Kalt, Dunkel, Allein - meine dystopische Endzeit-Utopie
December 13, 2025•1,572 words
Jene, die mich persönlich kenen, werden wissen, dass der Titel meine Wohnsituation bezeichnet. Ich sitze hier gerade bei 15 Grad in meiner stockfinsteren 15qm Wohnung, eingepackt in einen Pulli und ein Stirnband an meinem Arbeitsplatz. Der Laptop steht am Fensterbrett des einzigen Fensters, das auf einen, kleinen Innenhof ohne Grün schaut, umgeben von Wohnbauten in unterschiedlichen Zerfallsstadien deren einzelne Lichter fast vollständig von einem dicken Nebel verschluckt werden. Ich wohne allein, gehe von Zeit zu Zeit (gewollt) Hungrig ins Bett, intensiviere (die durchaus seltenen) Momente in denen ich mich einsam fühle statt sie wegzuswipen, spiele öfter mal mit Nagelbrettern, -Rollern und Nadeln herum oder teste Kinbaku Situationen, so gut das allein eben geht.
„Warum tut man das?“, werde ich oft gefragt. Ich bin dann versucht, rationale Antworten zu geben: der Preis von 500€, Genügsamkeit beim Heizen, Stromsparen, die Sinnlossigkeit von mehr Platz, der Zwang die vier Wände zu verlassen, abends nicht mehr Kochen zu wollen oder nichts Zuhause zu haben, Meditationspraktiken, Kink, Interesse, etc. Das stimmt zwar alles, aber die ganze Wahrheit ist es dann doch nicht.
Ähnliche Fragen bekomme ich auch, wenn ich begeistert Bilder von brutalistischer Architektur herzeige, Filme wie „Mad God“ empfehle oder auf die Schönheit der Welt in irgendwelchen Endzeit-Utopien und -Dystopien hinweise: Da fehlt Farbe, da fehlt Wärme, da fehlt Geborgenheit und Gewohntheit. Ich habe letztens sogar gelernt dass es ein Wort dafür gibt. Das sei nicht „Hygge“. Ich bin ehrlicherweise kein Fan von bunten Boho Wohnungen, übermäßig warmen Feel-Good Socken oder dem ständigen Drang der Umweltkonditionierung. Ich kann zwar verstehen, warum man sich nicht „unnötig peinigen“ will. „You can hit yourself with a hammer all you like, because it is so nice, when you stop“, wie Alan Watts das einmal trefflich formuliert hat. Es hat aber einen tieferen Grund, warum ich kein Fan von diesen Dingen bin - auch wenn der natürlich inhärent ist. Aber frei nach Marx wäre es ja auch schade, wenn der Grund und der Effekt ein und dasselbe wären. (Zudem hätte der Merowinger dann keinen Job und die Matrix wäre damit destabilisiert.)
Es gefällt Menschen heutzutage sehr, wenn jemand vor über hundert Jahren schonmal denselben Gedanken hatte, den auch niedergeschrieben hat und man diesen Gedanken dann wiederfindet. (Wer will schon kluge Worte nur von einem noch lebenden Menschen hören? Der könnte auf das Verdrehen der Worte ja noch hinweisen und das Höry dann dumm dastehen lassen...) Hier Deshalb ein Zitat aus „The Machine Stops“ von E. M. Forster:
But Humanity, in its desire for comfort, had over-reached itself.
Aber die Menschheit, in ihrem Verlangen nach Komfort, hatte sich übernommen.
Der Autor hat in dieser lesenswerten Sci-Fi Dystopie schon 1909 Facebook, Twitter, Zoom, TikTok, Amazon, Turbokapitalimsus und zahlreiche andere Dinge vorausgeahnt (aber leider auf Touchscreens vergessen). Heute ist sie wegen ihrer akkuraten Visionen wahrscheinlich wilder zu lesen als zur Zeit ihrer Publikation. Man könnte die Dystopie zwar stundenlang unter verschiedensten Blickwinkeln behandeln, der Punkt den ich davon aber mitnehmen möchte ist jener, der mich ursprünglich auf die Geschichte aufmerksam gemacht hat.
In einem Artikel zu Transhumanismus (den ich partout nicht wiederfinden konnte) habe ich einmal eine Interessante Debatte über Klimatisierung gelesen, die der Geschichte entlehnt war. Knackpunkt der Argumentation war das englische Wort für Klimatisierung: „Air Conditioning“ - wortwörtlich übersetzt „Luft Konditionierung“. Im Englischen ist die Idee also klar: Wenn uns die Luft nicht passt, warum nicht die Produktivkräfte einsetzen um die Luft an uns anzupassen? Transhumanismus sieht hier beim Menschen und der Umwelt verbesserungsbedarf. Viel schlimmer aber: Kapitalismus gepaart mit Humanismus machen aber genau das; unablässig, blind und ziellos - und sie gehen dafür über Leichen1. Umweltkonditionierung wird hier zum Credo. Forster beschreibt wunderbar, wie sich die Menschheit, unter Lobpreisungen der „Maschine“ gegenüber, individualisiert und zurückzieht. Wie sie sämtlicher direkter Erfahrung entsagt, denn „diese birgt keine Ideen“.
Diesen Rückzug in unsere vier Wände, in unsere Gewohntheit und Geborgenheit, in uns selbst, habe ich als liberale Tendenz schon in meinem Aufsatz über Consent bemängelt. Genau gleich verhält es sich mit der regelrechten Sucht nach Comfort - einer Sucht nach „Hygge“. Sich immer weniger auszusetzen - seien das Kälte, Schmerz, Hunger, Einsamkeit, etc. Das alles durch Komfort zu ersetzen kommt aber der Halbierung unserer Lebenswelt gleich. Wer nicht leidet, lebt nur halb - ich denke, so weit kann man Siddhartha Gautamas Zitat guten Gewissens verfälschen. Aber für die „Hygge“-Liebhaber:innen anders formuliert: „Lebst“ du noch, oder leidest du schon?
Aber zurück zum Thema: Letztens habe ich meinen Unwillen zu Heizen mit einem Genossen diskutiert, der meine Philosohpie als zutiefst konservativ beschrieben hat, mit einer Argumentation a la „das Ertragen von Kälte/Unwohlsein stärkt den Geist und stählt den Körper.“ Das als konservativ zu bezeichnen ist auch komplett korrekt. Es ist wahrscheinlich sogar richtig, das als Nazi-Körperkult zu bezeichnen. Es ist aber auch weit weg von der Philosophie die ich zu beschreiben versuche. Das hyper männlich/patriarchale Bild vom Ertragen der dir feindlich gesinnten Umwelt ist philosohpisch höchstens auf Precht-Niveau. Das inkludiert nämlich auch den Antagonismus dieser feindlich gesinnten Umwelt gegenüber - körperlich, technisch, ideologisch. Es geht um die „männliche Qualität des Ertragen könnens“/ums „hart“ sein2. Ich mag das folgende Gedicht zwar, aber in der unkontextualisierten Art, wie es durch Interstellar popularisiert worden ist, ist es einer dieser faden, patriarchalen Diamanten:
Do not go gentle into that good night,
Rage, Rage against the dying of the Light!
Wer von Dylan Thomas' Gedicht nur diese zwei Zeilen, und die auch noch als Aufruf mitnimmt, geht zuletzt dann hoffentlich guten Gewissens in ein Zen Kloster denn die Person verdient die 10 Schläge mit dem Stock.
Nein. Um was es mir in der erwähnten Philosophie geht, ist die Multipolarität von Erfahrungen: Ein Gefühl von Entspannung ist nur erlebbar, wenn auch Spannung erfahrbar ist. Satt kann sich nur fühlen wer Hunger kennt und glücklich nur jemand wo Unglück kennt. Die psychische Erfahrung komplexer Gefühle (im Gegensatz zur physischen Registrierung einiger weniger körperlicher Empfindungen) ist keine Einbahnstraße und vorallem keine Unipolarität. Eines ohne das andere gibt es nicht, ansonsten hätte das eine Gefühl selbst keinen Sinn und Zweck. Watts erklärt dieses Konzept sehr gekonnt mit der Oszillation/Konfusion von Schmerz und Glücksgefühlen während des Orgasmus.
In diesem Kontext sollte man auch meine Wohnverhältnisse verstehen: Wenn man Erfahrungen eines Pols (also beispielsweise Wohlbefinden) intensiver wahrnehmen bzw. stärker würdigen möchte ist es hilfreich, auch die antipolare Erfahrung zu erkunden. Das erweitert das einem bekannte Spektrum der Erfahrungen, ermöglicht (wenn man sich darin schult) feinere körperliche Empfindung dieser Phänomene und damit auch eine feinere/genauere psychische Erfahrung der resultierenden Gefühle. Es geht also um Akzeptanz anstatt Aushalten, um Embodyment statt Detachment, um direkte Erfahrung statt Analyse. Und das aus dem einfachen Grund, weil direkte Erfahrung unseren Denkraum aufspannt und damit auch „Ideen“ macht - um die Referenz auf „The Machine Stops“ zu beenden3.
Diese Art und Weise mit Erfahrung/Emotionen umzugehen, ist idealerweise wie gemacht für wiener Masochist:innen: man erlebt Melancholie, Unwohlsein, Mühsal, Gefahr - aber stets stilistisch ansprechend verpackt, ist sie doch Ausdruck eines „tieferen Sinnes“, wenn man so etwas braucht... (Man kann aber auch einfach nur dem eigenen Masochismus nachgehen ohne sich zu erklären, aber mit dieser Philosophie kann man zumindest besorgte Menschen verwirren - und verwirrte Menschen sind weniger lästig als besorgte. Dennoch bin ich überzeugt, dass der Theorie Wahrheit innewohnt - und zumindest hat sie mir mit entsprechender Praxis das Leben verbessert.)
Von solchen Ansichten kann man freilich niemanden überzeugen (und muss es Azathoth sei Dank auch nicht) - Vipassana und Zen funktionieren nur in direkter Erfahrung, nicht durch die Interpretation der Meditationen über die Protokolle des Kongresses der Deutung einer Erzählung von Marcus Aurelius. Und genau deshalb, weil Dystopien uns unsere eigene Psyche oft immens gut vor Augen führen, hab ich sie gern - auch, oder eher weil, sie grau, trist und unangenehm sind4. Auf viel mehr wollte ich auch garnicht hinaus. Wir sind alle ein bisschen Mr. Anderson: „you are a slave, Neo. Like everyone else you were born into bondage, born into a prison that you cannot smell or taste or touch. A prison for your mind…. Unfortunately, no one can be told what the Matrix is. You have to see it for yourself“. Dazu kann ich nur sagen „Temet Nosce“.
-
Falls bei dieser Beschreibung noch jemandem Azathoth in den Sinn kommt, freut mich das, dann wäre ich mit meiner (zugegebenermaßen etwas weithergeholten) antikapitalistischen Cthulhu Interpretation nicht allein. ↩
-
Außer natürlich von Schnupfen - Schnufpen ist eine todernste Sache bei der Mann sich nicht bewegt. Ja, ich weiß, das ist einfach nur ein, das binäre Geschlechtsspektrum affirmierender, sexistischer Witz von Links. Darf ich das überhaupt als Enby? Solange ich blöde Blicke von Männern in der U-Bahn abbekomme, nehm ich mir jetzt einfach mal das Recht dazu ;) ↩
-
Bezüglich direkter Erfahrung und dem Ende von „The Machine Stops“ gibt es auch durchaus interessante Diskussionen um das, was ein Genosse einmal „akademisches Quellenspiel“ genannt hat; ein gutes Freundy hat in einer dazugehörenden Debatte dann einmal treffend irgendjemanden zitiert, wo gsagt hat dass die Philosophen von heute zwar viel schreiben und reden, aber vor lauter schreiben und reden nicht mehr zum selbst nachdenken kommen, weil sie immer jemanden zitieren müssen... dazu aber wirklich ein ander Mal, das Thema finde ich nämlich sehr spannend. ↩
-
Um Anton zu zitieren: „Leben ist Leiden ... aber leiden ist gail“. (Ich musste gerade an diesen tollen NPC denken, den ich ein paarmal wider aller Wahrscheinlichkeit getroffen habe - er wird sicher auch noch einen Eintrag hier bekommen, die Geschichte ist eigentlich sehr nett...) ↩