Montag, 27. Okt. 2025 at 16:05
October 28, 2025•277 words
4.1.2 Die stille Achse der Macht – Der Verlust der politischen Mitte
Schweigen und Zeitgewinn – das war einst die Grammatik europäischer Politik. Sie bedeutete, Konflikte nicht eskalieren zu lassen, sondern auszuhalten. Angela Merkel beherrschte diese Grammatik wie kaum jemand sonst.
Doch das Prinzip, das ihr politisches Handeln bestimmte, ist in der Gegenwart brüchig geworden.
Mit dem Ende ihrer Amtszeit und der gleichzeitigen Auflösung des Minsker Rahmens, mit Nord Stream 2 und den Verwerfungen der Corona-Zeit begann ein neues Kapitel, in dem Schweigen andere Bedeutungen annahm:
Nicht mehr Bedacht, sondern Verschweigen.
Nicht mehr Verantwortung, sondern Abwehr.
Die stille Achse der Macht, die Europa zusammenhielt, zerbrach in dem Moment, in dem Kommunikation nicht mehr als Mittel zur Verständigung, sondern als Waffe der Positionierung verstanden wurde.
Die politischen Eliten begannen, das Schweigen zu instrumentalisieren – als Mittel der Kontrolle über Narrative, als Strategie der Zeitverzögerung, als Versuch, Deutungshoheit zu sichern.
So wurde das Schweigen mehrdeutig:
Einmal Taktik, einmal Schutz, einmal Täuschung.
Ein Werkzeug, das Stabilität versprach, aber Vertrauen kostete.
Parallel zum geopolitischen Bruch zerfiel auch im Inneren, was die Mitte getragen hatte.
Ökonomische Konzentration, Cum-Ex-Skandale, Kapitalflucht, Renten- und Pflegeunsicherheit, Stadt-Land- und Ost-West-Gefälle, Exekutivmängel – all das schwächte den Glauben, dass Politik den Ausgleich noch herstellen kann.
Migration, soziale Ungleichheit und der Wandel Europas zu einem Einwanderungskontinent machten die Gesellschaft heterogener, aber auch gereizter.
In dieser Gemengelage wurde das Schweigen der Politik zur Projektionsfläche:
Wer nichts sagt, scheint etwas zu verbergen.
Doch Reden half auch nicht mehr, denn die Sprache der Vermittlung war in der neuen politischen Generation in Verruf geraten.
So entstand ein Klima, in dem Misstrauen zur Ersatzvernunft wurde – eine Erosion der Mitte von innen heraus.