja, weisst du, das sind halt wir. Damit hatte es natürlich auch vollkommen recht - aber die Einsicht war trotzdem hart. Gerade Trans+ Menschen sind gerade mal 1%, vielleicht 2% der Gesellschaft. Wenn ich also hundert unterschiedliche, zufällige Menschen treffe, treffe ich aller statistischen Wahrscheinlichkeit zufolge keine zweite Trans+ Person2. Ich weiß noch, wie unbefriedigend die Einsicht zu dem Zeitpunkt war.
Dasselbe Gefühl hatte ich auf dieser Weichnachtsfeier auch. Und ja, das unterstellt, dass man Trans+ Menschen visuell erkennt, was natürlich nicht immer der Fall ist (btw hinterfrage ich auch die Correctness und Soundness des Gaydar, auf das einer meiner Freunde schwört). Aber auf genau das wollte ich mit der Geschichte hinaus: Bei 300 Leuten kein zweiten zu finden, wo erkennbar bunter ist, ist schade3. Queers should be unicorns. Und auch die Mauer zwischen Verkleidungen und Outfits sollte niedergerissen werden. Wir sollten mit Outfits und Rollen und auch den damit kommenden Identitäten viel mehr spielen dürfen - das sollte viel normaler sein. Es macht den eigenen Alltag aufjedenfall besser - auch wenn man angestarrt wird. Die immergleichen Outfits auf Weihnachtsmärkten, Betriebsfeiern & Co. kommen einer Flucht in die Anonymität gleich; und Anonymität ist bekannterweise die Maske von Tätern die Tassen klauen4!
Lieber eine Tasse vor aller Augen mitgenommen, weil niemand einen darauf ansprechen wollte, als mit zwei traurigen, rotweinbefleckten Jackentaschen die Lokalität verlassen. Pride immer und überall; damit man uns paar Prozent auch jederzeit auf 100 Meter erkennt und weiß, mit denen sollt man sich ned anlegen, die lassen sich nichts gefallen. Toll, wenn man zu allem ein "pathetisches Schlusswort" findet.
Lasst euch den Glühwein in der Kälte schmecken, die Lokale in denen es guten Indoorglühwein gibt, halte ich aus purem Eigennutz geheim ;)
P.S.: Es ist anscheinend an der Zeit meine eigene Blogwebsite in Betrieb zu nehmen, natürlich ist der Markdown Parser von listed.to kaputt oder folgt einem sehr eigenartigen Dialekt - pandoc kennt die Probleme nicht die ich mit dem Post hier hatte. Immer gut eine Ausrede zu haben um eine eigene Website in Betrieb zu nehmen.
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Hier würde sich ein P.S. lohnen, aber diesen Text Scriptum zu nennen kommt mir dann doch etwas größenwahnsinnig vor. Wenn es wenigstens ein Brief wäre - aber das ist es auch nicht. Grundsätzlich bin ich ja der Meinung, dass "PS", "PPS" und "P{2,}S" nichts mehr in digitaler Kommunikation verloren haben sollten. Sie haben mit Editor-Programmen, die das Medium Papier nicht mehr als Bestandteil haben eigentlich nichts mehr verloren. Ich gebe aber zu, dass sie als Stilmittel immer noch ihre Berechtigung haben. Diese Ansicht habe ich aber auch erst letztens beim Lesen von Falsche Zeit, Falscher Ort (https://falschezeitfalscherort.substack.com/p/ahoi?publication\_id=6351112&post\_id=180277438) nach einigem hin und her überlegen eingenommen. Ich werde mich hier dessen trotzdem enthalten - veränderung persönlicher Angewohnheiten und Abgeneigtheiten braucht Zeit. Die Überraschung um die es ging war eine Indoor Eisstockbahn, mit Curling pins, die auf einer, für beide Spiele mit falschen Markierungen versehene, Plastik-Eismatte für ein, dem Eisstockschießen nicht unähnlichen, Spiel, mal besser mal schlechter geworfen wurden. (Ja ich lobe mich selbst für diesen Satz - er ist genau auf die richtige Art und weise unverständlich und doch - wenn mich nicht alles täuscht - grammatikalisch korrekt.) ↩
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Ja, mir ist bewusst, dass das so nicht stimmt und ich Statistik nicht wirklich verstehe. Nachdem ich mir im Statistikkurs vorgenommen hatte nicht alles zu lernen, aber die Dinge die ich lerne verstehen zu wollen, habe ich nachgelesen, wie man zu diesen ganzen Verteilungsfunktionen kommt. Ich kann nicht sagen dass ich alles davon verstanden habe - geschweige denn jetzt herleiten könnte - aber zumindest weiß ich jetzt, dass die Aussage so nicht stehengelassen werden kann. Andererseits, Kommunikation zielt darauf ab, dass mein Gegenüber versteht was ich meine - das sollte trotzdem gegeben sein. ↩
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"Bei 300 Leuten kein zweiten zu finden, wo erkennbar bunter ist, ist schade." Ich experimentiere immer noch mit geschlechterneutralerer Sprache, die ich nicht furchtbar finde. Aber von diesem Konzept, das ich aus dem Vorarlberger Dialekt geklaut hab (also teilweise einfach Endungen wegzulassen und "wo" anstatt der/die/...) zu verwenden bin ich inzwischen überzeugt - nicht zuletzt weil ich mich dafür beim Sprechen mental nicht anstrengen muss. ↩
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Dasselbe erwähnte Freundy hat meine Aufmerksamkeit letztens auch wieder auf dieses wundervolle Lied gelenkt, das musste ich in dem Kontext einfach teilen. (https://www.youtube.com/watch?v=i1OvdkBZQmA) ↩