6 - Wissenschaftsphilosophie (Methodologie, Theoriebegriff)

6.1 Was unterscheidet Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft? (Demarkationsproblem)

  • A: Logischer Empirismus / Verifikationismus: Eine Aussage ist wissenschaftlich, wenn sie durch Erfahrung endgültig verifiziert werden kann. (↗︎, ↗︎)
  • B: Kritischer Rationalismus / Falsifikationismus (Popper): Wissenschaftliche Theorien müssen prinzipiell widerlegbar sein. (↗︎)
  • C: Paradigmentheorie (Kuhn): „Wissenschaft“ ist Rätsellösen innerhalb eines geteilten Paradigmas; Abgrenzung ist historisch-sozial. (↗︎, ↗︎)
  • D: Forschungsprogramme (Lakatos): Ein Programm mit „hartem Kern“ ist wissenschaftlich, solange es progressiv neue Vorhersagen liefert. (↗︎)

6.2 Was konstituiert eine wissenschaftliche Erklärung?

  • A: Deduktiv-Nomologisches Modell (Hempel–Oppenheim): Das Explanandum wird logisch aus Gesetzen und Randbedingungen abgeleitet. (↗︎)
  • B: Kausale Mechanismen: Erklären heißt, die Prozesse aufzuzeigen, die ein Ereignis hervorbringen. (↗︎)
  • C: Funktionale Erklärung: Ein Phänomen wird durch seinen Beitrag zum Funktionieren eines Systems verständlich. (↗︎)
  • D: Pragmatische Erklärung: Ob etwas als Erklärung gilt, hängt von den kontextabhängigen Fragen der Forschenden ab. (↗︎)
  • E: Unifikationstheorie (Friedman / Kitcher): Gute Erklärungen vereinheitlichen viele Phänomene unter wenigen Sätzen. (↗︎)

6.3 Was ist eine wissenschaftliche Theorie und wie ist sie aufgebaut?

  • A: Syntaktischer Empirismus (Received View): Theorien sind axiomatische Kalküle plus Korrespondenzregeln. (↗︎, ↗︎)
  • B: Semantische Theorieauffassung: Eine Theorie ist die Menge ihrer Modelle; Wahrheit heißt Modell-Adäquatheit. (↗︎, ↗︎)
  • C: Instrumentalismus: Theorien sind nützliche Recheninstrumente ohne Anspruch auf Wahrheit über Unbeobachtbares. (↗︎)
  • D: Strukturalistischer Ansatz: Ein Theoriensystem besteht aus Basismodellen, partiellen Modellen und Anwendungen. (↗︎)
  • E: Pragmatische Auffassung: Theorien sind Werkzeuge zur Problemlösung und Erfahrungsorganisation. (↗︎)

6.4 Wie entwickelt sich wissenschaftliches Wissen?

  • A: Kumulativer Fortschritt: Wissen wächst durch additive Bestätigung und Erweiterung älterer Theorien. (↗︎)
  • B: Paradigmenwechsel (Kuhn): Wissenschaftliche Revolutionen ersetzen ein Paradigma durch ein inkommensurables neues. (↗︎)
  • C: Problemlösungs­kapazität (Laudan): Fortschritt zeigt sich daran, dass neuere Theorien mehr Probleme lösen. (↗︎)
  • D: Evolutionäre Epistemologie: Theorien variieren und „selektieren“ sich analog biologischer Evolution. (↗︎)
  • E: Forschungsprogramme (Lakatos): Progressiv ist ein Programm, das erfolgreiche, neuartige Vorhersagen generiert. (↗︎)

6.5 Welche Methoden führen zu wissenschaftlicher Erkenntnis?

  • A: Induktivismus: Allgemeine Gesetze werden durch Verallgemeinerung vieler Beobachtungen gewonnen. (↗︎)
  • B: Hypothetisch-deduktives Modell: Hypothesen liefern Vorhersagen, die experimentell geprüft werden. (↗︎)
  • C: Abduktion: Die beste verfügbare Erklärung für ein Phänomen wird als Hypothese gewählt. (↗︎)
  • D: Bayesianischer Induktivismus: Evidenz aktualisiert rational die Wahrscheinlichkeit von Hypothesen. (↗︎)
  • E: Pragmatische Induktionsrechtfertigung (Reichenbach): Induktion ist die langfristig erfolgversprechende, rationale Wette. (↗︎)
  • F: Klassischer Empirismus (Hume): Induktive Schlüsse beruhen faktisch auf Gewohnheit, nicht auf Logik. (↗︎)

6.6 Inwieweit ist Beobachtung theoriegeladen?

  • A: Neutralitätsposition: Durch methodische Kontrolle können Beobachtungen weitgehend theorieunabhängig sein. (↗︎)
  • B: Schwache Theorieladung: Wahrnehmung ist roh; Begriffsbildung macht Beobachtungen theorieabhängig. (↗︎)
  • C: Starke Konstruktionsthese: Erwartung und Vorwissen prägen schon die Wahrnehmung selbst. (↗︎)
  • D: Experimentalismus: Aktive Eingriffe strukturieren Beobachtung; Experimente sind zentral für Erkenntnis. (↗︎)

6.7 Wie werden Theorien geprüft?

  • A: Verifikationismus: Sinnvolle Sätze sind empirisch verifizierbar; Nicht-verifizierbares ist metaphysisch. (↗︎)
  • B: Falsifikationismus (Popper): Bewährung entsteht nur durch fehlgeschlagene Widerlegungsversuche. (↗︎)
  • C: Konfirmationstheorie (logischer Empirismus): Positive Evidenz erhöht graduell die Wahrscheinlichkeit einer Theorie. (↗︎)
  • D: Lakatos’ Forschungsprogramme: Falsifikation betrifft Hilfsannahmen; Programme werden an ihrem Fortschritt gemessen. (↗︎)
  • E: Methodologischer Anarchismus (Feyerabend): „Anything goes“ – feste Regeln behindern kreative Wissenschaft. (↗︎)

6.8 Wie entstehen Paradigmenwechsel und was bedeutet Inkommensurabilität?

  • A: Kuhn’sche Revolutionen: Krisen der Normalwissenschaft münden in nicht-kumulative Umbrüche. (↗︎)
  • B: Inkommensurabilitätsthese: Alte und neue Paradigmen sind begrifflich unvergleichbar. (↗︎)
  • C: Rationale Rekonstruktion (Lakatos): Übergang zum progressiveren Forschungsprogramm ist rational begründbar. (↗︎)
  • D: Evolutive Modelle (Laudan): Traditionen konkurrieren und werden nach Problemlösungsfähigkeit selektiert. (↗︎)

6.9 Wodurch unterscheiden sich Naturgesetze von bloßen Regelmäßigkeiten?

  • A: Necessitarianismus: Gesetze drücken notwendige Beziehungen in der Natur aus. (↗︎)
  • B: Humeanische Regularitätstheorie: Gesetze sind wahre, universelle Beschreibungen von Tatsachen-Regularitäten. (↗︎)
  • C: Dispositionalismus: Gesetze resultieren aus essenziellen Dispositionen oder Kräften von Entitäten. (↗︎)
  • D: Notwendigkeitstheorie: Gesetzesaussagen verkörpern metaphysische Notwendigkeit. (↗︎)

6.10 Was bedeutet Kausalität und wie steht sie zur Korrelation?

  • A: Produktionskausalität: Ursachen übertragen Energie oder Substanz auf Wirkungen. (↗︎)
  • B: Probabilistische Kausalität: Eine Ursache erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres Effekts. (↗︎)
  • C: Interventionistische Kausalität (Woodward): X ist Ursache von Y, wenn gezielte Interventionen an X systematisch Y verändern. (↗︎)
  • D: Kontrafaktische Theorie: A verursacht B, wenn ohne A auch B nicht eingetreten wäre. (↗︎)
  • E: Mechanistische Kausalität: Ein detaillierter Prozess verbindet Ursache und Wirkung. (↗︎)
  • F: Humeanische Korrelation: Kausalität ist nur konstante Konjunktion gleicher Ereignisse. (↗︎)

6.11 Welche Funktionen haben wissenschaftliche Modelle und Simulationen?

  • A: Repräsentationale Modelle: Modelle bilden Zielsysteme idealisiert ab. (↗︎)
  • B: Explorative Modelle: Modelle dienen dem Auffinden neuer Hypothesen. (↗︎)
  • C: Simulationsmodelle: Computergestützte Experimente untersuchen komplexe Systeme. (↗︎)
  • D: Toy Models: Stark vereinfachte Modelle illustrieren Grundmechanismen. (↗︎)
  • E: Modelle als Fiktionen: Modelle sind nützliche, idealisierte Fiktionen ähnlich literarischen Werken. (↗︎)
  • F: Autonome Vermittler: Modelle sind teils unabhängig von Theorie und Daten und vermitteln zwischen beiden. (↗︎)

6.12 Nach welchen Kriterien werden konkurrierende Theorien bewertet?

  • A: Empirische Adäquatheit: Übereinstimmung mit beobachtbaren Daten ist entscheidend. (↗︎)
  • B: Kohärenz: Eine gute Theorie ist intern konsistent und verträglich mit anderem Wissen. (↗︎)
  • C: Sparsamkeit / Einfachheit (Ockham): Bei gleicher Erklärungskraft ist die einfachere Theorie vorzuziehen. (↗︎)
  • D: Erklärungskraft: Breite und Tiefe der Phänomenabdeckung bestimmen den Wert einer Theorie. (↗︎)

6.13 Ist Wissenschaft objektiv und welche Rolle spielen Werte?

  • A: Objektivismus: Wissenschaft strebt nach kulturunabhängiger, beobachterneutraler Wahrheit. (↗︎)
  • B: Wertfreiheit (Weber): Forschende sollen nicht-epistemische Werte strikt von Fakten trennen. (↗︎)
  • C: Wertbeladenheit: Soziale, ethische und politische Werte beeinflussen unvermeidlich Forschung. (↗︎)
  • D: Kontextueller Empirismus (Longino): Objektivität entsteht durch kritische Interaktion und Transparenz von Werten. (↗︎)
  • E: Epistemische Werte: Kriterien wie Einfachheit oder Kohärenz leiten rational die Wissenschaft. (↗︎)
  • F: Standpunkt­theorie: Objektivität verlangt Einbezug marginalisierter Perspektiven zur Aufdeckung blinder Flecken. (↗︎)

6.14 Welche soziale Dimension hat wissenschaftliches Wissen?

  • A: Sozialkonstruktivismus: Fakten entstehen durch soziale Praktiken und Machtstrukturen. (↗︎)
  • B: Wissenschaftlicher Ethos (Merton): Normen wie Universalismus und organisierter Skeptizismus sichern Objektivität. (↗︎)
  • C: Soziale Epistemologie: Erkenntnis entsteht durch kollektive, institutionelle Prozesse. (↗︎)
  • D: Wissenschaft als Praxis: Forschung ist eine Handlungs- und Traditionspraxis mit implizitem Können. (↗︎)

6.15 Realismus versus Antirealismus bezüglich unbeobachtbarer Entitäten

  • A: Wissenschaftlicher Realismus: Erfolgreiche Theorien sind (annähernd) wahr hinsichtlich Unbeobachtbarem. (↗︎)
  • B: Instrumentalismus: Unbeobachtbare Entitäten sind nützliche Fiktionen für Vorhersagen. (↗︎)
  • C: Konstruktiver Empirismus (van Fraassen): Ziel ist empirische Adäquatheit; über Unbeobachtbares bleibt man agnostisch. (↗︎)
  • D: Entitätenrealismus (Hacking): Was wir im Experiment manipulieren können, existiert real. (↗︎)
  • E: Struktureller Realismus: Nur die strukturellen Aspekte einer Theorie sind wahr. (↗︎)
  • F: Relativer Realismus: Wahrheit ist theorieabhängig, aber nicht beliebig relativistisch. (↗︎)
  • G: Pragmatischer Realismus (Fine): Theorien werden akzeptiert ohne metaphysische Zusatzaussagen über Wahrheit. (↗︎)

6.16 Reduktionismus, Emergenz und interdisziplinäre Beziehungen

  • A: Theoretischer Reduktionismus: Höhere Ebenen lassen sich auf fundamentalere Physik zurückführen. (↗︎)
  • B: Funktionaler Reduktionismus: Phänomene werden durch ihre funktionale Realisierung erklärt, nicht eliminiert. (↗︎)
  • C: Emergentismus: Neue, irreduzible Eigenschaften entstehen auf höheren Ebenen. (↗︎)
  • D: Pluralismus: Verschiedene Disziplinen nutzen legitimerweise unterschiedliche Erklärungsarten. (↗︎)
  • E: Integrationsansatz: Interdisziplinäre Zusammenarbeit integriert Methoden ohne strikte Reduktion. (↗︎)

6.17 Welche Rolle spielen mathematische Strukturen in Theorien?

  • A: Nominalismus: Mathematik ist formal-sprachliches Hilfsmittel ohne eigenständige Existenz. (↗︎)
  • B: Platonismus: Mathematische Objekte existieren unabhängig; Theorien entdecken sie. (↗︎)
  • C: Strukturrealismus (Philosophie der Mathematik): Wissenschaft erfasst die Struktur relationaler Muster, meist mathematisch. (↗︎)

6.18 Wie werden Messwerte zu wissenschaftlichen Daten?

  • A: Operationalismus: Die Bedeutung einer Größe ist vollständig durch das Messverfahren bestimmt. (↗︎)
  • B: Theoriegeleitete Messung: Messinstrumente verkörpern Theorien; Daten sind theoriebeladen. (↗︎)
  • C: Data-Processing Pipeline: Rohdaten werden durch Kalibration und Modellierung zu „clean data“. (↗︎)

6.19 Welche Wahrscheinlichkeitstheorien nutzt die Wissenschaft?

  • A: Frequentistische Interpretation: Wahrscheinlichkeit ist langfristige relative Häufigkeit. (↗︎)
  • B: Bayesianische Interpretation: Wahrscheinlichkeit misst rationalen Glaubensgrad und wird durch Evidenz aktualisiert. (↗︎)
  • C: Propensitätsinterpretation (Popper): Wahrscheinlichkeit ist objektive Disposition einzelner Systeme. (↗︎)
  • D: Klassische Interpretation (Laplace): Wahrscheinlichkeit = günstige / mögliche Fälle bei Gleichwahrscheinlichkeit. (↗︎)

6.20 Haben Erklärung und Vorhersage denselben epistemischen Status?

  • A: Gleichwertigkeitsthese (Hempel): Erklärung und Vorhersage teilen dieselbe logische Struktur. (↗︎)
  • B: Asymmetrie-Einwand (Bromberger): Erklärungen sind gerichtet; reine Vorhersagen spiegeln diese Asymmetrie nicht. (↗︎)
  • C: Interventionistische Sicht: Erklärungen sind wertvoll, wenn sie gezielte Manipulation ermöglichen, nicht bloß Vorhersage. (↗︎)

6.21 Welche Grenzen hat wissenschaftliche Erkenntnis?

  • A: Unterdetermination (Duhem-Quine): Daten lassen mehrere, widersprüchliche Theorien zu. (↗︎)
  • B: Theorie-Inkommensurabilität: Paradigmen sind sprachlich unvergleichbar, sodass neutrale Bewertung fehlt. (↗︎)
  • C: Radikaler Fallibilismus: Jede Erkenntnis bleibt prinzipiell revidierbar und fehlbar. (↗︎)

6.22 Was sind die Ziele der Wissenschaft?

  • A: Wahrheit: Primäres Ziel ist wahre Beschreibung der Realität. (↗︎)
  • B: Empirische Adäquatheit: Theorien sollen alle beobachtbaren Phänomene korrekt abbilden. (↗︎)
  • C: Problemlösung: Wert einer Theorie bemisst sich an ihrer praktischen Problemlösungskraft. (↗︎)
  • D: Verstehen: Wissenschaft integriert Phänomene in ein kohärentes Gesamtbild. (↗︎)

6.23 Wie verhält sich Wissenschaft zu anderen Erkenntnisformen?

  • A: Szientismus: Wissenschaft ist die einzig legitime oder privilegierte Erkenntnisform. (↗︎)
  • B: Epistemischer Pluralismus: Neben Wissenschaft gibt es weitere legitime Erkenntniswege (Kunst, Religion …). (↗︎)
  • C: Komplementaritätsthese: Verschiedene Erkenntnisformen beleuchten unterschiedliche Aspekte der Realität. (↗︎)
  • D: Kontextualismus: Die Angemessenheit einer Erkenntnisform hängt vom jeweiligen Kontext ab. (↗︎)

6.24 Wie funktionieren Experimente in der Forschung?

  • A: Hypothesentestung: Experimente liefern unabhängige Evidenz für oder gegen Hypothesen. (↗︎)
  • B: Experimentelle Systeme (Rheinberger): Forschungssysteme generieren unerwartete Phänomene („epistemische Dinge“). (↗︎)
  • C: Theorieerzeugung: Experimente können neue Theorien hervorbringen, nicht nur prüfen. (↗︎)
  • D: Interventionen (Hacking): Experimentieren ist aktives Eingreifen, das Phänomene schafft. (↗︎)

6.25 Wie werden wissenschaftliche Konzepte gebildet?

  • A: Operationalismus: Ein Begriff ist definiert durch die Operationen, die ihn messen. (↗︎)
  • B: Konzeptuelle Netzwerke (Holismus): Bedeutung entsteht durch die Stellung im theoretischen Gesamtnetz. (↗︎)
  • C: Natürliche Arten: Konzepte zielen darauf, reale Typen in der Natur abzubilden. (↗︎)
  • D: Familienähnlichkeit (Wittgenstein): Viele Begriffe funktionieren ohne scharfe Definition über überlappende Ähnlichkeiten. (↗︎)

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